Staatliche Konstrukte: Über die Kontinuität von RZ bis mg
Im Verlauf des mg-Prozesses ist wiederholt die Entstehungsgeschichte der Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in der „militanten gruppe” thematisiert worden. Dieser Text will einige Aspekte davon zusammenfassen.
Die geladenen Zeugen des BKA ermittelten jahrelang zur „militanten gruppe” und werteten Texte aus. Sie haben sich ein Bild dieser Gruppe und ihrer Vorgeschichte zurecht gelegt, an dem sie nicht im geringsten zweifeln. So können sie in ihr Konstrukt, das auf unbewiesenen Hinweisen des Verfassungsschutzes basiert, problemlos auch Widersprüche integrieren.
Sechs Begebenheiten
(1) In der „radikal” Nummer 147 aus dem März 1993 ist ein „Interview mit einer Revolutionären Zelle” veröffentlicht (http://www.freilassung.de/div/texte/rz/radi147_0393.htm). Die „radikal”-Redakteure hatten Fragen formuliert, die eine gemischtgeschlechtliche RZ, die sich in den 1980ern an der Flüchtlingskampagne beteiligt hatte, schriftlich beantwortete. Ihr geht es laut eigener Auskunft darum, militantem Widerstand eine Kontinuität zu verleihen und revolutionäre Politik in Verbindung und Diskussion mit Genossinnen und Genossen aus der radikalen Linken weiterzuentwickeln, kurz: sich gemeinsam militant zu organisieren.
(2) Im August 1995 verübt eine „Antiimperialistische Gruppe Freiheit für Mumia Abu-Jamal” einen Brandanschlag auf Fahrzeuge bei Daimler-Chrysler in Berlin-Marzahn, um sich für die Freilassung des Afroamerikaners aus der Todeszelle in den USA einzusetzen. Im November 1995 legt ein „Antiimperialistischer Zusammenhang Freiheit für Benjamin” einen Brandsatz bei einem Seat-Vertragshändler in Berlin-Reinickendorf, um Widerstand gegen die Auslieferung von Benjamin Ramos Vega, der in Berlin-Moabit wegen angeblicher ETA-Mitgliedschaft in Untersuchungshaft sitzt, zu demonstrieren. Auch 1996 und 1997 treffen Brandanschläge Chrysler- und Seat-Vertragshändler in Berlin. Als Brandsatz wurde unter anderem das in der „radikal” veröffentlichte Model „Nobelkarossentod” eingesetzt.
(3) In der „Interim” Nummer 388 vom 13. September 1996 ist ein „Selbstportrait einer militanten Gruppe” mit dem Titel „Anfangen, aber nicht um jeden Preis” abgedruckt (http://www.geocities.com/militanzdebatte#Interim%20388,%2013.09.1996,%20...). Gedanken unter anderem aus verschiedenen RZ-Texten und dem RZ-Interview aus der „radikal” Nummer 147 werden in diesem Selbstportrait vorgestellt. Die nach eigener Auskunft ausschließlich aus Männern bestehende Gruppe spricht sich gegen einen einheitlichen „Markennamen” aus. Sie beziehen sich zudem positiv auf die Prozesserklärungen von Birgit Hogefeld.
(4) In der „Interim” Nummer 498 vom 30. März 2000 ist ein Gespräch militanter AktivistInnen, der so genannte „Runde Tisch der Militanten”, veröffentlicht (http://www.geocities.com/militanzdebatte/#Interim%20498,%2030.03.2000). Beteiligt daran ist "Antonio". Er erzählt, dass er sich kritisch-solidarisch auf die RZ bezieht, dass das Plakat „Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle” in seiner WG-Küche hängt, dass er sich überwiegend in Gruppen organisierte, in denen nur Männer waren und dass er und seine Zusammenhänge nicht unter dem gleichen „Markennamen”, sondern aus Gründen der Repression jedes mal unter einem anderen Namen auftreten. Er beschreibt einen Bausatz, der dem Nobelkarossentod ähnelt und sieht in der Zwangsarbeiterentschädigung eines von drei zukünftigen Themen der Linken.
(5) Im Juni 2001 tritt die „militante gruppe” (mg) zum ersten Mal in Erscheinung. Ihr Thema: Zwangsarbeiterentschädigung. Die Patronenverschickung an Repräsentanten der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft” erreicht ein riesiges Medienecho. Die Gruppe bleibt unter diesem „Markennamen” aktiv, diskutiert eine militante Organisierung mit anderen Gruppen und verübt 24 Anschläge zu verschiedensten Themen. Im Sommer 2005 führt die „radikal” ein schriftliches Interview mit der mg und veröffentlicht es in ihrer Nummer 158.
(6) Drei Berliner, die seit Jahrzehnten politisch aktiv sind – in den 1990ern unter anderem für die politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal, Benjamin Ramos-Vega und Birgit Hogefeld – gehören zu den ersten mg-Beschuldigten. 2001 leitet die Bundesanwaltschaft gegen sie ein Ermittlungsverfahren nach §129a wegen Mitgliedschaft in der militanten gruppe ein, das eine jahrelange Überwachung bis hin zu Hausdurchsuchungen legitimieren wird. (Dieses Verfahren wurde 2008 eingestellt - Anm. der Red.)
Von der RZ bis zur mg
Aus diesen Begebenheiten ziehen das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt ihre Schlüsse. VS und BKA sehen eine personelle Kontinuität von der Revolutionären Zelle, die in den 1980ern aktiv war und 1993 nicht „das Ende unserer Politik” erklärt hat, sondern – so das Konstrukt – unter anderen Namen weitermachte, über die Selbstportraitgruppe und Antonio bis zur militanten gruppe. Der mg-Prozess wird aber nicht aufklären, wie der VS auf diese Ideen kommt und was hinter seinen Konstruktionen steckt.
VS und BKA suchen und finden Parallelen, die bei unzähligen weiteren Texten und Praxen der radikalen Linken ebenfalls gefunden werden könnten. Genauso gut könnte man nach Unvereinbarkeiten suchen und würde mindestens ebenso erfolgreich fündig werden. Trotz offensichtlicher Widersprüche beispielsweise in der geschlechtlichen Zusammensetzung der Gruppen, in der Verwendung wechselnder bzw. konstanter Gruppennamen und zahllosen weiteren, vor allem inhaltlich-politischen Widersprüchen halten VS und BKA an ihren Theorien fest und überziehen die radikale Linke mit Bespitzelung und Repression. Der mg-Prozess zeigt, dass die Folgen der VS- und BKA-Logik alle trifft, die einen nicht-systemimmanenten, revolutionären Standpunkt einnehmen und daraus eine Praxis entwickeln.
In diesem Sinne: Solidarität!
Am Di. 7.7.2009, 19 Uhr findet an der Humboldt-Uni in Berlin eine Veranstaltung des Einstellungsbündnisses über Altes und Neues aus dem mg-Verfahren statt. Mehr Infos: http://einstellung.so36.net