Europa – ›Gemeinschaft‹ der Schnüffler
Transnationale Abschaffung der Unschuldsvermutung
Im September 2006 beginnt die 24stündige Überwachung von vier Berliner Akademikern durch deutsche Geheimdienste und das Bundeskriminalamt. Der Vorwurf: Sie seien Mitglieder einer ›terroristischen‹ Vereinigung namens ›militante gruppe‹ (mg) und würden als ›ideologische Köpfe‹ für die ›mg‹ die Anschlagserklärungen schreiben. Der Beleg: Zugang zu Bibliotheken, nicht vorbestraft, umfassende intellektuelle Fähigkeiten, politisch aktiv, Publikationen zu Themen, die auch in den Texten der ›mg‹ Erwähnung finden. Im Juli 2007 werden drei Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, sie hätten Bundeswehr-Fahrzeuge anzünden wollen. Einer von ihnen soll sich zweimal mit einem der vier Akademiker getroffen haben. So werden die drei auch zu ›Terroristen‹ nach §129a StGB (1), und der Akademiker wird mit ihnen inhaftiert. Die gesamte Geschichte entpuppt sich dann als Fehlschlag für die Strafverfolgungsbehörden in Sachen ›Terrorismus‹-Konstruktion. Sie wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die gegenwärtige ›Sicherheits‹-Politik in Deutschland und in der ›Dritten Säule‹ der Europäischen Union (EU). (2)
Während der Akademiker nach internationalem Protest und rechtlichen Schritten seiner AnwältInnen nach drei Wochen ›haftverschont‹ wird, gelingt es erst nach drei Monaten, auch die anderen drei Inhaftierten freizubekommen. Das Strafverfahren ist freilich nicht eingestellt. Der Vorwurf, die Beschuldigten seien Mitglieder einer ›terroristischen‹ Vereinigung, ließ sich nicht halten, wie der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs feststellte. Nun lautet der – ebenso absurde – Vorwurf, alle sieben seien Mitglieder einer ›kriminellen‹ Vereinigung. Für etwa Mai/Juni 2008 wird daher unter diesem Rubrum der Prozessbeginn erwartet, gegen die vier Akademiker wird vermutlich nicht einmal eine Anklageschrift vorgelegt werden – nach mittlerweile fast eineinhalb Jahren Dauerüberwachung liegt gegen sie nichts vor. (3) Man mag das zunächst für einen Sieg halten, sollte ihn dann aber Pyrrhus-Sieg (4) nennen:
Zum einen bleibt der Makel des ›Terror‹-Vorwurfs, Arbeitgeber haben Kündigungen ausgesprochen, riesiges Datenmaterial – über 2.000 Personen sind in den Akten erfasst – steht den Ermittlungsbehörden zur Verfügung, hohe Kosten für das gesamte Verfahren. Zum anderen wird die Verschärfung des §129a ebenso vorbereitet, wie immer neue Befugnisse und Gesetze für Polizei und Geheimdienste gefordert werden. Diskutiert wird auch, den Schutz seiner Privatsphäre – etwa durch Verschlüsselungsprogramme – unter Strafe zu stellen. Schon in diesem Ermittlungsverfahren spielte der Umgang mit Daten eine erhebliche Rolle. Was der Staat nicht weiß, so die ›Argumentation‹ der Strafverfolger, stellt eine potentielle Gefährdung dar.
Freifahrtsschein für die Exekutive
Im vorliegenden Fall ist insbesondere bizarr, wie der zuständige Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, Ulrich Hebenstreit, alle drei Monate das Überwachungsarsenal des Bundeskriminalamtes (5) ausweitete, obwohl sich keine Anhaltspunkte für einen ›Terror‹-Vorwurf finden ließen: Rund um die Uhr verdeckte Verfolgung durch Kriminalbeamte, Abhören aller Telefone, Videoüberwachung der Wohnungen, Überwachung aller Reisebewegungen, Kontrolle des gesamten privaten und beruflichen Post-, E-Mail- und Internet-Verkehrs, GPS-Sender am Pkw, Überprüfung von Kontobewegungen, Überwachung auch von Telefonanschlüssen der Freundinnen – schließlich gar Zugriff auf Akten der DDR-Staatssicherheit.
Für die Tatsache, dass der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe bisher insgesamt sechsmal rechtswidriges Handeln in Sachen §129a nachgewiesen wurde (6), ist es zu allererst nicht wichtig, dass im ›demokratischen Rechtsstaat‹ juristische ›Ausrutscher‹ korrigiert werden (können). Vielmehr ist bedeutsam, wie selbstgefällig und für sie folgenlos die Strafverfolgungsbehörden den Rechtsbruch einkalkulieren können. Die Exekutive bestimmt die Praxis, die politische Klasse legitimiert sie, und nachfolgend legalisiert sie der Gesetzgeber mit einem neuen Gesetz. Nach diesem Modell haben die beiden Bundesinnenminister, Otto Schily (SPD) und sein Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso demontiert wie die Bürger- und Menschenrechte. Da im ›präventiven Sicherheitsstaat‹ jede/r als potentieller ›Gefährder‹ gilt, wird diese Demontage konsequenterweise nun auch auf EU-Ebene exekutiert.(7) Mit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und weiteren Maßnahmen wird nun vorgeschlagen, gleich ohne irgendeinen Verdacht die Daten aller BürgerInnen zu ihrem Kommunikationsverhalten zu erfassen.
›Gefährder‹ präventiv unschädlich machen
Der deutsche ›Behörden Spiegel Online‹ gibt regelmäßig den ›Newsletter Netzwerk Sicherheit‹ heraus, so auch am 24. Januar 2008. Dort ist zu lesen, die Europäische Kommission habe mitgeteilt, »dass erst acht der 27 Mitgliedstaaten […] die im Februar 2006 beschlossenen EU-Vorgaben zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten ins nationale Recht umgesetzt und die entsprechenden Gesetze nach Brüssel gemeldet hätten. Hinzu kommt inzwischen auch Deutschland, das im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung zum 1. Januar 2008 die Richtlinie umsetzte.« (8). Genau gegen diese Vorratsdatenspeicherung wurde am 31. Dezember 2007 in Deutschland Klage erhoben (9), eine Entscheidung steht dort noch aus. In Österreich hatte im vergangenen November der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Karl Korinek, in Sachen EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung angeregt, »Österreich sollte versuchen, eine Befassung des Europäischen Gerichtshofes zu Stande zu bringen.« (10) Die überfallsartige Beschlussfassung des Sicherheitspolizeigesetzes war Anlass für die Gründung der Bürgerinitiative „Demokratischer Salon“.
Doch während verschiedene Verfassungsklagen anhängig sind, eine gesellschaftliche Debatte in Gang kommt und mehrere Demonstrationen in Europa durchgeführt wurden und werden, verschärft die EU die Gangart.
Jüngste Initiative: EU-Innenkommissar Franco Frattini will nach der vollständigen Protokollierung der Telekommunikation nun die Flugreisen sämtlicher europäischer Bürger verdachtsunabhängig registrieren und 13 Jahre lang in Datenbanken aufbewahren lassen. Erfasst werden sollen sämtliche Flüge zwischen Europa und Nicht-EU-Staaten (11). Das als ›Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht‹ vermarktete Europa entpuppt sich sukzessive als Raum ›permanenten Ausnahmezustands‹, Verdachts und Misstrauens. Wolfgang Schäuble nennt das ›präventive Strafverhinderung‹, die es brauche, weil die ›Gefahren so groß‹ sind. Die ›Gefährder‹, gegen die es vorzugehen gelte, sind alle, die vielleicht möglicherweise irgendwann gegen Gesetze verstoßen könnten (selbst gegen jene, die es heute noch nicht gibt). Dagegen hat Schäuble (12) (wie Schily vor ihm) (13) und dagegen hat Frattini – einen Katalog. Solche Kataloge nennt der britische Kriminologe Richard Ericson ›counter-laws.‹ (14)
Counter-laws – Abschied vom Rechtsstaat
Noch 1997 hatte Richard Ericson gemeinsam mit Kevin D. Haggerty in dem Band Policing the Risk Society die exzessive Sicherheitspolitik mit einer Logik des Risikos begründet. In seinem neuen Band Crime in an Insecure World beobachtet er nun das Bemühen, der Ungewissheit in Politik, Wissenschaft und Technologie mit einer Logik der Vorbeugung und Vorsorge (precautionary logic) zu begegnen. Während Risiko, zumindest theoretisch, noch berechnet werden kann, hat sich das bei Ungewissheit erledigt. Zweifel und Misstrauen, Ahnung und Angst, Argwohn und Ablehnung werden zur Grundlage von Entscheidungsprozessen – gerade im Recht und bei der Konstruktion von Kriminalität. Die Vorsorgelogik treibt den umfassenden Verdacht gegenüber allem und jedem an, und wo das Recht bisher – zumindest theoretisch – Ungewissheit noch mit Unschuld(svermutung) übersetzte, ist sie nun Grundlage »for extreme preemptive measures for which designated agents are held responsible, and […] judged not only by what [they] should have known but also by what [they] should have suspected.« (14) ›Counter-laws‹ umfassen Gesetze, die gegen bestehende Gesetze zum Einsatz kommen (oder bestehende im Sinne der Vorsorgelogik modifizieren), und es umfasst neue Überwachungstechnologien (oder deren Modifikation) – beide Formen zielen darauf, »to erode or eliminate traditional principles, standards, and procedures of criminal law that get in the way of preemptive imagined sources of harm.« (14)
Dass in Österreich gegenwärtig die Bevölkerung ihre Regierung regelrecht bitten muss, wenigsten in den parlamentarischen Gremien über die neuen Überwachungsmaßnahmen zu debattieren (15) – und sie nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit einfach zu exekutieren – wirft ein bezeichnendes Licht auf ein Europa, das sich als ›Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht‹ geriert. Tatsächlich aber, so scheint es, haben sich die europäischen ›Gemeinschafts‹-Schnüffler darauf verständigt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso ad acta zu legen wie die Unschuldsvermutung.
Fußnoten
(1) Deutschland kennt den §129a schon seit 1976. Die Integration eines Anti-›Terror‹-Paragraphen in nationale Gesetze ist mit einer EU-Richtlinie (EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002, ABl. EG Nr. L 164) nun aber zur Voraussetzung für die Aufnahme und den Verbleib in der Europäischen Union gemacht worden.
(2) RAV. Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (Hg., 2003): Europa, Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht? Die (Re-) Organisation der Inneren Sicherheit in Europa. Berlin: RAV.
(3) Aktuelle Informationen finden sich hier.
(4) Volker Eick (2007): Schäuble noch zu retten? ›Rechtsstaatlich‹ leider nicht zu beurteilen. In: telegraph. ostdeutsche zeitschrift, 115/07, S. 12-20.
(5) Gegenwärtig wird ein Gesetz vorbereitet, dass es dem BKA gar erlauben soll, ohne richterliche Kontrolle Überwachungsmaßnahmen nach eigenem Ermessen durchzuführen [29.01.2008].
(6) Vgl. http://einstellung.so36.net/de/soli/825 [29.01.2008].
(7) Zum punitive turn auf dem Weg zum ›Strafstaat‹ und der Zunahme repressiver Sicherheitspolitik in der ›Strafstadt‹, vgl. zuletzt Volker Eick/Jens Sambale/Eric Töpfer (Hg., 2007): Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld: transcript; Donatella della Porta/Abby Peterson/Herbert Reiter (Hg., 2007): The Policing of Transnational Protest. Aldershot: Ashgate.
(8) Bei den acht Ländern handelt es sich um Frankreich, Großbritannien, Spanien, Belgien, Dänemark, Tschechien, Lettland and Estland. Weiter heißt es dort: »Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie lief bis zum 15. September 2007, in Bezug auf Regelungen zu Internetdaten konnten die Mitgliedstaaten mit einer Erklärung die Anwendung der Richtlinie bis zum 15. März 2009 aufschieben. Auch bei der inzwischen erfolgten Umsetzung bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. So hat z.B. Großbritannien den gesamten Internetbereich von der beschlossenen einjährigen Vorratsdatenspeicherung bislang noch ausgenommen. Das britische Innenministerium begründete diese Entscheidung damit, dass eine Einbeziehung der Internetdaten nicht angemessen gewesen wäre. Als Gründe nannte es ›spezielle technische Probleme‹ und Ressourcenengpässe bei Zugangsanbietern.« Für Deutschland vgl. Jens Puschke/Tobias Singelnstein (2008): Telekommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und (sonstige) heimliche Ermittlungsmaßnahmen der StPO nach der Neuregelung zum 1.1.2008. In: Neue Juristische Wochenschrift, 3/2008, S. 113-120.
(9) http://www.daten-speicherung.de/index.php/tkg-verfassungsbeschwerde/ [28.01.2008].
(10) Kurier vom 4. November 2007. Unter: http://www.kurier.at/nachrichten/oesterreich/119051.php [28.01.2008].
(11) Vgl. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/189/55/lang,de/ [28.01.2008]. Insgesamt 19 Merkmale werden erfasst, die auch Mitreisende betreffen. Selbst die Daten derjenigen, die die Tickets in den Reisebüros ausstellen, sollen erfasst und gespeichert werden.
(12) Die Erfassung der Fingerabdrücke der gesamten Bevölkerung gehört zu Schäubles Katalog ebenso wie die Online-Durchsuchung auch ohne Verdacht; weiter will er die Wiedereinführung des Großen Lauschangriffs, die Erlaubnis für Ermittler und V-Leute, konspirativ in Wohnungen eindringen zu dürfen (auch ohne richterliche Zustimmung), die Wiedereinführung der Kronzeugenregel, die Aufhebung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten, die präventive Rasterfahndung – und schließlich hat er selbst die präventive Erschießung von Verdächtigen vorgeschlagen: »Schäuble hatte angeregt, potenziell gefährliche Islamisten, die nicht abgeschoben werden können, vorbeugend zu internieren und einen Straftatbestand der Verschwörung einzuführen. Für diese Verdächtigen solle auch ein Handy- und Internet-Verbot erwogen werden. Außerdem will Schäuble die Rechtmäßigkeit der gezielten Tötung Verdächtiger durch den Staat prüfen lassen«; vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/sicherheitsdebatte_aid_66154.html [29.01.2008].
(13) Vgl. zu den so genannten ›Otto-Katalogen‹ unter Bundesinnenminister Otto Schily, http://www.cilip.de/terror/index.htm [29.01.2008].
(14) Richard V. Ericson (2008): Crime in an Insecure World. Cambridge: Polity Press.
(15) »Wir wollen, dass sich der Innenausschuss des Nationalrats ernsthaft mit der Überwachung von Handys und Internet befasst. […] Wir erwarten vom österreichischen Nationalrat Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Grundrechten der Menschen und der Verfassung der Republik«, vgl. http://www.ueberwachungsstaat.at [29.01.2008].
Volker Eick ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Berlin. Jüngste Veröffentlichungen: Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik (mit J. Sambale/E. Töpfer), Bielefeld 2007; BIDs – ein neues Instrument für Containment und Ausgrenzung? Erfahrungen aus Nordamerika und Großbritannien (mit J. Sambale/E. Töpfer). In: PROKLA, 149/4 (2007)
Im September 2006 beginnt die 24stündige Überwachung von vier Berliner Akademikern durch deutsche Geheimdienste und das Bundeskriminalamt. Der Vorwurf: Sie seien Mitglieder einer ›terroristischen‹ Vereinigung namens ›militante gruppe‹ (mg) und würden als ›ideologische Köpfe‹ für die ›mg‹ die Anschlagserklärungen schreiben. Der Beleg: Zugang zu Bibliotheken, nicht vorbestraft, umfassende intellektuelle Fähigkeiten, politisch aktiv, Publikationen zu Themen, die auch in den Texten der ›mg‹ Erwähnung finden. Im Juli 2007 werden drei Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, sie hätten Bundeswehr-Fahrzeuge anzünden wollen. Einer von ihnen soll sich zweimal mit einem der vier Akademiker getroffen haben. So werden die drei auch zu ›Terroristen‹ nach §129a StGB (1), und der Akademiker wird mit ihnen inhaftiert. Die gesamte Geschichte entpuppt sich dann als Fehlschlag für die Strafverfolgungsbehörden in Sachen ›Terrorismus‹-Konstruktion. Sie wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die gegenwärtige ›Sicherheits‹-Politik in Deutschland und in der ›Dritten Säule‹ der Europäischen Union (EU). (2)
Während der Akademiker nach internationalem Protest und rechtlichen Schritten seiner AnwältInnen nach drei Wochen ›haftverschont‹ wird, gelingt es erst nach drei Monaten, auch die anderen drei Inhaftierten freizubekommen. Das Strafverfahren ist freilich nicht eingestellt. Der Vorwurf, die Beschuldigten seien Mitglieder einer ›terroristischen‹ Vereinigung, ließ sich nicht halten, wie der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs feststellte. Nun lautet der – ebenso absurde – Vorwurf, alle sieben seien Mitglieder einer ›kriminellen‹ Vereinigung. Für etwa Mai/Juni 2008 wird daher unter diesem Rubrum der Prozessbeginn erwartet, gegen die vier Akademiker wird vermutlich nicht einmal eine Anklageschrift vorgelegt werden – nach mittlerweile fast eineinhalb Jahren Dauerüberwachung liegt gegen sie nichts vor. (3) Man mag das zunächst für einen Sieg halten, sollte ihn dann aber Pyrrhus-Sieg (4) nennen:
Zum einen bleibt der Makel des ›Terror‹-Vorwurfs, Arbeitgeber haben Kündigungen ausgesprochen, riesiges Datenmaterial – über 2.000 Personen sind in den Akten erfasst – steht den Ermittlungsbehörden zur Verfügung, hohe Kosten für das gesamte Verfahren. Zum anderen wird die Verschärfung des §129a ebenso vorbereitet, wie immer neue Befugnisse und Gesetze für Polizei und Geheimdienste gefordert werden. Diskutiert wird auch, den Schutz seiner Privatsphäre – etwa durch Verschlüsselungsprogramme – unter Strafe zu stellen. Schon in diesem Ermittlungsverfahren spielte der Umgang mit Daten eine erhebliche Rolle. Was der Staat nicht weiß, so die ›Argumentation‹ der Strafverfolger, stellt eine potentielle Gefährdung dar.
Freifahrtsschein für die Exekutive
Im vorliegenden Fall ist insbesondere bizarr, wie der zuständige Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, Ulrich Hebenstreit, alle drei Monate das Überwachungsarsenal des Bundeskriminalamtes (5) ausweitete, obwohl sich keine Anhaltspunkte für einen ›Terror‹-Vorwurf finden ließen: Rund um die Uhr verdeckte Verfolgung durch Kriminalbeamte, Abhören aller Telefone, Videoüberwachung der Wohnungen, Überwachung aller Reisebewegungen, Kontrolle des gesamten privaten und beruflichen Post-, E-Mail- und Internet-Verkehrs, GPS-Sender am Pkw, Überprüfung von Kontobewegungen, Überwachung auch von Telefonanschlüssen der Freundinnen – schließlich gar Zugriff auf Akten der DDR-Staatssicherheit.
Für die Tatsache, dass der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe bisher insgesamt sechsmal rechtswidriges Handeln in Sachen §129a nachgewiesen wurde (6), ist es zu allererst nicht wichtig, dass im ›demokratischen Rechtsstaat‹ juristische ›Ausrutscher‹ korrigiert werden (können). Vielmehr ist bedeutsam, wie selbstgefällig und für sie folgenlos die Strafverfolgungsbehörden den Rechtsbruch einkalkulieren können. Die Exekutive bestimmt die Praxis, die politische Klasse legitimiert sie, und nachfolgend legalisiert sie der Gesetzgeber mit einem neuen Gesetz. Nach diesem Modell haben die beiden Bundesinnenminister, Otto Schily (SPD) und sein Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso demontiert wie die Bürger- und Menschenrechte. Da im ›präventiven Sicherheitsstaat‹ jede/r als potentieller ›Gefährder‹ gilt, wird diese Demontage konsequenterweise nun auch auf EU-Ebene exekutiert.(7) Mit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und weiteren Maßnahmen wird nun vorgeschlagen, gleich ohne irgendeinen Verdacht die Daten aller BürgerInnen zu ihrem Kommunikationsverhalten zu erfassen.
›Gefährder‹ präventiv unschädlich machen
Der deutsche ›Behörden Spiegel Online‹ gibt regelmäßig den ›Newsletter Netzwerk Sicherheit‹ heraus, so auch am 24. Januar 2008. Dort ist zu lesen, die Europäische Kommission habe mitgeteilt, »dass erst acht der 27 Mitgliedstaaten […] die im Februar 2006 beschlossenen EU-Vorgaben zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten ins nationale Recht umgesetzt und die entsprechenden Gesetze nach Brüssel gemeldet hätten. Hinzu kommt inzwischen auch Deutschland, das im Rahmen des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung zum 1. Januar 2008 die Richtlinie umsetzte.« (8). Genau gegen diese Vorratsdatenspeicherung wurde am 31. Dezember 2007 in Deutschland Klage erhoben (9), eine Entscheidung steht dort noch aus. In Österreich hatte im vergangenen November der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Karl Korinek, in Sachen EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung angeregt, »Österreich sollte versuchen, eine Befassung des Europäischen Gerichtshofes zu Stande zu bringen.« (10) Die überfallsartige Beschlussfassung des Sicherheitspolizeigesetzes war Anlass für die Gründung der Bürgerinitiative „Demokratischer Salon“.
Doch während verschiedene Verfassungsklagen anhängig sind, eine gesellschaftliche Debatte in Gang kommt und mehrere Demonstrationen in Europa durchgeführt wurden und werden, verschärft die EU die Gangart.
Jüngste Initiative: EU-Innenkommissar Franco Frattini will nach der vollständigen Protokollierung der Telekommunikation nun die Flugreisen sämtlicher europäischer Bürger verdachtsunabhängig registrieren und 13 Jahre lang in Datenbanken aufbewahren lassen. Erfasst werden sollen sämtliche Flüge zwischen Europa und Nicht-EU-Staaten (11). Das als ›Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht‹ vermarktete Europa entpuppt sich sukzessive als Raum ›permanenten Ausnahmezustands‹, Verdachts und Misstrauens. Wolfgang Schäuble nennt das ›präventive Strafverhinderung‹, die es brauche, weil die ›Gefahren so groß‹ sind. Die ›Gefährder‹, gegen die es vorzugehen gelte, sind alle, die vielleicht möglicherweise irgendwann gegen Gesetze verstoßen könnten (selbst gegen jene, die es heute noch nicht gibt). Dagegen hat Schäuble (12) (wie Schily vor ihm) (13) und dagegen hat Frattini – einen Katalog. Solche Kataloge nennt der britische Kriminologe Richard Ericson ›counter-laws.‹ (14)
Counter-laws – Abschied vom Rechtsstaat
Noch 1997 hatte Richard Ericson gemeinsam mit Kevin D. Haggerty in dem Band Policing the Risk Society die exzessive Sicherheitspolitik mit einer Logik des Risikos begründet. In seinem neuen Band Crime in an Insecure World beobachtet er nun das Bemühen, der Ungewissheit in Politik, Wissenschaft und Technologie mit einer Logik der Vorbeugung und Vorsorge (precautionary logic) zu begegnen. Während Risiko, zumindest theoretisch, noch berechnet werden kann, hat sich das bei Ungewissheit erledigt. Zweifel und Misstrauen, Ahnung und Angst, Argwohn und Ablehnung werden zur Grundlage von Entscheidungsprozessen – gerade im Recht und bei der Konstruktion von Kriminalität. Die Vorsorgelogik treibt den umfassenden Verdacht gegenüber allem und jedem an, und wo das Recht bisher – zumindest theoretisch – Ungewissheit noch mit Unschuld(svermutung) übersetzte, ist sie nun Grundlage »for extreme preemptive measures for which designated agents are held responsible, and […] judged not only by what [they] should have known but also by what [they] should have suspected.« (14) ›Counter-laws‹ umfassen Gesetze, die gegen bestehende Gesetze zum Einsatz kommen (oder bestehende im Sinne der Vorsorgelogik modifizieren), und es umfasst neue Überwachungstechnologien (oder deren Modifikation) – beide Formen zielen darauf, »to erode or eliminate traditional principles, standards, and procedures of criminal law that get in the way of preemptive imagined sources of harm.« (14)
Dass in Österreich gegenwärtig die Bevölkerung ihre Regierung regelrecht bitten muss, wenigsten in den parlamentarischen Gremien über die neuen Überwachungsmaßnahmen zu debattieren (15) – und sie nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit einfach zu exekutieren – wirft ein bezeichnendes Licht auf ein Europa, das sich als ›Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht‹ geriert. Tatsächlich aber, so scheint es, haben sich die europäischen ›Gemeinschafts‹-Schnüffler darauf verständigt, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ebenso ad acta zu legen wie die Unschuldsvermutung.
Fußnoten
(1) Deutschland kennt den §129a schon seit 1976. Die Integration eines Anti-›Terror‹-Paragraphen in nationale Gesetze ist mit einer EU-Richtlinie (EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002, ABl. EG Nr. L 164) nun aber zur Voraussetzung für die Aufnahme und den Verbleib in der Europäischen Union gemacht worden.
(2) RAV. Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (Hg., 2003): Europa, Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht? Die (Re-) Organisation der Inneren Sicherheit in Europa. Berlin: RAV.
(3) Aktuelle Informationen finden sich hier.
(4) Volker Eick (2007): Schäuble noch zu retten? ›Rechtsstaatlich‹ leider nicht zu beurteilen. In: telegraph. ostdeutsche zeitschrift, 115/07, S. 12-20.
(5) Gegenwärtig wird ein Gesetz vorbereitet, dass es dem BKA gar erlauben soll, ohne richterliche Kontrolle Überwachungsmaßnahmen nach eigenem Ermessen durchzuführen [29.01.2008].
(6) Vgl. http://einstellung.so36.net/de/soli/825 [29.01.2008].
(7) Zum punitive turn auf dem Weg zum ›Strafstaat‹ und der Zunahme repressiver Sicherheitspolitik in der ›Strafstadt‹, vgl. zuletzt Volker Eick/Jens Sambale/Eric Töpfer (Hg., 2007): Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld: transcript; Donatella della Porta/Abby Peterson/Herbert Reiter (Hg., 2007): The Policing of Transnational Protest. Aldershot: Ashgate.
(8) Bei den acht Ländern handelt es sich um Frankreich, Großbritannien, Spanien, Belgien, Dänemark, Tschechien, Lettland and Estland. Weiter heißt es dort: »Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie lief bis zum 15. September 2007, in Bezug auf Regelungen zu Internetdaten konnten die Mitgliedstaaten mit einer Erklärung die Anwendung der Richtlinie bis zum 15. März 2009 aufschieben. Auch bei der inzwischen erfolgten Umsetzung bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. So hat z.B. Großbritannien den gesamten Internetbereich von der beschlossenen einjährigen Vorratsdatenspeicherung bislang noch ausgenommen. Das britische Innenministerium begründete diese Entscheidung damit, dass eine Einbeziehung der Internetdaten nicht angemessen gewesen wäre. Als Gründe nannte es ›spezielle technische Probleme‹ und Ressourcenengpässe bei Zugangsanbietern.« Für Deutschland vgl. Jens Puschke/Tobias Singelnstein (2008): Telekommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und (sonstige) heimliche Ermittlungsmaßnahmen der StPO nach der Neuregelung zum 1.1.2008. In: Neue Juristische Wochenschrift, 3/2008, S. 113-120.
(9) http://www.daten-speicherung.de/index.php/tkg-verfassungsbeschwerde/ [28.01.2008].
(10) Kurier vom 4. November 2007. Unter: http://www.kurier.at/nachrichten/oesterreich/119051.php [28.01.2008].
(11) Vgl. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/189/55/lang,de/ [28.01.2008]. Insgesamt 19 Merkmale werden erfasst, die auch Mitreisende betreffen. Selbst die Daten derjenigen, die die Tickets in den Reisebüros ausstellen, sollen erfasst und gespeichert werden.
(12) Die Erfassung der Fingerabdrücke der gesamten Bevölkerung gehört zu Schäubles Katalog ebenso wie die Online-Durchsuchung auch ohne Verdacht; weiter will er die Wiedereinführung des Großen Lauschangriffs, die Erlaubnis für Ermittler und V-Leute, konspirativ in Wohnungen eindringen zu dürfen (auch ohne richterliche Zustimmung), die Wiedereinführung der Kronzeugenregel, die Aufhebung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten, die präventive Rasterfahndung – und schließlich hat er selbst die präventive Erschießung von Verdächtigen vorgeschlagen: »Schäuble hatte angeregt, potenziell gefährliche Islamisten, die nicht abgeschoben werden können, vorbeugend zu internieren und einen Straftatbestand der Verschwörung einzuführen. Für diese Verdächtigen solle auch ein Handy- und Internet-Verbot erwogen werden. Außerdem will Schäuble die Rechtmäßigkeit der gezielten Tötung Verdächtiger durch den Staat prüfen lassen«; vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/sicherheitsdebatte_aid_66154.html [29.01.2008].
(13) Vgl. zu den so genannten ›Otto-Katalogen‹ unter Bundesinnenminister Otto Schily, http://www.cilip.de/terror/index.htm [29.01.2008].
(14) Richard V. Ericson (2008): Crime in an Insecure World. Cambridge: Polity Press.
(15) »Wir wollen, dass sich der Innenausschuss des Nationalrats ernsthaft mit der Überwachung von Handys und Internet befasst. […] Wir erwarten vom österreichischen Nationalrat Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Grundrechten der Menschen und der Verfassung der Republik«, vgl. http://www.ueberwachungsstaat.at [29.01.2008].
Volker Eick ist Politikwissenschaftler und arbeitet in Berlin. Jüngste Veröffentlichungen: Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik (mit J. Sambale/E. Töpfer), Bielefeld 2007; BIDs – ein neues Instrument für Containment und Ausgrenzung? Erfahrungen aus Nordamerika und Großbritannien (mit J. Sambale/E. Töpfer). In: PROKLA, 149/4 (2007)