militante gruppe
Am 14. Juni 2001 erhielt Otto Graf Lambsdorff einen Drohbrief. Der FDP-Politiker war Regierungs- beauftragter in der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg. Im Brief forderte eine bis dato völlig unbekannte "militante gruppe" (mg) für diesen Zweck 180 Milliarden DM Entschädigung.
Foto: Anschlag der "militanten gruppe" auf ein Fahrzeug der Bundespolizei am 04.09.2006 in Berlin-Lichtenberg.
Als "Diskussionsanregung", wie es in dem Brief hieß, lag eine scharfe Patrone bei. Noch im selben Monat erhielten zwei weitere Politiker Drohbriefe, in der damaligen DaimlerChrysler-Niederlassung im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg verübte die Gruppe ihren ersten Anschlag, bei dem ein PKW ausbrannte. Das Bundeskriminalamt (BKA) Stufte die Gruppe als terroristisch ein.
Seitdem hat sich die ominöse "militante gruppe" zu 24 Anschlägen bekannt, alle in Berlin, Brandenburg oder Potsdam, weitere werden ihr zugerechnet. Meistens waren es Brandanschläge – so gingen Fahrzeuge der Bundeswehr, der Polizei und verschiedener Ordnungsämter oder der Deutschen Telekom in Flammen auf, ebenso traf es die Garage eines Berliner Neurologen oder einen Lidl-Supermarkt. Menschen sind durch die Anschläge bisher nicht getroffen worden, was sowohl Sicherheitsbehörden als auch die mg selbst als gezielte Taktik beschreiben, um die Akzeptanz in der linken Szene zu gewährleisten. "Dabei ist größter Wert auf die Zielgenauigkeit bei Aktionsvorhaben zu legen. Wenn bspw. eine spezifische 'Nobelkarosse' flambiert werden soll, dann ist darauf zu achten, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft keine Kleinwagen geparkt sind und die weitere Umgebung (Wohnhäuser etc.) nach allem, was einzuschätzen ist, nicht tangiert wird. Ist man dessen nicht sicher, hat eine solche Aktion zu unterbleiben", schreibt die mg etwa in der Szenezeitschrift "Interim", die regelmäßig Bekennerschreiben und andere Texte der Gruppe veröffentlicht.
Behörden sprechen von reinem Glück, dass nicht zufällig Personen zu schaden gekommen sind. Weiteres Merkmal der mg sind Bekennerschreiben zu jedem Anschlag. Sie sind meist rhetorisch komplex formuliert und gespickt mit Klassenkampf-Termini wie "Repressionsapparate", "Sozialtechnokratie" oder "revolutionärer Aufbauprozess". Selbst erklärtes Ziel der mg ist ein kommunistischer Umsturz in der Bundesrepublik, bei den Anschlägen bezieht sich die Gruppe immer auf konkretere Ziele wie die Abschaffung der Hartz VI – Gesetze.
Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit 2001 in vier Verfahren gegen insgesamt 12 Personen, deren Namen bekannt sind. Außerdem wird weiter gegen Unbekannte ermittelt. Seit dem 31. Juli 2007 ist von der mg nichts mehr zu hören. Weder in Bekennerschreiben, noch in Beiträgen für linksradikale Szenemagazine noch in Form weiterer Anschläge. Damals hatte die Polizei nach monatelangen Überwachungen drei Beschuldigte festgenommen, kurz nachdem sie Brandsätze unter drei Lastwagen der Bundeswehr auf dem Gelände der Firma MAN in Brandenburg an der Havel gelegt hatten. Der Anschlag konnte verhindert werden und wird der mg zugerechnet, ein Bekennerschreiben gab es allerdings nicht. Einen Tag später wurde Andrej Holm, Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität, als vermeintlicher intellektueller Kopf der Gruppe ebenfalls festgenommen. Zuvor war er ein Jahr überwacht worden.
Die Einschätzung durch die Behörden
Auch wenn die Presse gerne mit dem Vergleich spielt: Eine neue RAF ist die mg bei weitem nicht, was Sicherheitsbehörden betonen. Einen gezielten Angriff auf Personen durch Entführungen oder gar Mordanschläge halten sie aktuell für sehr unwahrscheinlich, auch im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums von 2006 heißt es: "Gefestigte terroristische Strukturen, wie sie früher die 'Rote Armee Fraktion' (RAF) und die 'Revolutionären Zellen' (RZ) verkörperten, mit der Bereitschaft und Fähigkeit zu schwersten Anschlägen bis hin zu Morden, bestehen in Deutschland aber weiterhin nicht".
Unter "Autonome Gruppen mit terroristischen Ansätzen" listet der Bundesverfassungsschutz die mg. Selbst bezeichnet sich die mg auch als "klandestine Gruppe", was zum Profil, dass die Sicherheitsbehörden von den Tätern haben, passt: Sie sollen im Alltag völlig unauffällig sein, aufgrund der ausgefeilten Rhetorik der Bekennerschreiben akademisch gebildet, männlich, sowie aus dem linken Milieu Berlins stammen. Allerdings ist die mg bei weitem nicht die einzige Gruppe, die Brandanschläge verübt und sich dazu bekennt. Auch Gruppen wie "Fight 4 revolution crews", "autonome gruppen / militant people" oder militante G8-Gegner bekannten sich besonders vor dem G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm zu diversen Anschlägen. Im Gegensatz zu anderen Gruppen operiert die mg jedoch bereit seit Jahren mit einem wieder erkennbaren Konzept und dauerhaft, was sie von vielen anderen unterscheidet.
Momentan gehen Ermittlungsbehörden davon aus, dass sich hinter der mg stets der gleiche Personenkreis verbirgt, es also keine Trittbrettfahrer gibt, die sich nur des Labels "mg" bemächtigen. Allerdings äußerten in der Vergangenheit einzelne Verfassungsschützer gegenüber der Presse auch die Vermutung, hinter der mg könnten auch mehrere Gruppen stecken, die alle den gleichen Namen verwenden.
Die "Militanzdebatte"
Die mg ist Initiator einer seit dem Jahr 2001 andauernden "Militanzdebatte" in der linken Szene. Sicherheitsbehörden verweisen oft darauf, dass die dabei diskutierte Gewalt zwar durchaus beunruhigend ist, man aber nicht davon ausgehe, dass es auch zu entsprechenden Taten kommt. So war es von Anfang an Ziel der mg, in der linken Szene eine Diskussion über den Einsatz von Gewalt anzuregen, die auch eine extreme Radikalisierung beinhaltet. Dazu diente seit dem Jahr 2001 die Zeitschrift "Interim". In dem vierzehntägig erscheinenden, anonymen DINA4-Heftchen tragen radikale linke Gruppen ihre Debatten aus. Kontaktierbar ist die Redaktion nur über einen Briefkasten im Kreuzberger "Mehringhof", einem Hinterhofkomplex aus Backsteinbauten, in dem über 30 linke Projekte residieren. Das Heft wird zusammengetackert in verschiedenen Szeneläden für 1,2 Euro verkauft und hat bundesweit Bedeutung als Debatten- und Informationsblatt der verschiedensten Gruppen, die von Behörden als "linksextremistisch" zusammengefasst werden.
Ziel der mg war die Schaffung einer "militanten Plattform" und einer "Stadtguerilla" durch die Vernetzung verschiedener militanter linker Gruppe, sowie eine Diskussion, über die "Mittel": "Exekutionen von EntscheidungsträgerInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sind sowohl aus logistischen als auch aus repressionstechnischen Gründen erst während einer längeren intensiven Diskussion unter uns zu entscheiden", schrieb die mg im Jahr 2002. Seit dem Jahr 2006 gilt die Militanzdebatte als tot. Viele Gruppen lehnten den Plan einer organisatorischen Vernetzung radikaler linker Gruppen ab, eine lästertet von einer "militanten Backform", andere fanden den Einsatz von Gewalt generell falsch. In einer Art letzten Aufbäumens erschien im Jahr 2006 eine Ausgabe einer weiteren Szenezeitschrift, der "Radikal", in der unter anderem ein Text mit Mitgliedern der mg veröffentlicht wurde. In einem Text einer anderen Gruppe heißt es: "Über ein paar Handvoll AktivistInnen hinaus fühlt sich kaum jemand durch die Plattformdiskussion oder praktische, militante Interventionen provoziert oder inspiriert. Die dazu verfassten Texte werden selbst in der 'Szene' … kaum wahrgenommen und diskutiert."
Solidarisierung im Laufe der G8-Vorbereitungen
Tatsächlich gab es erst wieder größere Unterstützung in der linken Szene, als es vor und nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm zu Verhaftungen und Razzien kam. "Militante Gruppe – Salz in der Suppe" oder "Wir sind alle 129a" sind Slogans, die auf linken Demonstrationen zum Standardrepertoire gehört, allerdings wohl eher als Provokation denn als Ausdruck von Mobilisierung zu ähnlichen Anschlägen wie die der mg verstanden werden kann. Linke Aktivisten sprechen von "klammheimlicher Freude", wenn sie von Anschlägen der mg hörten, auf Hinterhofkonzerten rufen linke Berliner Musiker bisweilen in die kleine Menge, was die mg mache, sei gut.
Außerdem sind "Solidarisierungseffekte" zu beobachten. Hierbei geht es nicht um die Unterstützung der mg, sondern um die Unterstützung derer, gegen die seitens der Bundesanwaltschaft ermittelt wird. Besonders ausschlaggebend waren Razzien am 9. Mai 2007, sowie die Festnahme von Andrej Holm. Im Mai waren bundesweit knapp 40 Wohnungen, Läden und diverse linke Projekte hauptsächlich in Berlin und Hamburg durchsucht worden, unter anderem ermittelten die Fahnder in Berlin nach Mitgliedern der mg. Am 31. Juli 2007 kam es dann zu den Festnahmen von Florian L. (damals 35), Oliver R. (damals 35) und Axel H. (damals 46) beim versuchten Brandanschlag in Brandenburg an der Havel. Daraufhin bildete sich das Bündnis "Einstellung der §129(a)-Verfahren – sofort!", in dem Anwälte, Freunde, Kollegen und Bekannte des Festgenommenen sich für eine Einstellung der Verfahren gegen die Beschuldigten einsetzten. Besonders die Umstände, wie es zur Festnahme von Andrej Holm (37) als angeblichen intellektuellen Kopf der Gruppe kam, hatte für Proteste gesorgt. Nach Darstellung von Anwälten der Beschuldigten sei Ausgang der Fahndung eine Internet-Recherche von Fahndern gewesen. Sie habe ein Bekennerschreiben der mg sowie ein Text des Soziologen Matthias B. aus dem Jahr 1998 über die UÇK-Rebellen im Kosovo unmittelbar untereinander aufgelistet, weil Begriffe wie "Gentrifizierung" oder "Marxismus-Leninismus" in beiden Text auftauchten. Das BKA habe den Verfasser überwachen lassen. Parallel hätten Experten des Bundesverfassungsschutz Bekennerschreiben und UÇK -Text überprüft. Ob beide Verfasser identisch seien – nicht zu entscheiden, soll die Antwort gewesen sein. Die Überwachung wurde fortgesetzt.
Bereits zu dem Zeitpunkt war auch Andrej Holm ins Visier der Ermittler geraten, weil er mit dem Verfasser des UÇK -Textes bekannt war, ebenso wie zwei weitere Wissenschaftler, gegen die seither nach Aussagen des Anti-129a-Bündnisses ermittelt wird. Besonders wegen dieses Aspekts protestierten auch international Forscher. Der Rat der "American Sociological Association" verurteilte in einer Resolution an Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft beispielsweise "strafrechtliche Verdächtigungen und Verfolgungen mit Bezugnahme auf wissenschaftliche Arbeiten, Auffassungen und Forschungskontakte als grobe Verletzungen der akademischen Freiheit und der Integrität wissenschaftlicher Praxis."
Seitens der Bundesanwaltschaft hieß es zur Begründung der Festnahme von Andrej Holm, die "veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung enthält Schlagwörter und Phrasen, die in Texten der 'militanten gruppe' ebenfalls verwendet werden. Die Häufigkeit der Übereinstimmung ist auffallend und nicht durch thematische Überschneidungen erklärlich". Holm soll sich zudem mit einem der drei Brandstifter zweimal getroffen haben. Über den Inhalt der Unterredungen machte Holm bisher keine Angaben.
Der Fall vor dem BGH
Im Zusammenhang mit den Razzien vor dem G8-Gipfel und der Fahndung nach der mg ist die Frage erwachsen, was Ermittlungsbehörden nach dem "Terror-Paragraphen" 129a des Strafgesetzbuches als Terrorismus definieren dürfen. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sah die Ermittlungen jenseits "rechtsstaatlicher Grundlagen", Ex-Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) sprach von einem untauglichen Versuch, militante Gruppen "zu Terroristen aufzumotzen". Andere Politiker wie der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, befanden die Maßnahmen für notwendig, schließlich handele es sich beim Anzünden von Autos nicht um "Murmelspielen".
Die Anwälte der Beschuldigten zogen vor den Bundesgerichtshof (BGH), der in einem "bedeutenden Urteil", wie es der Sprecher des BGH bezeichnete, darüber zu entscheiden hatte, wie Terror letzten Endes zu definieren sei – am konkreten Fall mg. Der dritte Strafsenat des BGH ordnete in einem Beschluss vom 28.11.2007 die mg entgegen den bisherigen Einschätzungen des zuständigen Ermittlungsrichters am BGH nicht mehr als terroristische Vereinigung ein: " Obwohl die Tätigkeit der "militanten gruppe" darauf ausgerichtet ist, Brandanschläge namentlich gegen Gebäude und Fahrzeuge staatlicher Institutionen sowie privatwirtschaftlicher Unternehmen und sonstiger Einrichtungen zu begehen, kann die Gruppierung nicht als terroristische Vereinigung eingestuft werden.", heißt es in der Begründung. Nach dem Terror-Paragraphen muss eine Gruppe "durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen", um als terroristisch eingestuft zu werden, was bei der mg nicht zutreffe. Seither gilt sie als kriminelle Vereinigung. Neben einem Sachschaden von circa einer Million Euro hätte die Gruppe "einen eher nur propagandistischen Effekt mit potenzieller Mobilisierungswirkung bei Gleichgesinnten gehabt".
Die Haftbefehle gegen die drei Beschuldigten sind seither gegen eine Kaution von 30.000 Euro außer Vollzug gesetzt, sie müssen sich nun an Meldeauflagen halten und mussten ihren Personalausweis abgeben. Dennoch, betont der BGH, sind die drei wegen des Brandanschlages in Brandenburg Beschuldigten weiter dringen verdächtigt, diese auch begannen zu haben und Mitglieder der mg zu sein – bei zumindest einem der Beschuldigten wurde zum Beispiel der Entwurf eines mg-Positionspapiers gefunden, wie der BGH ausführt. Außerdem passten "Tatobjekt" und "Tatausführung" zum Muster der Anschläge der mg. Der Haftbefehl gegen Andrej Holm wurde bereits am 24.10.2007 vom BGH aufgehoben, da kein dringender Tatverdacht gegen ihn bestehe. Dennoch laufen die Ermittlungen weiter, weil weiterhin ein Anfangsverdacht bestehe, so der BGH. Vertreter der "Einstellung der §129(a)-Verfahren – sofort!" rechnen damit, dass noch in diesem Sommer ein Verfahren gegen die drei der Brandstiftung bezichtigten, möglicherweise auch gegen Andrej Holm, eröffnet werden könnte. Die Bundesanwaltschaft und der Bundesgerichtshof äußern sich dazu nicht.
Von Ingo Arzt