Kein Beleg? Umso verdächtiger!
Jochen U. wurde als angeblicher Gründer der "militanten gruppe" unrechtmäßig überwacht. Nun klagt er gegen das Bundesamt für Verfassungschutz, morgen beginnt der Prozess
64 Jahre alt ist Jochen U. inzwischen, doch seinen Frieden hat der Bäcker aus Kreuzberg immer noch nicht gemacht mit dem deutschen Staat. Als dessen Feind galt er viele Jahre lang, weil er angeblich die linksextremistische „militante gruppe“ (mg) gegründet hatte. Was nicht stimmte und was die Ermittler 2008, nach zehn Jahren übereifrigen Schnüffelns, auch einräumen mussten. Der Bundesgerichtshof rügte 2010 sogar das Vorgehen der Behörden. Seitdem kämpfen U. und seine Freunde, die ebenfalls unschuldig als angebliche mg-Aktivisten verfolgt wurden, um Gerechtigkeit. Sie wollen nachweisen, dass ihre staatlichen Verfolger gegen Recht und Gesetz verstoßen haben.
Am morgigen Donnerstag beginnt vor dem Berliner Verwaltungsgericht ein wichtiger Prozess in dieser Sache. U. und fünf weitere Betroffene sowie eine Bäckerei aus Kreuzberg und ein Anwaltsbüro haben das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verklagt. Es geht um Abhör- und Observationsmaßnahmen, die das BfV in den Jahren 1998 bis 2006 nach Überzeugung der Kläger in rechtswidriger Weise durchgeführt hatte.
Die mg war bis zur Einstellung der Ermittlungen 2008 das linksradikale Lieblingsobjekt von Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft. Um die Jahrtausendwende gegründet, wurden der Gruppe an die 30 Brandanschläge zugeschrieben, die sich aber nie gegen Personen, sondern stets gegen öffentliche Gebäude und Bundeswehrfahrzeuge richteten. Die mg blieb ein gesichtsloses Phantom. In der linken Szene gibt es nicht wenige, die hinter der Gruppe nur das Hobby von ein, zwei Radikalen vermuteten oder gar ein Werk des Verfassungsschutzes. Im Juli 2009 gab die mg ihre Selbstauflösung bekannt.
Mit enormem Aufwand ausgespäht
Jochen U. war zusammen mit zwei Freunden von 1998 bis 2006 überwacht worden. Über die Jahre kamen weitere angebliche Verdächtige hinzu: U.s Lebensgefährtin etwa und seine frühere Frau, aber auch der erwachsene Sohn und dessen Frau. Zu dem Sohn habe U. ein gutes Verhältnis, weshalb er sicher eingeweiht sei in die vermeintlich terroristischen Umtriebe des Vaters, begründete der Verfassungsschutz die Überwachung.
Die jahrelange Ausspähung der zeitweise zwölf angeblichen mg-Aktivisten erfolgte mit enormem Aufwand: Bei U. etwa wurden sämtliche seiner Telefonate, E-Mails und Postsendungen kontrolliert, auf die Eingangstür seiner Wohnung und seiner Bäckerei waren Kameras gerichtet, selbst sein Auto wurde verwanzt. Der Ertrag war gleich null: Belege für eine Mitgliedschaft in der mg oder auch nur für Hilfsdienste zugunsten der linksradikalen Brandstifter wurden bei der acht Jahre andauernden Rundumüberwachung bei keinem der Verdächtigen gefunden. Was das BfV aber erst recht als Beweis für seine Terroristenthese wertete – schließlich spreche das für ein hohes Maß an Konspiration bei den Beschuldigten, was sie umso verdächtiger mache, heißt es in einem Vermerk.
Vor dem Verwaltungsgericht wollen die Überwachungsopfer aber nicht nur die Rechtsverstöße des Verfassungsschutzes feststellen lassen. Schließlich muss sich das BfV seine Überwachungsmaßnahmen alle Vierteljahre genehmigen lassen – von der sogenannten G10-Kommission. Das Gremium, dem vier Mitglieder mit vier Stellvertretern angehören, die nicht Abgeordnete des Bundestages sein müssen, ist ein unabhängiges und an keine Weisungen gebundenes Organ. Es entscheidet in seinen monatlichen Sitzungen über die Zulässigkeit von Überwachungsmaßnahmen der Geheimdienste, die das Post- und Fernmeldegeheimnis betreffen. Den jeweiligen Antrag dazu stellt das Bundesinnenministerium an die Kommission.
Antrag und Bestätigung tragen dasselbe Datum
Auch die Überwachung der vermeintlichen mg-Aktivisten über bis zu acht Jahre hinweg hatte die G10-Kommission genehmigt – alle drei Monate wurden die Maßnahmen als „zulässig und notwendig“ bestätigt. Ob jeweils vorher gründlich die Ermittlungsakten ausgewertet worden sind, um die Notwendigkeit der Überwachung bewerten zu können, wie es eigentlich Vorschrift ist, bleibt aber zweifelhaft. „Die in den Akten vorliegenden Bestätigungsvermerke der G10-Kommission tragen das gleiche Datum wie die Anträge“, sagt U.s Berliner Anwalt Volker Gerloff. „Bei durchschnittlich zehn Anträgen, die das Gremium pro Sitzungstag zu beschließen hat, spricht das eher dafür, dass diese Anträge ohne große Prüfung durchgewunken worden sind.“
Auch falle auf, dass in den Jahren 1998 bis 2000 in den Berichten der G10-Kommission an den Bundestag keine Überwachungsmaßnahmen gegen linksextremistische Personen erwähnt wurden. „Das könnte den Schluss zulassen, dass in diesen Jahren das Gremium überhaupt nicht mit dem Vorgang befasst gewesen ist“, sagt Anwalt Gerloff. Er will daher die damaligen Mitglieder der Kommission vom Verwaltungsgericht dazu befragen lassen, wie die G10-Zustimmung für die Überwachungsmaßnahmen gegen die angeblichen mg-Aktivisten zustanden gekommen ist.
Und noch weitere prominente Zeugen soll das Gericht hören, wenn es nach den Anwälten der Kläger geht. So sollen die Abgeordneten des Parlamentarischen Kontrollgremiums dazu befragt werden, ob und wie sie ihrer Aufgabe, geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen zu kontrollieren, nachgekommen sind. Und die früheren Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Otto Schily sollen erklären, wie ihr Ministerium die Notwendigkeit der Überwachung geprüft hat, bevor ein entsprechender Antrag bei der G10-Kommission eingereicht wurde.
Jochen U. und seine Mitstreiter vor Gericht wollen mit dem Verfahren nachweisen, dass die vielzitierte parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste in der Realität nur unzureichend vollzogen wird. Anwalt Gerloff nennt darüber hinaus den Vorgang beispielhaft für die politische Stoßrichtung der Sicherheitsbehörden. „Hätte sich der Verfassungsschutz mit der gleichen Intensität und Verbissenheit, wie er die vermeintlichen mg-Terroristen jagte, in jener Zeit der rechten Terrorszene gewidmet, wären viele der dort tatsächlich verübten Verbrechen vielleicht verhindert worden“, sagt er.