Versuch einiger Entwirrungen in Sachen Solidaritätsarbeit

Auf der Seite des Einstellungs-Bündnisse, des Soli-Zusammenhangs für die Angeklagten im Berliner mg-Verfahren, wurde kürzlich ein Papier der Gruppe Solidarischer Diskussionsbedarf (GSD) mit der Überschrift „‚Hört auf zu heulen, es hat gerade erst angefangen…’ – Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit“ veröffentlicht. Da ich mich selbst kritisch zur anfänglichen Soli-Arbeit in dem genannten Verfahren geäußert hatte, und es auch in diesem Papier noch mal kurz darum geht, ist es vielleicht ziemlich, wenn ich einige Gedanken zu dem GSD-Papier aufschreibe und zur Diskussion stelle.

Vorbehaltlos zuzustimmen ist den AutorInnen des Papiers, wenn sie vor Panikmache warnen:

„Wir denken, dass wir es nicht mit einer neuen, höheren Stufe der Repression zu tun haben. Verändert und erweitert haben sich die Mittel der Repressionsorgane, auch auf Grund der verbesserten technischen Möglichkeiten […]. Paragrafen wurden den veränderten Bedingungen angepasst (auch international) und neue Feindbilder geschaffen. Insgesamt gab es aber unserer Meinung nach in Deutschland nach 1968 Zeiten, in denen die Repressionsorgane viel stärker agiert haben als heute.“

Und für die Zeit vor ’68 gilt das erst recht. Die KommunistInnen-Verfolgung der 50er und 60er Jahre reichte viel weiter in die gewaltfreie Linke hinein als jede SympathisantInnen-Hetze im Rahmen der Anti‚terror’politik der 70er und 80er Jahre – um von der Zeit des Nationalsozialismus und der Monarchie sowie einiger Phase der Weimarer Republik gar nicht erst zu reden.

Zu allem Weiteren möchte ich paar Differenzierungen vorschlagen:

Die Grenzen der Repression in parlamentarischen Staaten

Die GSD geht „von dem Grundsatz aus, dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird.“1
Daran ist zunächst einmal wahr, daß sich in einem antagonistischen Konflikt keine Seite freiwillig besiegen lassen wird. Daß die Herrschenden in einem oder mehreren Ländern – wie im Realsozialismus 1989/90 – gewaltfrei abtreten, ist ziemlich unwahrscheinlich, und niemandE sollte seine politischen Strategien auf diese vagen Aussicht berechnen und alle anderen historischen Möglichkeiten außer Acht lassen. – Lenin definierte eine revolutionäre Situation bekanntlich anhand des Doppelkriteriums, daß die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen. 1989/90 waren die regierende Parteien im Realsozialismus und auch die Angehörigen ihrer Repressionsapparate bereits theoretisch-ideologisch so ratlos und ohne so ziemlich jede Lösungsperspektive für ihre ökonomischen Probleme, daß sie zu einem großen Teil nicht nur ‚nicht mehr konnten’, sondern nicht einmal mehr wollten. Und auf der anderen Seite hatten die protestierenden BürgerInnen die geballte ökonomische und militärische Macht der NATO-/OECD-Staaten in ihrem Rücken. Daß die Herrschenden in den NATO/OECD-Staaten auf absehbare Zeit ‚nicht mehr wollen’ ist ausgeschlossen, und eine Umkehrung der militärischen Situation wäre ohnehin erst nach grundlegenden Veränderungen in einigen der führenden NATO/OECD-Staaten möglich.
Trotzdem übertreibt GSD, wenn sie schreibt, „dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird.“ Das ist eine Übertreibung und zwar auch als „Grundsatz“ (der anscheinend auch lt. GSD Ausnahmen kennt). Das würde zwar für einen faschistischen Staat gelten. Für parlamentarische und semi-parlamentarische Staaten (letztere mit Machtteilung zwischen Parlament, Staatspräsidenten und/oder Verfassungsgericht) gilt das nicht. Diese wissen sehr wohl zwischen bloßen Revolten oder gar nur Widerstand und Situation, wo der Fortgang der Geschichte auf des Messers Schneide steht, zu unterscheiden. Und auch in einer Situation auf des Messers Schneide wäre der Einsatz „all seine[r] Instrumente“ nicht ohne qualitative Transformation von Struktur und Funktionsweise der Staatsapparate dieser Staaten möglich (auch in der Anfangszeit der Weimarer Republik, als es KPD-Aufstandsversuche gab, und auch in der Zeit der reichspräsidialen Diktatur Anfang der 30er Jahre wurde die KPD anders bekämpft, als während der Nazi-Herrschaft) – sodaß diese Staaten nach jener Transformation eben nicht mehr parlamentarische und semi-parlamentarische Staaten wären.
Trotz allem ‚verhältnismäßigen’ Opportunismus im Umgang mit den Gesetzen dieser Staaten (der je nach Rechts- und politischer Kultur in diesen Staaten unterschiedlich stark ausfällt), bis hin zu extralegalen Tötungen von vermeintlichen oder tatsächlichen Guerillaangehörigen, bleibt die Repression in diesen Staaten prinzipiell begrenzt und soweit – bei allen Unterschieden von Land zu Land und Zeit zu Zeit – berechenbar. Und es läßt nicht einmal die lineare These aufstellen: Umso mehr Widerstand, umso mehr Repression. Gerade die besonders scharfe Repression kann sich als unwirksam oder (zumindest kurz- und mittelfristig) kontraproduktiv erweisen, und es findet ein Strategiewechsel von nur Peitsche zu Zuckerbrot und Peitsche statt. So läßt sich vielleicht die Veränderung der Politik des spanischen Staates in Euskadi vom Franquismus zum Postfranquismus beschreiben. Oder ein anderes Beispiel: Sicherlich war die IRA militärisch und politisch stärker als die RAF: Trotzdem konnten für die IRA-Gefangenen bessere Haftbedingungen durchgesetzt werden als für die RAF-Gefangenen.
Es gibt also keine lineare Gleichung: mehr Widerstand bedeutet mehr Repression. Vielmehr entscheidet sich erst in der konkreten Konstellation, welche Strategie eingeschlagen wird. Es kommt darauf an, welche Einschätzungen und Strategien sich innerhalb der Herrschenden durchsetzen – und dies hängt wiederum u.a. davon ab, wie sich das linksliberale2, sozial- und grünreformistische Spektrum, das zwischen Herrschenden und linksradikalem und revolutionärem Widerstand steht, verhält.3 Und letzteres läßt sich durchaus beeinflussen: Es hängt auch davon ab, ob Linksradikale und RevolutionärInnen überhaupt an Bündnissen und gemeinsamen Diskussionsprozessen mit ReformistInnen interessiert sind – oder, ob sie sich dafür zu fein sind.

Solidarität mit anderen oder bloß eigene Unerschütterlichkeit?

Daran gemessen scheint mir auch folgende Aussage aus dem GSD-Papier falsch oder zumindest übertrieben zu sein:

„In einer Solidaritätskampagne muss es primär um die Fragen unseres Kampfes gehen, warum intervenieren wir an diesen Punkten und worin besteht die Notwendigkeit dieser Kämpfe? Es muss doch immer darum gehen, die kriminalisierten Themen aufzugreifen. Diese Kämpfe fortzuführen. Der Staat greift diese an, weil sie stören. Was gibt es besseres, als diese zu stärken und zu verbreitern?“

Die Fortsetzung dessen, was vor einem Repressionsschlag gemacht wurde, ist einfach die Fortsetzung dessen, was vorher war – und eben noch keine Soli-Kampagne. Die Etymologie gibt Euch zwar recht: Solidarität stammt – über verschiedene Zwischenschritte von lat. solidus = gediegen, echt; fest, unerschütterlich; ganz ab. Aber Solidarität meint halt doch inzwischen etwas ganz anderes, als einfach nur selbst unerschütterlich zu sein. Bei Solidarität geht es im modernen Sprachgebrauch, wie er sich vermutlich in der ArbeiterInnenbewegung herausgebildet hat, immer um Solidarität mit anderen: Wenn die Belegschaft eines Betriebes streikt, dort nicht anfangen als StreikbrecherInnen zu arbeiten; oder in einem Zulieferbetrieb ebenfalls zu streiken; nicht individuelle Vorteile aushandeln, sondern gemeinsam mit anderen etwas durchsetzen; internationale Solidarität usw.
Entsprechend auch bei einer Soli-Kampagne: Ein staatlicher Repressionsschlag bedeutet eine Verschiebung des Kräfteverhältnisse: die Betroffenen werden geschwächt (und der Staat dadurch relativ gestärkt). Wenn diese Situation wieder verändert oder sogar umgekehrt werden soll, reicht es nicht aus, einfach mit den verbliebenen – nun: schwächeren – Kräfte das weiterzumachen, was vorher passierte.
Von Solidarität (im modernen Sinne) kann erst gesprochen werden, wenn sich auch Leute verhalten, die mit dem, was staatlicherseits verfolgt wird, nichts zu tun hatten – sei es weil sie (mangels Relevanz) nicht einmal etwas davon mitbekommen hatten, sei es, daß sie zwar davon gehört haben, aber dazu sogar inhaltliche und strategische Differenzen haben.

Und insofern ist dann auch dieser Satz zu einfach: „Wenn Menschen innerhalb unserer Kämpfe verhaftet werden und in den Knast kommen, wenn sie mit Verfahren überzogen werden, dann muss die Bewegung solidarisch reagieren.“
Entweder ist mit „die Bewegung“ immer nur das engste Umfeld der betroffenen gemeint, dann handelt es sich aber nicht um Solidarität, sondern um Selbstverteidigung (gegen die staatliche Repression) und Weitermachen dessen, was vorher schon gemacht wurde.
Oder der Ausdruck „die Bewegung“ ist schon breiter zu verstehen. Dann ist aber Solidarität nicht eine so selbstverständliche Sache, die einfach ‚erwartet’ werden kann, wie es aber Euer „muss“ ausdrückt: „dann muss die Bewegung solidarisch reagieren.“
„[D]ie Bewegung“ muß überhaupt nichts – außer sich vielleicht entscheiden, ob sie solidarisch ist oder nicht. Und selbst diese Entscheidung kann auch noch ausfallen, weil es gar keine verbindlichen Entscheidungsstrukturen gibt und die einzelnen Gruppen und Leute sich vor einer bewußten Entscheidung herumdrücken.
Also: Eine Soli-Kampagne kann nicht nur darin bestehen, selbst das weiterzumachen, was man/frau/lesbe schon vorher gemacht hat, (+ zusätzlich die von der GSD angesprochene konkrete Unterstützung für Gefangene [Organisierung von Geld, Büchern, Klamotten usw.]). Und noch weniger kann erwartet werden, irgendwelche Leute müßten sich der eigenen Praxis anschließen oder sie nachmachen, weil es staatliche Repression gibt. Im Extremfall: Weil es den Gefangenen aus der RAF im Knast schlecht geht, muß Du jetzt die nächste Generation der Guerilla aufbauen. Nein, es muß auch möglich sein, die Frage zu stellen und auch sie negativ zu beantworten: „War das, was da vom Staat verfolgt wird, wirklich ein gutes Projekt, das die Linke voranbringt?“ – und trotzdem solidarisch zu sein: sei es weil man/frau/lesbe der Ansicht ist, daß der Staat die falschen Leute aus dem breiten und diffusen Spektrum der Linken herausgefischt hat; sei es, weil einem/einer auch ein etwas verunglücktes linkes Projekt immer noch lieber ist als die existierende Ordnung von Herrschaft und Ausbeutung.
Wirklich schwierig wird es erst bei Leuten, die sich die staatliche Perspektive zu eigen machen: Die von „Überreaktion“ sprechen, mehr „Augenmaß“ und eine „integrative“ Politik fordern – also sich eher als wohlmeinende BeraterInnen denn als KritikerInnen des Staates verstehen. Mit diesen Kräften werden zwar kaum wirkliche Bündnisse möglich sein; aber auch mit denen kann Informationsaustausch und Koordination (Terminabsprachen u.ä.) notwendig und sinnvoll sein.

Das Beispiel mg-Verfahren

Das Problem in der ersten Phase der Soli-Arbeit zu dem mg-Verfahren war m.E. nicht, daß da Leute in drastischen Worten erklärt haben, daß sie die mg-Politik schlecht finden. Wer/welche die Sache anders sieht, oder zumindest weniger drastische Worte bevorzugt, kann und soll das sagen. Beides muß im Rahmen von Soli-Kampagnen möglich sein; das kann die politische Diskussion in der Linken nur voranbringen.
Problematisch war vielmehr,
++ daß praktisch nur sehr grobe Kritiken an der mg zu hören waren – und anderes kaum. Aber da müssen sich vor allem diejenigen an die eigene Nase fassen, die geschwiegen haben, nicht versucht haben, ihre Vorstellungen in die Bündnisstruktur einzubringen und notfalls eigene parallel aufzubauen und zu gucken, wie sich beide Strukturen koordinieren lassen.
++ und daß sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt, bevor es auch nur eine einzige öffentliche Erklärung eines einzigen Beschuldigten gab, in der Soli-Arbeit auf – mehr oder minder – ‚definitiv unschuldig’ festgelegt und dafür sogar Indizien verschwiegen wurden, die zumindest den AnwältInnen bekannt gewesen sein mußten (anstatt die vorhandenen Indizien ernst zu nehmen und in ihrem Beweiswert kritisch zu würdigen). (Das hätte ja im übrigen auch für diejenigen, die sich soweit für Unschuld aus dem Fenster gehängt hatten, schief gehen können – wenn sich nämlich die oder ein Teil der Beschuldigten zu einer mg-Mitgliedschaft bekannt hätten).
Und keine Grundlage für linke Soli-Arbeit konnte die Erklärung von Prof. Häußermann u.a. sein, die sich darauf beschränkte, die Einstellung der „Ermittlungen gegen Dr. Andrej H.“ zu fordern (eine Forderung, die im übrigen immer noch nicht erfüllt wurde). Aber das war ja auch nie die Linie des Einstellungsbündnisses – auch nicht in der problematischen Frühphase dessen Arbeit.

Zum Verhältnis von politischer und juristischer Argumentation

Die GSD schreibt: „Wir denken, dass die Frage nach Schuld oder Unschuld in unseren Kreisen nichts zu suchen hat. Bei allen Diskussionen zu Solidaritätsarbeit für Gefangene wird sie dennoch immer fix gestellt. Folgen wir damit nicht einer Rechtsstaatslogik, die wir eigentlich ablehnen?“
Nur am Rande sei bemerkt, daß der rhetorischen Frage am Ende ein etwas naives Rechtsstaats-Verständnis zugrunde zu liegen scheint. Der Rechtsstaat ist nämlich nicht der Staat des demokratischen Gesetzes und der Geltung von Justizgrundrechten wie in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten), sondern der Rechtsstaat ist der Staat, der verpflichtet ist, eine „funktionstüchtige Strafrechtspflege“ aufrechtzuerhalten (Bundesverfassungsgericht)4.
Wichtiger scheint mir im vorliegenden Zusammenhang zwei Dinge klar zu unterscheiden: Die Frage, ob Leute das, was ihnen vorgeworfen wird, tatsächlich gemacht haben, und die Frage, wie das, was da verhandelt wird, politisch bewertet wird. Von keinem und keiner kann erwartet werden, sich für Dinge verurteilen zu lassen, die er/sie nicht gemacht hat.5 Es ist problemlos möglich, zu sagen: „Ich war’s nicht. Aber ich wär’s gerne gewesen.“ Bspw. an einer solchen Prozeßerklärung oder an einer Soli-Kampagne auf dieser Grundlage (wenn es denn die Beschuldigten so erklären), wäre in meinen Augen nicht das geringste zu auszusetzen.
Selbst das Ansprechen politischer Bedenken gegen die vorgeworfene Aktion wäre m.E. vertretbar (auch wenn eine solche Äußerung angesichts einer staatlichen Repressionsdrohung einen opportunistischen touch hätte und in ihrer Glaubwürdigkeit etwas in Frage gestellt wäre) – wenn denn die oben angesprochene Grenze nicht überschritten wird, die Widersprüche innerhalb der Linken nicht mit den Widersprüchen zwischen der Linken und dem Staat zu verwechseln.
Umgekehrt kann sich aber politische Solidarität auch nicht auf Fälle juristischer Unschuld oder juristischer Schuldzweifel beschränken. Kritik an staatlicher Repression ist auch möglich, wenn sich die Beschuldigten zu einer Organisationsmitgliedschaft (wie dies die RAF-Mitglieder praktiziert hatten und wie es die mg für ihre Mitglieder angekündigt hat) oder sogar zu konkret angeklagte Taten bekennen.

Zum Problem von Altverfahren

Noch einmal ein ganz anderes Problem sind Verfahren gegen ehemalige Mitglieder von Organisationen, die es längst nicht mehr gibt. Die GSD nennt drei Beispiele:

„2002 gab es einiges Entsetzen bzgl. der Verfahren gegen die Revolutionären Zellen. Auf eine offensive Verteidigung der Politik der RZ wurde im Prozess verzichtet. Von fünf Personen, die als Mitglieder der RZ beschuldigt wurden machten drei Einlassungen mit einem begrenzten Schuldeingeständnis, um mit einem blauen Auge wegzukommen. Einen Gegenpol bildeten einzig einige sehr gut besuchte Veranstaltungen zu Geschichte und Kämpfen der RZ. 2009 ein weiteres Trauerspiel: Thomas K. bekam zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Verteidigung, Gericht und Bundesanwaltschaft hatten in einem Deal zuvor ausgehandelt, dass wenn er in einer Einlassung zu gibt Mitglied der RZ gewesen zu sein und gewisse Aufgaben übernommen zu haben, der Vorwurf der Rädelsführerschaft fallengelassen wird, für die das Gesetz immer Knast vorschreibt. (http://www.freilassung.de/prozess/thomas.htm)
Wie kann es sein, dass Menschen militante Politik machen, Knast riskieren und dann 18 Jahre später so einknicken vorm Staat? Anna und Arthur gehen mal kurz einen anderen Weg – den individuell egoistischen?
Glücklicherweise können wir auch hier ein positives und offensives Gegenbeispiel nennen.
Seit Februar 2009 droht Sonja S. (76) und Christian G. (67) von den französischen Behörden an die Bundesrepublik ausgeliefert zu werden. Beide wurden seit 1978 als Mitglieder der RZ gesucht. Im Gegensatz zu den oben genannten RZ-Angeklagten lehnen beide einen Deal ab. Für sie wird es vermutlich nicht so glimpflich ablaufen. Fehlende Reue und mangelnde Kooperationsbereitschaft müssen vom Staat bestraft werden, weil es sonst keine Deals bzw. keine Abschreckung mehr gäbe.
Es könnte im Interesse und der Verantwortung der Antira- und Anti-AKW-Bewegung und so oder so der gesamten Bewegung liegen, sich angesichts der Anklagepunkte einzumischen (http://www.akweb.de/ak_s/ak538/26.htm).“

So ehrenwert wie die Haltung von Sonja und Christian ist: Politische Einstellungen ändern sich halt, Organisationen lösen sich usw. Wieso sollen Leute da nicht versuchen, mit einem blauen Auge davon zukommen? Wie könnte erwartet werden, daß andere Beschuldigte heute eine Politik verteidigen, die sie vielleicht schon seit 15 Jahren oder länger für ganz oder teilweise falsch halten. Mehr als andere Leute nicht zu belasten, kann in solch einer Situation nicht erwartet werden.

AnwältInnen und Beschuldigte

In dem GSD-Papier heißt es:

„An diesem Punkt stellt uns die Zusammenarbeit mit Rechtsanwält_innen immer wieder vor Probleme: Deren Interesse für ihre Mandant_innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten. Ein schlauer Deal mit dem Gericht erspart manche Strafe; aber welchen Preis muss mensch dafür zahlen? Das muss nicht ‚böse’ gemeint sein, es entspricht eben ihrer zugewiesenen Rolle im Justizapparat. Das Argument, das sagt, wenn ich mich im Prozess oder im Knast offensiv verhalte, dann sitze ich länger und deswegen tue ich nichts auf dieser Ebene, weil ich draußen mehr machen kann und dies kein Feld der Auseinandersetzung sein kann – ist die zentrale vermeintliche Antwort auf dieses Problem. Die Parole lautet: Bälle flach und Füße still halten, eine nicht selten vertretene Haltung von Rechtsanwält_innen.“

Die Beschuldigten kommen in dieser Beschreibung nur als diejenigen vor, die die anwaltliche Position nachvollziehen und sich zu eigen machen. Das scheint mir nicht realistisch zu sein: „geringere Haftzeit, geringere Bestrafung“ sind ja nicht nur das „Interesse [der AnwältInnen] für ihre Mandant_innen“, die von selbst gar nicht auf die Idee kommen würde, sondern das ist ja durchaus ein Interesse der Beschuldigten selbst. Was die GSD beschreibt („Deren Interesse für ihre Mandant_innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten.“) ist kein Widerspruch, der nur zwischen AnwältInnen und Beschuldigten verläuft, sondern der sicherlich mitten durch die meisten (zurecht) Beschuldigten selbst verläuft.

Daher ist dann auch diese Kritik zumindest zu einseitig:

„Sich für Freigang und eine Haftentlassung nach 2/3 der Freiheitsstrafe einzusetzen, wie es die Christian S. Soligruppe tut (http://prozess.blogsport.de/) ist menschlich verständlich, es ist aber keine kämpferische Haltung, die verdeutlicht, worum es in unseren Kämpfen geht.“

Es wird sich ja niemandE für eine 2/3-Entlassung einsetzen, wenn der/die Gefangene sie nicht beantragt.

Was hat die GSD an der von ihr kritisierten Haltung auszusetzen? Was schlägt sie statt dessen vor?

„Wir denken, dies ist zu kurz gedacht. Okay, ich komme raus auf drei, vier, fünf Jahre Bewährung und muss mich dann an bestimmte vom Staat vorgegebene Regeln halten, sonst gibt es den Bewährungswiderruf, und ich gehe zurück in den Knast. Ich stelle Anträge auf Freigang, weil es beschissen ist im Knast und so wenige andere gefangene Menschen kämpfen, ich bin allein und kann draußen viel mehr machen. Stimmt das? Machen wir mehr, wenn wir die ganze Zeit den Hammer eines Bewährungswiderrufs über uns haben? Kann es für das eigene Rückgrat gesünder sein, auf vorzeitige Haftentlassung zu verzichten? Ist wirklich alles besser als Knast? Knast ist ein Kampfgebiet, der Prozesssaal ist ein Kampfgebiet, wie die entfremdete Arbeit, wie der tote sinnentleerte Alltag, den uns dieses System bietet.“

Das scheinen mir bestenfalls vage Kampfperspektiven zu sein: Klar sein dürfte, daß organisierte Politik draußen immer effektiver ist, als in der Regel vereinzelte Politik im Knast. Und was ist eigentlich mit „Knast ist ein Kampfgebiet“ gemeint?

++ Geht es um Agitation von Mitgefangenen? Welche Grundlagen dafür gibt es zur Zeit? (Wie) wurden frühere Versuche in diese Richtung ausgewertet? Wurde auch nur der – ziemlich ernüchternde – Erfahrungsberichtes eines der Beschuldigten aus dem mg-Verfahren zur Kenntnis genommen?
Da es den Bericht insoweit wohl nur mündlich bei einer Veranstaltung gab, fasse ich das mal, soweit ich mich nach rund 1 ½ Jahren noch dran erinnere, in etwa in meinen Worten zusammen:
Am besten hältst Du Dich von den Knaststrukturen mit ihren Hierarchien zwischen den Gefangenen und den – teils zu Überwachungszwecken bewußt, teils auch nur aufgrund von Korruption geduldeten – Handy- und Drogenschmuggelein fern und versuchst nach Möglichkeit bei keinem der Mitgefangenen anzuecken.
Wer/welche dennoch meint, der Knast sei heute ein aussichtsreiches politisches Interventionsfeld, sollte dafür zumindest ein paar Argumente und Vorschläge, wie’s praktisch laufen soll, vorbringen.

++ Oder geht es um Auseinandersetzungen mit dem Wachpersonal? Dann würde ich sagen: Nichts ist sinnloser, als Kämpfe in einer Situation nahezu vollständiger Unterlegenheit anzufangen. Das schwächt nur die eigenen Kräfte. Und ein Ego, das solche Haltungsgesten braucht, sollte sich an der Fähigkeit zur realistischen Analyse von Kräfteverhältnissen und dem effektiven Einsatz der eigenen Kräfte aufbauen statt sich in symbolische Auseinandersetzung zu werfen.
Da linke politische Praxis keine religiöse Veranstaltung ist, brauchst sie nichts weniger als Märtyrer6, so würde ich die entsprechende Frage der GSD beantworten:

„Wie soll eine Kampagne zu ‚Schuldigen’ funktionieren oder wenn die Gefangenen sich nicht in diese Kategorien pressen lassen wollen? Sind sie dann Märtyrer? Oder wie sieht es aus?“

Das GSD-Papier endet dann wie folgt:

„Wir wünschen uns an dieser Stelle eine Diskussion um die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und Solidarität, die es im Knast, außerhalb des Knastes und vor Gericht geben kann. […]. Es geht uns um eine Debatte, wie unsere Solidarität tatsächlich kämpferisch wird. Es geht uns um eine Kritik an Solidaritätsarbeit, die verschweigt, wofür wir kämpfen.“

Dem sei sich hier angeschlossen.

Diesen Text gibt es als .pdf-Datei hier.

  1. Nachdem Zitat geht es in dem GSD-Text wie folgt weiter: „Und es kann nicht sein, dass wir heulen, wenn der Staat unsere Statements ernst nimmt und sicherlich oft viel ernster als die meisten Akteur_innen, die sie formulieren. Widerstand und Revolution ist kein Spielplatz, auf dem wir unsere Energien ausleben können und uns dann wundern wenn es weh tut. Wenn mit Parolen und Praxen kokettiert wird, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, dass der Staat auf militante Demonstrationen, auf klandestine Organisierung mit einem Gegenangriff reagiert, dann sollten wir diese Praxen sein lassen. […]. Gruppen organisieren Demos, zum Beispiel das 1. Mai-Bündnis. Die Mobilisierung über Plakate und andere Medien ‚verspricht’ Riots und zielt auf soziale Unruhen. Für uns gehört in diesem Moment auch dazu, vorher über Repression aufzuklären, nicht um abzuschrecken, sondern um selbstbewusst handeln zu können. Kommt es dann zu Ansätzen der propagierten Unruhen, in deren Folge Leute einfahren oder mit Verfahren überzogen werden, halten sich dieselben Gruppen zurück oder verhalten sich im schlimmsten Fall überhaupt nicht. Uns stört dieses unsolidarische Verhalten auch bei einigen Antifa-Gruppen, die mit radikalen Plakaten zu Gegenaktivitäten zum nächsten Nazi-Aufmarsch aufrufen, und dann die Schnauze halten, wenn es hart auf hart kommt; Genoss_innen dafür einfahren. Hier sehen wir einen Widerspruch, denn zu radikaler Selbstdarstellung und miltantem Agieren gehört auch ein offensives Verhalten, wenn es zu Repression kommt.“
    Dem sei weitgehend zugestimmt. Ergänzend sei angemerkt: Besonders absurd wird es, wenn erst (verbal-)radikale Erklärungen abgegeben werden, und anschließend den Bullen die Schuld gegeben wird. Letztes ist zwar in dem Sinne eine Allerwelts-Weisheit, daß es ohne Herrschaft und Ausbeutung keinen Widerstand gäbe. In dem konkreten Kontext bedeutet eine solche Schuldzuweisung an die Polizei ja aber: ‚Wenn sich die Polizei mehr zurückgehalten hätte, wäre es friedlich geblieben.’ Dies ist aber absurd, wenn vorher angekündigt wurde, daß es militant zugehen soll. Wer/welche tatsächlich meint, daß es in einer bestimmten Situation militant zugehen solle, sollte sich im Erfolgsfalle auch zu seiner/ihrer ‚glücklichen Schuld’ (zwar nicht individuell, aber als politische Situationsanalyse) bekennen, und anschließend erklären, warum es (angeblich) gut und richtig gelaufen ist, statt sich zum bloß reaktiven Opfer-Schaf zu stilisieren. [zurück]
  2. Das linksliberale Spektrum scheint heute zumindest viel schwächer als in den 70er und 80er Jahren zu sein, was allerdings auch damit zu tun hat, daß es sich – aufgrund der Rechtsentwicklung der FDP organisatorisch in SPD und Grüne verlagert hat. Gleichzeitig sind die Grünen und deren Vorläufer-Spektrum der 70er Jahre – ich schreibe keine Neuigkeit – ggü. den 70er und 80er Jahren weit nach rechts gerutscht. Dies dürfte die im vorliegenden Zusammenhang v.a. wichtige Konstellationsveränderung für linksradikale und kommunistische Politik sein. [zurück]
  3. Auch dieser Satz aus dem GSD-Papier ist daher viel zu pauschal. [zurück]
  4. Vgl. dazu meine Analyse unter: http://userpage.fu-berlin.de/~dgsch/docs/StaR-P_w_2_Ueb_zumF-Stand.pdf, S. 68 – 71. [zurück]
  5. Das einzige Argument, was sich dagegen vorbringen ließe, wird von der GSD gar nicht erst vorgebracht: Selbstentlastenden Aussagen können die Ermittlungsbehörden nutzen, um im Wege des Ausschlußverfahrens den Kreis der als TäterInnen in Betracht kommenden Personen einzugrenzen. Damit wäre auch die Aussage, die lediglich die Anklage abstreitet, und dies anwaltlich durch Beweisanträge untermauern läßt, eine objektive Entsolidarisierung von den tatsächlichen TäterInnen. Sich hier zurückzunehmen, setzt allerdings ein hohes Maß an Übereinstimmung mit der vorgeworfenen Tat voraus. Das funktioniert vielleicht noch innerhalb der eigenen Kleingruppe – bezogen auf die Szene als Ganzes mit ihren völlig unterschiedlichen Kriterien von Militanz ist das ausgeschlossen. Welche Person mit halbwegs vernünftigen politischen Positionen sollte sich bspw. für Steinwürfe aus der 10. Demo-Reihe, die dann auch noch PassantInnen treffen, verurteilen lassen wollen? Oder weil die Person zufällig an einem brennenden Mittelklassewagen vorbeikommt?
    Wer/welche es Leuten in solchen Fällen verwehren will, die TäterInnenschaft abzustreiten und das als ‚Opportunismus’ oder ‚deal’ denunziert, macht zwei gleichermaßen unrealistische Voraussetzungen: 1. In der Szene würden nur sinnvolle Aktionen durchgeführt. Und 2.: Letztlich ermittele die Polizei doch so gut, daß sie immer die wahren TäterInnen finde und nie die Falschen anklage. (Ein wiederum anderes Thema ist, wenn ein solches Abstreiten der TäterInnenschaft nicht transparent in der Öffentlichkeit stattfindet, sondern in irgendwelchen Hinterzimmern ausgemauschelt wird.) [zurück]
  6. Vgl. Duden – Das Herkunftswörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2001 [CD-ROM], s.b. Marter: „‚Qual, Folter, Peinigung’: Das dem frühchristlichen Wortschatz entstammende Substantiv (mhd. marter[e] ‚Blutzeugnis, Leiden Christi; Qual, Folter’, ahd. martira, martara) ist aus kirchenlat. martyrium ‚Zeugnis; Blutzeugnis für die Wahrheit der christlichen Religion’ entlehnt (beachte dazu das Fremdwort Martyrium ‚Opfertod, schweres Leiden; Folterqual’), das seinerseits aus griech. martýrion ‚Zeugnis’ übernommen ist. Stammwort ist griech. mártys (dialektische Nebenform: mártyr) ‚Zeuge; Blutzeuge’ (ursprünglich wohl abstrakt: ‚Erinnerung; Zeugnis’), das mit lat. memor ‚eingedenk, sich erinnernd’ etymologisch verwandt ist (vgl. memorieren). Dazu: Märtyrer ‚Blutzeuge (besonders des christlichen Glaubens); wegen seiner Überzeugung Verfolgter’“.
    Erstens benötigt die Linke nicht diese Blutmystik, die meint die eigene Überzeugung mit dem eigenen Blut glaubhaft machen zu müssen (darum geht es im Kontext von Zeuge und Zeugnis), auch wenn sich diese Ebene des Kampfes manchmal nicht vermeiden läßt.
    Zweitens steht linke Programmatik nicht so über den sich für sie Engagierenden wie Gott über den Gläubigen, dem sie sich durch ihren Märtyrertod opfern oder dessen gläubige Anerkennung sie durch ihre Opferung blutig beweisen wollen.
    Drittens schließlich geht es ja nicht nur um Überzeugungen und Leute, die wegen ihrer Überzeugung verfolgt werden, sondern – wenn ich GSD richtig verstehe –, die tatsächlich etwas gemacht haben und es eben nicht bei einer bloßen „Überzeugung“ beließen.

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