Die verrückte Logik der Bundesanwaltschaft
Oder: Wie man die Geschichte auch anders erzählen kann
»Die Realität, die in den Akten dargestellt wird, ist nur eine scheinbare. Die einzelnen Fakten und Indizien werden unter einem spezifischen Raster zusammengestellt und ergeben dann das entsprechende Bild. Würde man nur eine Stellschraube ... verstellen, würde sich auf Grundlage der gleichen Fakten ein anderes Bild ergeben«, so die Verteidigung in einem Beweisantrag Anfang März 2009.
Also machen wir uns ans Werk*: Gegen vier Beschuldigte wird nicht wie behauptet seit 2005 wegen Mitgliedschaft in der mg, sondern als angebliche Redakteure der Zeitschrift »radikal« ermittelt. Die »radikal« wurde bereits seit den 1980er Jahren illegalisiert und mit einer Vielzahl von vor allem §129a-Verfahren – Werbung für eine »terroristische« Vereinigung – überzogen.
Konstrukt reloaded: »Lebt und lest radikal!«
Die ErmittlerInnen gegen davon aus, dass es zwischen der »radikal« und der militanten gruppe (mg) eine Verbindung geben muss – spätestens nachdem ein Interview mit der mg in der »radikal« Nr. 158 im Juli 2005 abgedruckt worden war. Als Kontaktperson zwischen »radikal « und mg gilt H. Er ist der Arbeitskollegen eines Mannes, gegen den seit 2002 als angebliches mg-Mitglied ermittelt wird. Bei H. werden Anfang März 2005 in der Laube seiner Mutter versandfertige Ausgaben der »radikal« Nr. 157 gefunden.
Bundesanwaltschaft (BAW) und Bundeskriminalamt (BKA) holen darauf hin H.s Freundin im Dezember 2005 auf ihrer Arbeitsstelle ab und vernehmen sie – angeblich als Zeugin wegen zweier Brandanschläge im September 2004, zu der sich die mg bekannt hat. Tatsächlich wird sie über H. ausgefragt und ihr Fotos von 24 Personen vorgelegt, die der »radikal« oder anderen linken Pressestrukturen zugerechnet werden. Fotos von Verdächtigten, gegen die zu dem Zeitpunkt wegen mg ermittelt wird, sind nicht dabei.
Die ErmittlerInnen überprüfen zudem eine ebenfalls in der Laube gefundene Adressenliste. Auf ihr sind die Name Andrej Holm sowie zwei weitere Namen von Personen vermerkt, die, so wird recherchiert, alle drei politisch und wissenschaftlich publizieren. Eigentlich wäre bei einem Verfahren wegen Herstellung und Vertrieb der »radikal« die für Pressedelikte zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft Berlin zuständig – aber das hätte einen weitgehenden Verlust von Ermittlungsbefugnissen mit sich gebracht. Anstatt also ein Ermittlungsverfahren gegen »Unbekannt« einzuleiten, wird das Verfahren nach §129a StGB im Zusammenhang mit der mg und damit unter der Regie der Karlsruher ErmittlerInnen mit weitreichenden Befugnissen weitergeführt.
Zur Begründung muss eine Internetrecherche der BAW vom August 2006 herhalten. Die Texte der mg werden mit im Internet veröffentlichten Texten der drei Wissenschaftler verglichen, die auf der Adressliste von H. stehen. Die Recherche führt zu dem aussagekräftigen Ergebnis, dass ihre Artikel »Schlagwörter und Phrasen [enthalten], die in Texten der ›militanten gruppe‹ ebenfalls verwendet werden«. »Schlagwörter und Phrasen« wie zum Beispiel »drakonisch«, »politische Praxis« oder »Reproduktion«. (vgl. Ende einer Dienstfahrt Nr. 2)
Radikal oder militant?
Aufgrund dieser und anderer Banalitäten gelten die Verfasser dieser Texte fortan nicht mehr als »radikal«, sondern als mg. Da der observierte Andrej Holm Kontakt zu Florian hat, stoßen die ErmittlerInnen auf Florian, da Florian Kontakt zu Olli hat, wird Olli observiert. Axel, Olli und Florian werden im Juli 2007 in Brandenburg bei der versuchten Brandstiftung an Bundeswehr-Lkws festgenommen und gelten als mg-Mitglieder.
Zwar kann bei den drei Wissenschaftlern nur eine Verbindung zur »radikal « vermutet werden. Doch aus ermittlungstechnischen Gründen werden sie zur mg – und aufgrund dessen werden nun auch die drei »Brandenburger« zu Mitgliedern der mg, nach der Logik: Wenn die Kontaktperson H. mg ist, ist auch Andrej Holm mg, also sind auch Axel, Olli und Florian mg.
Mit gleicher Logik könnte aus den Ermittlungsakten allerdings auch geschlossen werden: Weil H. „radikal« ist, ist auch Andrej Holm »radikal«, also sind auch Axel, Olli und Florian »radikal«. Damit wäre aber das Vereinigungsdelikt nach §129 StGB vom Tisch, denn es ginge in erster Linie um ein Delikt im Bereich des Presserechts. Der Vorwurf wegen Brandstiftung an Bundeswehrfahrzeugen stünde dann zwar immer noch im Raum, nicht mehr aber eine Verbindung zur mg.
Die Zahne zeigt, wer das Maul aufmacht
Die Zeitschrift »radikal« war in den 1980er und 1990er Jahren ein wichtiges Diskussionsorgan der autonomen Bewegung bzw. der militanten Hausbesetzerbewegung in Berlin. Seit Anfang der 1980er Jahre wurde die Zeitschrift massiv kriminalisiert und mit Ermittlungen überzogen. Eine abgedruckte Erklärung der Revolutionären Zellen diente 1982 dazu, ein erstes §129a-Verfahren wegen Werbung für eine »terroristische Vereinigung« zu führen.
1984 werden Benny Härlin und Michael Klöckner als angeblich presserechtlich Verantwortliche für die zu dieser Zeit noch legal produzierten »radikal« zu zweieinhalb Jahren Knast verurteilt. Im Mai als Abgeordnete der Grünen ins Europaparlament gewählt, erhalten sie Immunität. Bis in die 1990er kam es zu zahlreichen Hausdurchsuchungen bei Privatleuten, Buchläden, Verlagen u.ä. 1993-95 wurde ein damals noch nicht gesetzlich geregelter großer Lauschangriff auf vermeintliche Strukturen der »radikal«-Redaktion durchgeführt. Von einer groß angelegten Durchsuchungswelle im Juni 195 waren etwa einhundert Wohnungen sowie linken Projekten betroffen. 1998 wurden trotz der massiven Kriminalisierung alle eröffneten Verfahren gegen Geldbuße eingestellt. Die »radikal« erschien in der ganzen Zeit in unregelmäßigen Abständen weiter.
* Grundlage dieses Artikels ist ein umfangreicher Beweisantrag der Verteidigung im mg-Prozess vom 4. März 2009. Er ist nachzulesen unter: http://einstellung.so36.net