Empörung
1. Mein Kollege Andrej H. wurde vor wenigen Tagen in Berlin verhaftet. Aus gemeinsamer Arbeit in einem Informationsnetz zur Politik der Privatisierung, entsprechenden Webprojekten und internationalen Forschungsprojekten kenne ich ihn. In einem Seminar, das ich organisiere und das nächste Woche stattfinden wird, war er gleich mehrfach als Referent zu stadtsoziologischen und raumtheoretischen Fragen vorgesehen. Seine wissenschaftliche Biografie ist öffentlich und seine Publikationen sind unauffällig zugänglich. Nachdem er zunächst mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe transportiert wurde, sitzt er mittlerweile in Berlin - Moabit in Untersuchungshaft. Das kann ein halbes Jahr dauern.
2. “Der Beschuldigte Andrej H. ist gleichfalls dringend verdächtig, Mitglied der „mg“ zu sein. Dies ergibt sich unter anderem aus der Tatsache umfassender konspirativer Kontakte und Treffen insbesondere mit dem Beschuldigten Florian L..” So, üblich unvergleichlich, die Generalbundesanwältin.
3. Übrigens: es sollte sich in Zukunft verbieten, von der ZEIT verächtlich als einer “guten alten Tante” zu sprechen. Sie findet kein einziges Wort der Kritik.
4. Zweifellos: Menschen führen fast immer ein zweites oder drittes heimliches Leben: aus Neugier, Lust, Zwang Verzweiflung oder Empörung. In solches Fällen beutet der Staat die Fähigkeit zum Rollenwechsel aus. Aus einem Treffen wird eine Konspiration, der Besuch einer Bibliothek oder die Verwendung eines Fachbegriffs - in diesem Fall: “Gentrifizierung” - wird zu einem Indiz für ein heimliches Leben. In diesem Fall: für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Andrej muss dieses Leben perfekt verheimlicht haben, nur der Staat hats gemerkt. Seine politischen und wissenschaftlichen Schriften, die ich zu einem guten Teil kenne, rufen weder zur Gewalt gegen Sachen (als kritischer Stadtsoziologe dürfte man solche Neigungen im Minutentakt spüren), noch zur Gewalt gegen Personen, erst recht nicht zu terroristischer Gewalt auf und rechtfertigen sie. Seine Texte sind eher sanft gehalten. Unauffällig eben.
5. Seit wenigen Tagen gehe ich daher definitiv davon aus, dass ich aufgrund dieser lockeren wissenschaftlich-politischen Zusammenarbeit ebenfalls auf meine Gespräche und Gesprächspartner achten muss, meinem Handy noch weniger trauen sollte als bisher und ansonsten eigentlich gehalten wäre, Literaturlisten, E-Mail-Verzeichnisse, Festplatten, Bücherschränke, Bekanntenkreise und Book(!) marks nach ihrem terroristischen Potential durchzuforsten. Womöglich hat Herr Schäuble bereits unauffällig-konspirativ meinen drei Computern einen Besuch abgestattet? Eine Selbstreinigung meines Sprechverhaltens wäre angesagt nach Maßgabe seiner Nutzbarkeit durch Brandstifter aller Art. Nun - ich werde das vorläufig zurückstellen müssen und statt dessen helfen, der zuständigen Einrichtung eins aufs Dach zu geben, Andrej zu schreiben und Geld zu sammeln.