Interview mit der militanten gruppe (mg)

schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe (mg)

Redaktionelle Vorbemerkung: Im Sommer 2005 veröffentlichten wir in der radikal-Nummer 158 unter dem Titel „Wir haben uns mit einer Menge Puste auf den Weg gemacht“ ein erstes Interview mit der militanten gruppe (mg). Vier Jahre sind seitdem vergangen. Es ist natürlich nicht möglich, nach dieser Zeitspanne an das damalige Gespräch unmittelbar anzuknüpfen, als sei nichts geschehen. Zu viele Vorzeichen haben sich in diesen vier Jahren verändert. Gerade die letzten zwei Jahre haben um die (mg) einen dichten Vorhang aus Gerüchten, Zweifeln, Spekulationen, Fragen und vorschnellen Antworten gewoben.

Jetzt endlich wurde uns als Redaktionskollektiv die Gelegenheit eröffnet, diesen Vorhang so weit wie möglich zu heben. Mit dem vorliegenden schriftlichen Interview verfügen wir über die erste öffentliche Stellungnahme der GenossInnen nach mehr als zwei Jahren Funkstille (d.h. seit. dem (mg-)Abschlussbeitrag zur Militanzdebatte). Für dieses Privileg möchten wir den GenossInnen zunächst herzlich danken, zumal wir an der Dauer der Funkstille nicht ganz unschuldig sind. Aus organisatorischen Gründen gelang es uns nicht, die (mg-)Aussagen so zeitnah zu präsentieren, wie sie es verdient hätten. Wir bitten dafür um Verständnis.

Die Kommunikation bei schriftlichen Interviews gestaltet sich in der Regel relativ umständlich. Die Frage- und Antwortbögen gingen mehrfach zwischen den DiskussionsteilnehmerInnen hin und her, bis alle Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden waren und es von den interviewten GenossInnen autorisiert wurde.

Natürlich darf diese privilegierte Situation nicht dazu verleiten, unsere kritische Distanz zu den Interviewten und ihren Antworten zu verlieren. Wir hoffen, im Verlaufe des Interviews bewiesen zu haben, dass unsere Fragen und Nachfragen unserem Anspruch als selbständiges Zeitschriftenprojekt der revolutionären Linken gerecht werden.

Wir wissen sehr wohl, dass dieser Beitrag lang und zeitaufwendig zu lesen ist. Dennoch glauben wir, dass es notwendig war, das Interview in voller Länge zu veröffentlichen, und dass es sich lohnt, es ebenso vollständig zu lesen. Mögen manche (mg)-Antworten auch ausschweifend erscheinen, so finden wir doch, dass es unangebracht wäre, die „spektakuläreren“ Passagen aus ihrem Kontext zu reißen, um sie als bequeme Schnelllektüre zu servieren. Das ist unsere Form der Loyalität gegenüber den GenossInnen. Wer in Häppchenform gestückelte Leckerbissen bevorzugt, der möge warten, bis die sensationsträchtigen Auszüge von der bürgerlichen Tagespresse nachgedruckt werden.

Mai 2009

radikal: Hallo GenossInnen, wir sind uns sicher, dass nicht nur wir sondern auch unsere LeserInnenschaft – d. h. eure vielen FreundInnen und wenigen FeindInnen (oder war es doch umgekehrt?) – mit Spannung auf einen O-Ton von euch gewartet haben. Es ist in den letzten ein bis zwei Jahren viel passiert. Als zentral erachten wir hier die seit dem Vorfeld der Anti-G8-Mobilisierung laufende Repressionswelle gegen vermeintliche klandestine Gruppenstrukturen in der BRD. Wir wollen nicht lange um den heißen Brei herum reden, denn die Frage brennt uns förmlich auf den Lippen. Ende Juli 2007 wurden vier linke Aktivisten festgenommen, deren Prozess zur Zeit in vollem Gange ist. Die Anklage lautet versuchter Brandanschlag auf Bundeswehr-LKWs und Mitgliedschaft bei niemand geringerem als eurer (mg). Seither ist – zumindest für die breite Öffentlichkeit – keine wirkliche Aktivität von euch mehr spürbar gewesen, wofür die verschiedensten Erklärungsmuster kursieren. Daher mal ganz salopp gefragt: Gibt es euch noch?

mg: Logisch - wir sind quicklebendig! Wir wissen, wir haben lange, entgegen unserer sonstigen Gewohnheit und Mitteilungsfreude, nichts von uns hören, sehen und verlauten lassen. (Unseren inhaltlichen Beitrag zum vorläufigen Abschluss der Militanzdebatte, der bereits seit einigen Monaten vorliegt, aber erst jetzt von uns zur Veröffentlichung in dieser Zeitschrift freigegeben wurde, möchten wir ausdrücklich verweisen) Dafür gab es, aus unserer Sicht, nur die besten Gründe. Um es bildungsbürgerlich zu wenden, machen wir uns eine Tagebuchaufzeichnung von Franz Kafka zu eigen: „Arg. Heute nichts geschrieben. Morgen keine Zeit.“ So geht’s manchmal, auch über gewisse Distanzen hinweg.

Es ist richtig, uns fiel es in den vergangenen zwei Jahre extrem schwer, von öffentlichen Stellungnahmen Abstand zu nehmen. Mitunter ist es aber für alle (vermeintlich) Beteiligten der seit dem G8-Gipfel 2007 verstärkt einsetzenden staatlichen Repressionsschübe von Vorteil, wenn von uns außer dem Klappe-Halten nichts zu vernehmen ist.

Dennoch waren wir jederzeit präsent, auch wenn wir in einer länger als gedacht ausgefallenen Klausur waren und Inventur zu machen hatten. Aktion „Aufräumen“, auch unter dem Teppich, stand ganz oben auf der Agenda, nicht der Agenda des direkten materiellen Widerstandes, sondern der der Vorleistung dazu. Damit sind wir jetzt (mit wenigen Einschränkungen) durch. Große Erleichterung in unseren Reihen, wie ihr euch denken könnt.

Außerdem: Nach außen hin mit Bekundungen in Erscheinung zu treten, macht nur Sinn, wenn erstmal die sich abzeichnenden bzw. aufgebrochenen Konfliktlinien im Innern freigelegt, ausgesprochen und nach Möglichkeit in die Nähe der Klärung geführt wurden. An diesem Punkt stehen wir momentan. D.h., wir haben trotz des enormen Drucks, der uns gegenüber entwickelt und aufgebaut wurde, die Reihenfolge, die in einem (klandestinen) Gruppenzusammenhang einzuhalten ist, befolgt: Erst Klärung (nicht vollständige Klarheit!) nach innen, dann Erklärung nach außen. Der eigene interne Rhythmus als zentraler Orientierungsmaßstab. Anders ist es nicht vorstellbar.

Es war aus unserer Sicht nicht praktikabel, in periodischen Abständen eine Wasserstandsmeldung abzugeben, wie es um uns und unser Seelenleben bestellt ist. Wir denken, dass wir für einen klandestinen Zusammenhang in der Vergangenheit eine ganze Menge Einblick gewährt haben, mehr als wir jemals von anderen Gruppen, die sich in die Klandestinität begeben haben, in öffentlichen und halböffentlichen Stellungnahmen der letzten 15 bis 20 Jahre wahrgenommen hätten. Zudem haben wir auf das eine oder andere krass fehlbesetzte Pferd gesetzt. Ausstehende Quittungen, die beglichen werden wollen. Und wir sind uns nicht mehr so recht sicher, ob wir nicht zu viel an Informationen über uns insgesamt an die falschen, sprich staatlichen Stellen transportiert haben. Grobe Fahrlässigkeit, die abzustellen ist.

Unter den Bedingungen der Klandestinität ansprechbar zu sein, ist uns nach wie vor deshalb sehr wichtig, weil es das Band zwischen uns und jenen, die nicht mit uns strukturell verbunden sind, aufrecht erhält. Allerdings können wir nicht derart agieren, dass bei uns ständig angeklopft wird und wir den Türspalt zu weit öffnen. Damit berühren wir aber schon einen etwas anders gelagerten Punkt nach dem Verhältnis von klandestiner Arbeit und der „Zugänglichkeit“ für faktisch und tatsächlich außen vorstehende GenossInnen, den wir jetzt aber nicht weiter thematisieren werden, da er uns zu weit weg von der Fragestellung führt.

Wir wollen aber an dieser Stelle durchaus einen enger an die Frage angedockten Punkt problematisieren, den wir durch den geöffneten Türspalt vorgebracht bekamen: Einige GenossInnen haben von uns eine ziemlich dezidierte Selbstkritik eingefordert, um an Interessierte draußen zu vermitteln, warum kein Lebenszeichen mehr von uns ausgesendet wurde. Vielleicht holen wir uns erst einmal Schützenhilfe, die die „Metaebene“ von Selbstkritik beschreibt: „Zweifellos ist die Selbstkritik“, so der ungarische Kommunist Georg Lukacs, „die vorrangige Pflicht jedes Revolutionärs und jeder revolutionären Partei. Aber bei dieser Selbstkritik darf die Methode des Marxismus nicht außer acht gelassen werden, das nämlich, dass alles, was in der Vergangenheit geschah, ‘historische Erscheinung’ ist und als solche notwendig.“

Puh. Wir versuchen diese Fundamentallektion auf unsere kleinen Verhältnisse herunterzubrechen. Eigentlich gar nicht so kompliziert: Jeder Gruppenzusammenhang durchläuft Phasen, notwendige Phasen, die er nicht scheuklappenmäßig überspringen kann. Und wir haben uns vor unserer Klausur-Inventur durch Ausflüchte und Ausreden davon selbst abgehalten, die seit einiger Zeit vor uns liegende Phase anzunehmen und durch das relative Neuland erwartungsvoll zu schreiten. Strukturell gilt es vieles Umzukrempeln, auf dem Geschaffenen aufbauen; klar, so wie immer von uns ellenlang referiert, aber unter Ablegen der autonomen Schlacken. Manche fanden uns dafür noch in Maßen sympathisch; aber, was sind schon milieuspezifische Sympathiepünktchen, wenn wir uns damit den Zugang zu einer Klassenorganisiertheit vernageln? Nix! Wir haben oft in den letzten Jahren in verschiedenen Texten (und dem Anspruch nach in der Praxis) herauszustreichen versucht, dass wir keine „selbstreferentielle Enklave-Politik“ betreiben wollen. Wir sind integraler Teil der proletarischen Klassen und erklärter Teil des organisierten Klassenkampfes. Dieser Anspruchsformulierung folgte allerdings viel zu wenig, oft gar nichts. Es bleibt für uns festzuhalten: Wir sind aus dem Stadium des quasi autistischen Dahinwurschtelns nie hinausgekommen. D.h., unsere Selbstkritik fällt hiermit deutlich aus. Unser bisheriges Projekt ist „historische Erscheinung“, eine in unserem Fortgang allerdings notwendige, die wir nicht vermocht haben zu überspringen.

Also: Die Forderung nach von unserer Seite zu erfüllender Selbstkritik können wir nur vor dem Hintergrund verstehen, dass diese zumeist sehr solidarischen GenossInnen schlicht und einfach schwer enttäuscht und teilweise fassungslos waren/sind, dass wir vermeintlich nicht zu reagieren und agieren wussten. Aber da kommen wir an den Punkt von eben zurück; die Hauptverantwortung ist, und das sagen wir mit allem Nachdruck, zuallererst nach innen zu erfüllen. Es ist eine Unmöglichkeit des Umgangs, wenn wir GenossInnen „beruhigen“ würden nach dem Motto „Guckt mal, hier sind wir“, ohne die Voraussetzung für eine solche Mitteilung unter den veränderten Bedingungen geschaffen zu haben. Damit würden wir (be-)trügerisch und verlogen anderen gegenüber auftreten, was fern unserer proletarischen Ethik wäre. Ein „Zusammen kämpfen“, um die gute alte Parole aus dem antiimperialistischen Frontprozess aus Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrtausends aufzugreifen, kann nur laufen, wenn wir untereinander einen aufrichtigen Umgang pflegen, denn, wenn wir uns aufeinander verlassen wollen, gehört das unbedingt zentral dazu.

radikal: Nun gut, wir verstehen also, dass schwerwiegende innere Turbulenzen bei euch stattgefunden haben und womöglich noch nicht abgeschlossen sind. Wir verstehen auch, dass eure Aktivität notgedrungen darunter leidet. Dennoch: Seit dem Sommer 2007 zeichnet ihr für keine einzige militante Aktion mehr verantwortlich (oder haben wir einfach die Randnotizen der Tagespresse nicht sorgsam genug studiert?). Das soll kein Vorwurf sein, wenn wir es auch stark bedauern. Aber gleichzeitig bezeichnet ihr euch nun als „quicklebendig“. Ist das Wort in diesem Zusammenhang nicht fehl am Platze?

mg: Durchaus nicht, wie ihr bald verstehen werdet. Dazu müssen wir aber zunächst auf die Frage nach militanten Aktionen und deren Vermittlung genauer eingehen.

Grundsätzlich ist aus unserer Sicht festzuhalten, dass sich eine militante Aktion, wenn wir bei diesem spezifischen Feld politischer Interventionen bleiben wollen, erst dann vollständig zu vermitteln weiß, wenn sie in einer in der Regel schriftlichen „Bekennung“ erläutert wird. Hier kennen wir die verschiedenen Varianten: entweder ist die Erklärung schwerpunktmäßig auf das angegriffene Objekt bezogen, d.h. es wird sich zentral mit dem „Gegenstand“ der Aktion beschäftigt, in dem etwas zum Ziel und der daraus abgeleiteten Legitimation des militanten Eingriffs verlautbart wird. Oder es wird neben diesen beiden wesentlichen Aspekten etwas weiter ausgeholt und beispielsweise der inhaltliche Aufhänger der Aktion tiefergehend thematisiert. Des weiteren sind auch Aussagen, die darüber hinaus weisen vorstellbar. Z.B. wenn sich die Aktion in einen angestrebten organisatorisch-koordinatorischen Rahmen einfügen soll. Dabei bekommt die Erklärung einen weiter gefassten Charakter und streift oft die Grenze zum Debattenbeitrag.

Wir waren eher AnhängerInnen davon, die jeweils literarische Form klar zu akzentuieren und nicht zu viele Stilmittel zu vermengen. Allerdings haben wir in den vergangenen Jahren auch textlich herumexperimentiert. Einige unserer Anschlagserklärungen haben den eng umrissenen Tatbestand der Aktion über Gebühr hinaus beitragsmäßig erweitert, andere waren relativ spartanisch gehalten. Einen Anschlag, den auf den Gebäudekomplex der italienischen Handelskammer und des türkischen Industriellen-Verbandes TÜSIAD, haben wir beispielsweise über unseren publizistischen Versuch des mg-express bekannt gegeben. Eine Stringenz fehlte an der einen oder anderen Stelle, auch wenn wir uns um eine möglichst klare publizistische Abgrenzung zwischen Anschlagserklärungen und Beiträgen für die Militanz-Debatte erkennbar bemüht haben.

So jetzt kommt’s: Ein Novum ist unsererseits, dass wir die Belegstellen unserer praktischen Arbeitsnachweise der letzten Monate in dieses schriftliche Interview einfließen lassen werden. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, weil wir für unseren letzten O-Ton als (mg) eine „Paketlösung“ anstreben, d.h. alles das, was wir noch mitzuteilen haben, erfolgt in dieser Form der Stellungnahme. Damit dürfte bei FreundIn und FeindIn Beruhigung darüber eingetreten sein, dass mit uns vieles in Ordnung ist und wir abgesehen des Reibungsverlustes der letzten zwei Jahre wohlauf sind.

OK. Jetzt zu unseren (nachgereichten) „Arbeitsnachweisen“ nach dem Anschlag auf Einsatzfahrzeuge der Berliner Bullen in Berlin-Spandau im Mai 2007 als Reaktion auf die Repressionswelle im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007:

- Brandanschlag auf das „Sozial“gericht Brandenburg in Potsdam in der Rubensstraße in den Abendstunden des 13. Januar 2009. Hier wurde der Brandsatz am hinteren Zugangsbereich platziert und an der Hoffassade wurden an verschiedenen Stellen gesprühte Parolen hinterlassen.
- Brandanschlag auf das Gebäude des Jobcenters der Arbeitsagentur Charlottenburg-Wilmersdorf in der Königin-Elisabeth-Straße in Berlin in der Nacht zum 14. Januar 2009. Der Brandsatz wurde an einem Nebeneingang an der Vorderseite des Gebäudekomplexes abgelegt. Zusätzlich wurden mehrere blaue Farbflaschen an die Vorderfront geschleudert.
- Brandanschlag in der Nacht zum 26. Februar 2009 auf Funkwagen der Bundeswehr auf dem Gelände der BW-Vertragswerkstatt in der Zerbster Chaussee in Burg/S. in Sachsen-Anhalt. Dabei konnten drei BW-Fahrzeuge ausgemustert werden.

Diese militanten Aktionen stehen im Kontext unserer sozialrevolutionär-klassenkämpferischen und antiimperialistisch-internationalistischen Linie, die wir seit Jahren auf einer kommunistischen Grundlage im Rahmen des Aufbaus einer militanten Plattform forcieren. Angriffe auf Einrichtungen der Sozialtechnokratie, wie sie sich beispielhaft in Aktionen gegen Jobcenter und „Sozial“gerichte ausdrücken können, sowie auf imperialistisches Kriegsmaterial sehen wir als zentrale Zielobjekte an, um unserer Synthese von sozialer Revolution und Antiimperialismus u.a. auf dem Feld praktischer Interventionen Leben einzuhauchen. Unsere damit verbundene grenzüberschreitende „Extra-Legalität“ hat nichts Fetischistisches; sie ist völlig profan: als revolutionär-proletarische Linke verstehen wir den internationalen Klassenkampf, um den Horizont der sozialen Revolution weltweit aufzumachen, nicht als bloßen Klassenkampf, sondern er ist ein Mittel zur Befreiung der Menschheit. Kompromisse verdunkeln gerade diese Seite des internationalen Klassenkampfes, und deshalb sind diese, trotz aller momentanen und mitzunehmenden tagespolitischen (Teil-)Erfolge, in Anbetracht des intendierten Endzwecks nicht stets ein Trittbrett für den nächsten Schritt, weil potentiell eine „Hilfe“ für einen Fehltritt. Die Legitimität unseres Tuns erklärt uns z.B. auch der Kollege Vertreter der Kritischen Theorie: „Aber ich glaube“, so Herbert Marcuse, „daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ‘Naturrecht’ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen (...) Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“ Und das, was für „unterdrückte und überwältigte Minderheiten“ gilt, gilt umso potenzierter für die proletarische Mehrheit auf diesem Globus.

So, damit sollte die üble Nachrede ein Ende haben, dass wir als Gruppenzusammenhang geschlagen sind. Unlebendig hört sich anders an und sieht auch anders aus. Wir machen weiter, auch wenn sich einige „Koordinaten“ verschoben haben bzw. verschieben mussten, um unserem Projekt neuen Elan zu geben. Ein energisches Eintreten für ein Projekt kann aber nur vorliegen, wenn es der Überzeugung aller Teilnehmenden entspricht. D.h. nicht, dass das Engagement in einem Kollektiv vom persönlichen Befinden abhängen kann, allerdings bleibt es matt, wenn es hauptsächlich perspektivlos erscheint, weil die permanenten Grenzerfahrungen alles an partiellem Aufbruch überlagern. Aber, das sich kollektivierende Gefühl, zusammen am richtigen und gleichen Strang zu ziehen, schafft interne Geschlossenheit und reproduziert die Gruppenstruktur auch in angespannten Situationen. Kleine militante Eingriffe, die z.B. imperialistische Kriegsgüter sabotieren, haben eine Balsam-Wirkung; welcher klandestine Zusammenhang bräuchte so etwas nicht? Und sowieso: Die Puste zum Weitermachen haben wir allemal, das ist sicher, auch wenn wir mal ein oder zwei Atempausen einlegen müssen.

radikal: Insbesondere eure Ausführungen zum explizit militanten Teil eures Engagements unterschreiben wir natürlich vollkommen. Trotz unserer „redaktionellen Neutralität“ gestatten wir uns einmal diesen Herzensschrei.
Ansonsten befinden wir uns hier immer noch im Unklaren. Nachdem ihr früher jede sich bietende oder nicht bietende Gelegenheit genutzt habt, um das interessierte Publikum wissen zu lassen, welche Inhalte bei euch im Mittelpunkt stehen, welche Aktionsformen ihr bevorzugt und welche organisatorische Ausrichtung euer Projekt annehmen soll, wirkte diese lange Pause auf uns schon eigentümlich.
Ihr erklärt nun, dass ihr in der Zeit internen Komplikationen ausgesetzt ward, die euch daran gehindert haben, euch kollektiv zu äußern, euch aber nicht davon abgehalten haben, weiterhin zu agieren. Wir wollen gerne verstehen, dass es euch als eine den Umständen angemessenere Taktik erschien, die Bekennung zu euren neueren Aktionen zeitlich zu verschieben. Doch dann ist da wiederum diese Anspielung, euer Projekt sei „historische Erscheinung“... Gestattet uns das vielleicht penetrante Herumreiten auf der Frage: Gibt es euch nun noch, oder gibt es euch nun nicht mehr?

mg: Gut, ihr wollt an diesem Punkt nicht locker lassen. Offenbar reicht euch unsere Antwort auf eure Einstiegsfrage nicht. Damit habt Ihr auch recht. Unsere bisherigen Ausführungen sind tatsächlich bislang etwas kryptisch. In unserem Text „‘Militanz ohne Organisation ist wie Suppe ohne Salz’“- Abschlussworte zur Militanzdebatte -“ haben unter dicken Anführungszeichen etwas von einem „temporären strategischen Rückzug“ erzählt. Da ist schon eine Menge Subtext drin, der sich aber, zugegeben, nur zum Teil selbst erklärt. Im Grunde waren die vergangenen Monate Tief- und Brennpunkt unserer Gruppengeschichte zugleich. Die intensiven Diskussionen und Auseinandersetzungen (einschließlich der vielen Eindrücke und Forderungen von außen), die uns ein ums andere mal an den Rand des Kollaps gebracht haben, haben letztlich zum angepeilten Ziel geführt, was eigentlich seit unseren letzten Militanzdebattenbeiträgen für uns zur Disposition stand: Die Transformation unseres Projektes.

Diese für viele GenossInnen bestimmt nachvollziehbare Schwellenangst, die wir seit etwa drei, vier Jahren unbewältigt vor uns her geschoben haben, ist vor allem durch die Repressionswelle im Kontext des besagten G8-Gipfels in Mecklenburg-Vorpommern 2007 für uns zu einer existenziellen Bedrohung geworden. Nicht, dass unsere Struktur durch die Zerschlagungsversuche von klandestinen Zusammenhängen durch BAW/BKA direkt tangiert worden wäre. Nein, dass, was uns getroffen hat, ist die Bugwelle, die (ein weiteres mal) Grundsatzfragen anschwemmte, an denen wir nur noch durch eine Projektbeendigung hätten vorbeigehen können. Das, was mit der Bugwelle unaufhaltsam auf dich als Kollektiv zukommt, ist in seiner Mittelbarkeit kaum weniger für den Gruppenzusammenhang gefährdend als ein direkter Repressionsschlag selbst. Das Subtile ist die Verzögerung, mit der dich die (mittelbare) Repression einholt und im Innenleben des eigenen Zusammenhangs auswirkt. Der Angriff auf unsere Strukturen, auch wenn er es in der Regel an Zielgenauigkeit vermissen lässt, was unter Umständen auch beabsichtigt ist, um vor allem ein vermeintliches Umfeld zu verunsichern, ist mitunter ein Katalysator, der das immer wieder Zurückgestellte und Verschobene ganz weit oben auf den Merkzettel setzt – mit Penetranz, so dass es kein Ignorieren mehr gibt.

Eine weitere einschneidende Auswirkung von Repression ist, wenn der Zugriffsversuch aus dem Staatsapparat am eigenen Kollektiv zwar vorbeigeht, aber andere klandestine Strukturen attackiert. Da wir seit 2001 für die Initiative des Aufbaus einer Plattform militanter und klandestiner Zusammenhänge stehen, haben wir uns auch verantwortlich gegenüber GenossInnen zu verhalten, die nicht struktureller Teil unseres eigenen Zusammenhangs sind. Und wenn wir dafür herhalten müssen, dass GenossInnen mit dem Sortiment staatsterroristischer Instrumentarien bearbeitet werden, dann geht dieser Vorgang auch uns etwas an. Da ist zum einen eine aktive Solidarisierung gefragt und zum anderen ein verbesserter organisierter Selbstschutz als revolutionäre Linke im allgemeinen und unserer klandestinen Strukturen im besonderen. Da ist enorm viel Klein-Klein zu erledigen, das extrem zeitaufwendig ist.

Also, aufgrund dieser Gemengelage hieß es für uns: Konfrontation nach innen. Die Ergebnisse unseres Reflexions- und Umgruppierungsprozesses, unserer Transformation, können und wollen wir in diesem Interview nicht einmal partiell darlegen. Denn ein Ergebnis unserer Nachbetrachtung ist, dass wir in den Vorjahren zu viel an Viertel- und Halbschritten unsererseits veröffentlicht haben, die wir gegangen sind bzw. gedachten zu gehen. Neben der erforderlichen Informierung von SympathisantInnen außerhalb unseres Kreises und in unsere Klasse hinein ist damit den Staatsschutzorganen ein Übermaß an Wissen in die Hand gegeben worden. Wir werden in Zukunft stärker abzuwägen haben, was nach draußen kundgetan und vermittelt wird. Im Zweifelsfalle werden wir uns wesentlich stärker bedeckt halten, als es in der nahen Vergangenheit unser Verhalten war. Durch diese zu korrigierende Umgangsweise haben wir die von uns immer so stark reklamierte Klandestinität in Teilen durchlöchert und den Planungsstäben im Apparat einen Fächer von Spekulationsmuster auf den Tisch gelegt, die zu Interpretationen geradezu einladen müssen. Soweit es uns möglich ist, werden wir dem einen Riegel vorschieben.

So, jetzt festhalten oder eine Sitzposition mit Lehne einnehmen. Wir beginnen mit einem scheinbaren Widerspruch: Wir lösen uns heute und hier mit diesem Beitrag als (mg) auf! Von nun an ist die (mg) in die Widerstandsgeschichte der revolutionären Linke in der BRD eingegangen. Es gibt von nun an nur noch eine ex-(mg); und demzufolge auch nur noch ehemalige Mitglieder der (mg). Momentan befinden wir uns im „Stadium des Ehemaligen“, ausgestattet mit einem umfangreichen inhaltlich-ideologischem Rüstzeug (inklusive aller Widersprüche und Leerstellen), einer langen Kette von militanten Aktionserfahrungen und verschiedenen organisatorischen Versuchen des Strukturaufbaus und der entsprechenden reproduktiven Absicherung. Und das, was dem „Stadium des Ehemaligen“ folgt, kommt erst noch.

Als DialektikerInnen ist es selbstverständlich unsere Aufgabe, dass wir nicht unser Projekt selbst demontieren und uns als Individuen in alle Himmelsrichtungen demobilisieren. Nein, wir überführen es in eine erweiterte strukturelle Form – wir haben es, wie wir hoffen, perspektivisch auf eine höhere Stufe zu stellen verstanden. Unsere mehrjährigen Erfahrungen, einschließlich ihrer Grenzen und Potentiale, in der inhaltlichen Diskussion, der Umsetzung praktischer Interventionsformen, des organisatorischen Strukturaufbaus und dessen Reproduktion lassen diesen Schritt zu, nicht nur zu, sondern machen ihn mit Blickrichtung nach vorn notwendig. Alles andere wäre ein Konservieren des bisherigen Standes und liefe auf eine Stagnation des komplexen revolutionären Aufbauprozesses hinaus. Und Stagnation ist auf Sicht gesehen immer ein Rückschritt auf Raten, ein sich nicht selbst eingestandener Verfall von Strukturen; einmal davon abgesehen, dass sich auch aller ehemals vorhandener Esprit verflüchtigen würde. Mit diesen Zeilen ist ausdrücklich der Aufruf verbunden, dass sich jene GenossInnen, die sich mit uns in den vergangenen Jahren solidarisch gezeigt haben und jene, die mit der von uns entwickelten konzeptionellen Orientierung politisch eine große Schnittmenge haben, Verantwortung übernehmen. Und zwar wesentlich mehr, als die Jahre zuvor, da wir uns nicht mehr als „Alleinunterhalter“ betrachten wollen. Die partielle Abtretung von Verantwortung der einen fällt mit der verstärkten Übernahme von Verantwortung der anderen zusammen. Mit dieser tendenziellen Öffnung des Projektes gehen wir Risiken und Chancen zugleich ein. So bewegt sich jeder anvisierte Aufbruch zwischen zwei Polen: Eine personell-strukturelle Stärkung des Gesamt-Projektes verspricht dann einzutreten, wenn ein erweiterter Raum eröffnet wird, der mit (neuen) praxisorientierten Ideen zu füllen ist. Ein Projekt kann aber nur an Stabilität und (!) Elastizität gewinnen, so lange sich nicht Divergenzen potenzieren, sondern die kollektive Tragfähigkeit ausgebaut wird. Das ist der konkret einzuleitende Prozess, durch den man aus dem „Stadium des Ehemaligen“ zu „neuen Ufern“ zu gelangen hofft.

OK. Schluss mit den semi-mystischen Anspielungen. Wir wissen, unsere Ausführungen zur Beendigung des (mg)-Projektes fallen hiermit relativ lapidar und abstrakt aus. Der Nebel, der um unsere Weiterexistenz gelegt ist, wird sich im Laufe der Zeit mehr und mehr verziehen und das, was wir hier andeuten wird sichtbarer werden. Allerdings nehmen wir dieses schriftliche Interview schon zum Anlass, um neben der Rückschau auch einen Ausblick zu skizzieren, auch wenn er aufgrund des wesentlich größer geschriebenen Selbstschutzes an „Tiefgang“ an dieser Stelle erst einmal einiges zu wünschen übrig lassen wird und wir uns in der Hauptsache mit allgemeingültigen organisatorischen und strukturellen Fragestellungen befassen werden. Nun gut, wir werden dennoch, wenn wir auf euren Fragenkatalog blicken, den einen oder anderen vor allem organisatorischen Bezugspunkt streifen.

radikal: Zugegeben, das hatten wir in der Form oder an der Stelle nicht erwartet. Halten wir also fest, dass es die (mg) fortan nicht mehr gibt. Das wird sicher einiges an Diskussion auslösen und letztlich erneut Anlass zu den wildesten Spekulationen bieten. Auch euer dialektisches Paradox wirft erst einmal weitere Fragen auf. Ihr scheint zu sagen: „Es gibt uns nicht mehr, aber es gibt uns noch.“ Wie lässt sich da etwas Licht hineinbringen, ohne dass ihr zu viel preisgebt?
Wir können absolut nachvollziehen, dass ihr künftig mit Informationen struktureller bzw. organisatorischer Art weniger freigiebig sein wollt. Dennoch sind wir – und sicher auch unsere LeserInnenschaft – jetzt erst recht gespannt zu erfahren, wie es ohne euch mit euch weitergehen soll. Zumal ihr nicht den Eindruck vermittelt, desillusioniert zu sein oder alles hinschmeißen zu wollen. Liegen wir da richtig?

mg: Grundsätzlich liegt ihr da richtig. Das vorab. Desillusionierung, gepaart mit einer melancholischen Grundstimmung, ist ein Phänomen des Metropolen-Luxus’, von dem wir hoffentlich meilenweit entfernt sind. Die Hände in den Schoß zu legen und der Dinge, die da kommen, zu harren, ist nicht unsere Sache. Dafür lodert in uns zu viel, so viel, dass wir uns regelmäßig selbst zügeln müssen, um nicht in die Falle des „Schnellschusses“ zu geraten, denn verpuffende Initiativen hinterlassen nur kurz aufsteigenden Qualm und nichts Nachhaltiges an „Flammenmeer“.

Zum eigentlichen Punkt: Wir möchten eingangs, um uns der Beantwortung dieser Frage in kleineren Sprüngen zu nähern, einige Grundüberlegungen zum Themenbereich Organisierung und Organisation voraus schicken. Warum ist die beliebte und verschmähte Frage des strukturellen Aufbaus eines organisatorischen Rahmens so zentral?

Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass wir aus dem Raster eines selbstgefälligen Zirkelwesens einer politisierten Subkultur raus müssen. Ziel kann es nur sein, allmählich die eigenen Kräfte anwachsen zu sehen und durch ein Aktivsein immer mehr Interessierte und Sympathisierende in den unterschiedlichen Feldern, die der organisatorische Rahmen hergibt, einzubinden. Damit kennzeichnen wir die Linie, die wir für uns immer verbalisiert, aber wenig realisiert haben. Wir sehen es vor allem als essentiell an, um an unsere „Abschlussworte zur Militanzdebatte“ anzuschließen, aus der Enge der Fragestellung um Militanz herauszukommen, d.h. die Ebene eines „militanten Reformismus“ bzw. „Militantismus“ zu verlassen und eine Debatte um eine klassenspezifisch-proletarische Organisierung und eine daraus resultierende Organisation aufzunehmen. Insbesondere mit dem „militanten Reformismus“ bzw. dem „Militantismus“ bezeichnen wir eine falsche Haltung und verfehlte Handlungsweise, die das Kriterium von Militanz in den argumentativen Fokus setzt, um um diesem herum eine (reformistische) Politik entwickeln zu wollen. Kaum verwunderlich, dass mit dieser „Konzeption“ auch uns die Quadratur des Kreises nicht gelingen konnte.

Was meinen wir genau damit? Wir entlehnen den Begriff des „militanten Reformismus“ dem des „bewaffneten Reformismus“. Dieser Begriff wurde z.B. auf (trikontinentale) Befreiungsorganisationen und -bewegungen angewendet, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass sie den bewaffneten Kampf primär deshalb aufrecht erhalten haben, um eine stärkere Verhandlungsposition bei „Friedensgesprächen“ mit offiziellen Regierungsstellen einnehmen zu können. Das Niederlegen der Waffen und die (kontrollierte) Abgabe derselben wurde zur Verhandlungsmasse, um im Gegenzug bspw. politische Gefangene frei zu bekommen, eine Integration der Guerillaeinheiten in das staatliche stehende Heer zu erwirken oder die Zusage für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu erhalten. Wir wollen uns nicht anmaßen, die Taktik des „bewaffneten Reformismus“ pauschal zu verurteilen, mitunter ist es in einigen Ländern faktisch nur möglich, über den bewaffneten Kampf Nahziele zu formulieren und im Erfolgsfalle durchzusetzen. Allerdings steht bei einer derartig vorgenommenen Auslegung des bewaffneten Kampfes kaum mehr eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Vordergrund; dieser ‘bewaffnete Kampf’ ist angelegt, ohne größere Anstrengungen durch das Etablishment absorbiert zu werden. Damit erhalten taktische und operative Methoden der bewaffneten Propaganda oder des Guerillakampfes eine Entwertung als Etappen einer revolutionären Politik, die aufs Systemganze zielt.

Gut, und jetzt zur begrifflichen Übertragung: Ein „militanter Reformismus“ steht dafür, dass versucht wird, mit der Drohung oder Ausführung von militanten Aktionsformen Druck auf Dritte, bspw. im Kontext ökonomischer Tagesfragen (z.B. Forderung nach Arbeitsplatzerhalt bei bestreikten Unternehmen, Schikanen auf dem Jobcenter), auszuüben. Militanz verkommt zu einer (zumeist verbalen) Drohkulisse, um Missstände zu bemängeln und Rechte einzufordern. An sich kein Problem, aber wenn wir von „Militanz als eigenständigem Faktor“ sprechen, dann sehen wir dies vor dem Hintergrund, dass wir einen gesamtorganisatorischen Rahmen etablieren müssen, in dem u.a. militante Politik als ein Eckpfeiler von revolutionärem Widerstand verankert ist. Zu sehr ist das „ordinäre“ Militanzverständnis auf eine Praxis reduziert, um etwas einzuklagen, das besser über nicht-klandestine Mittel und Methoden zu vermitteln wäre. Falls doch auf militante Aktionsformen zurückgegriffen werden sollte, dann stellt sich vor allem die Frage nach der „Dosierung“ an. Das Ablegen eines Brandsatzes an einem spezifischen Ort oder Objekt ist nicht voraussetzungslos ein Qualitätsmerkmal klandestiner Aktivität. Tja, und der „Militantismus“ ist eine Art der Vollendung des „militanten Reformismus“ und droht faktisch gänzlich zu einem Politikersatz zu werden.

Außerhalb jedes Vermittlungsverhältnisses steht dabei die narzisstische Brandsatzlegerei des „Nobelkarossentods“. Im „Militantismus“ ist zumindest noch eine Restspur von Politik zu entdecken, wenn auch als Ersatzhandlung, aber die allabendliche alternative Freizeitbeschäftigung des automobilen Herumzündelns trägt nur noch zur Diskreditierung von militanten und klandestinen Aktionsformen bei. Über eine gewisse Zeit haben wir diese Form des nächtlichen Streifzuges noch als eine Lektion des zu erlernenden Umgangs mit Brandsatzmitteln für uns als annehmbar zu interpretieren versucht. Das gelingt uns seit geraumer Zeit nicht mehr; die negativen Begleitumstände dieses falschen Feuerzaubers sind für uns zu mächtig (relative Wahllosigkeit der „Objektauswahl“, verkohlte „Beifänge“ von daneben abgestellten PKWs, selbst geöffnetes Einfallstor für eine breite mediale Hetze etc.), als dass wir dieses sinn-lose Tun tolerieren wollen. (Das heißt überhaupt nicht, dass wir uns keine Gedanken zur klassenspezifischen Vertreibungspolitik in (sub-)proletarischen Wohnquartieren machen; Gentrifizierung ist auch für uns als revolutionäre KommunistInnen, da wir uns innerhalb unserer Klasse bewegen, ein zentrales Thema und der Erhalt von erkämpften politischen, sozialen und kulturellen Freiräumen ist u.a. ein Gradmesser für unsere Verteidigungsfähigkeit als revolutionäre Linke insgesamt).

In unseren Ausführungen zur Militanzfrage schwingt eine große Portion Selbstkritik mit, auch die, dass es uns und anderen GenossInnen nicht möglich war, so viel Einfluss geltend zu machen, dass bspw. dieser Abfackelwettbewerb von „Nobelkarossen“ eingestellt wird. Wir haben jahrelang darauf geguckt und darauf hin gearbeitet, dass sich unsere Existenz als (mg) in erster Linie militant ausdrückt. Die Bestimmung unseres „Seins“ lief im Ergebnis überproportional darüber. Hierin sehen wir mehr und mehr einen Hinweis unserer „revolutionären Ungeduld“ und unseres voluntaristischen Habitus’. Zentral ging es uns um die organisatorische Umhüllung von praktisch geronnener Militanz; klar, alles inhaltlich schön verpackt, aber letztlich stand das planmäßige Abwerfen und halbwegs geschickte Platzieren des Brandsatzes im Mittelpunkt. Zudem haben wir unsere militante „Schlagzahl“ in den letzten Jahren deutlich erhöht; damit ging nicht immer eine höhere Präzision und „bessere“ Qualität der Anschlagsziele einher. Z.T. haben wir uns in einer Art Hamsterlaufrad befunden, militante Aktion folgte auf militante Aktion und dazwischen stets irgendwelche Texteinschübe und Beipackzettel. Eine faktische Schwerpunktsetzung von Militanz, die uns immer fragwürdiger vorkommt, da wir (eigentliche) Kernthemen damit an den Rand drängen. Kernthemen, die die Organisierung und Organisation an und für sich betreffen und weit über den politisch legitimierten Akt der militanten Unternehmung hinausreichen. Aus unserer Sicht reicht auch unsere bisherige Intention, von einer temporären, punktuellen militanten Praxis zu einer umfassenden militanten Politik zu finden, nicht mehr gänzlich aus, um sich aus diesem Fallstrick herauswinden zu können. Wir bleiben so tendenziell in der Eindimensionalität der Militanz gefangen und kommen nicht in die Breite, die wir brauchen, wenn wir von einer organisierten proletarischen Klassenpolitik reden wollen, Ja, und genau das wollen wir nachdrücklich tun.

Ach, werden nicht wenige GenossInnen sagen, überhaupt nichts Neues. Ja, stimmt. Und dennoch bringt uns allein die Erweiterung der Fragestellung auf eine neue Weggabelung. Denn „es wird die Frage gestellt, ob die organisatorischen Mittel des Umsetzens der Theorie in die Praxis die richtigen gewesen sind“, so der Genosse Georg Lukacs zum „Methodischen der Organisationsfrage“. Insbesondere befinden wir uns im Spannungsbogen von Spontaneität und Organisation. Ebenfalls eine uralte Kontroverse, die für uns, da ungeklärt, in den letzten Jahren immer virulenter wurde.

„Der Gegensatz zwischen Spontaneität und Organisation“, so der Rätekommunist Paul Mattik, „wird so lange bestehen, wie es eine Klassengesellschaft gibt – und den Versuch, sie hinter sich zu lassen“. Ein Aphorismus, der uns nicht genügen kann, zumal wir hier keinen Gegensatz konstruieren, denn ein variables, vor allem dialektisches Verhältnis erkennen wollen. Genau dies ist aus dem Munde des „politischsten“ Vertreters der Kritischen Theorie, Herbert Marcuse, zu entnehmen: „Sicher kann in der repressiven Gesellschaft und gegen ihren allgegenwärtigen Apparat Spontaneität als solche unmöglich eine radikale und revolutionäre Kraft sein. Sie kann zu einer solchen nur werden durch Aufklärung, Erziehung und politische Praxis, und sie wäre in diesem Sinn tatsächlich das Ergebnis von Organisation.“

Georg Lukacs schreibt in Bezug auf dieses vertrackte Wechselverhältnis in der Debatte um Rosa Luxemburgs Einschätzung der Oktoberrevolution und der Partei-Konzeption der Bolschewiki: „Rosa Luxemburg hat sehr richtig erkannt, dass ‘die Organisation als Produkt des Kampfes entstehen’ muss. Sie hat bloß den organischen Charakter dieses Prozesses überschätzt und die Bedeutung des bewussten, bewusst-organisatorischen Elements in ihm unterschätzt.“ Der Hintergrund für Rosa Luxemburgs Überschätzung des Faktors der Spontaneität und ihre Unterschätzung des Faktors der Organisation liegt wahrscheinlich in der Notwendigkeit, im unmittelbaren Kampf gegen die reformistische Kanalisierung von antagonistischem Widerstand die Spontaneität als den ersten Schritt bei jedem revolutionären Aufbruch zu betonen. Diese erste, unumgängliche Phase im proletarischen Kampf setzte sie vorschnell mit dem kompletten Kampfgeschehen gleich. Wer/welche Spontaneität zu einem unter allen Bedingungen wirksamen, jederzeit erfolgversprechenden Mechanismus formalisiert, drückt damit allerdings nur die andere Seite des bürokratischen Organisationsmodells aus. Und das wollen wir auch nicht als Ansatz verfechten, der sich als konsequente Ablehnung von „Dogmatismus“ geriert, aber nur den Vorzeichenwechsel unreflektiert fixiert.

Wir denken, dass es den Rahmen dieses Frage-Antwort-hin-und-her einfach sprengt, wenn wir mit unserem Halbwissen weiter seminaristisch referieren würden. Wir haben eh schon lang und breit ausgeholt. Deshalb setzen wir an dieser Stelle einen dicken Punkt. Sinnvoller finden wir es zudem, bei den folgenden Fragen nach real existierenden Vorlagen von Organisationsmodellen tiefer und sozusagen lebensnah in die Materie einzusteigen.

radikal: Lasst uns noch einmal auf die Frage der staatlichen Repression zurückkommen. Das Interesse, revolutionären Widerstand zu zerschlagen, ist selbstredend herrschaftsimmanent. Das dafür benötigte Instrumentarium wird in den Plenarsälen des Parlamentarismus maßgefertigt und den entsprechenden Abteilungen des Staatsapparates funktionsbereit in die Hand gelegt. Das ist gezwungenermaßen der Lauf des kapitalistischen Systems und wird sich daher auch nicht ändern.
Wir dürfen uns jedoch nicht damit begnügen, zu prophezeien, dass die staatliche Repression regelmäßig versuchen wird, uns als radikale und revolutionäre Linke zu treffen. Welche Vorkehrungen können oder müssen wir also treffen, damit Repressionsschläge ins Leere laufen, oder zumindest in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden?

mg: Dass uns staatliche Repression ansteuern und zu (zer-)schlagen versuchen wird, meinen wir gar nicht so lakonisch, wie es in eurer Frage als Unterton mitschwingt. Wir stellen das zunächst einmal nur fest. Und vor allem ist in dieser Zwangsläufigkeit eine „innere Logik“ verpackt. Wir wollen das mit Hilfe eines Beispiels verdeutlichen. Ist die Rede von der ‘Klassenjustiz’ eine schwammige Etikettierung, die nur noch als anachronistisch wahrgenommen werden kann? Fangen wir in gewohnter Weise ganz klassisch an: Genosse Karl Liebknecht verstand unter Klassenjustiz „die gesellschaftliche Erscheinung, dass das Richteramt nur von Angehörigen der herrschenden Klassen oder Klasse ausgeübt wird. Solche Richter vermögen, wenn sie über Angehörige anderer Bevölkerungsschichten zu befinden haben, naturgemäß nicht objektiv zu urteilen.“ Mehrere Kriterien macht er diesbezüglich fest: in der Prozessführung selbst, in der Angehörige der proletarischen Klasse(n) schlechter behandelt werden als Personen mit „seriösem“ klassenmäßigen Hintergrund; in der einseitigen Auffassung des Beweisführungsmaterials und der entsprechenden nachteiligen Würdigung des Tatbestandes; in der durch den Klassenstandort der RichterInnenschaft stark beeinflussten Auslegung der Gesetze; in der expliziten Härte der Strafen gegen politisch und sozial Missliebige und in der Milde und dem Wohlwollen gegenüber Angehörigen der herrschenden Klasse.

Eine am „Sozialprofil“ der RichterInnen orientierte Definition, wie sie Liebknecht hier darlegt, scheint als Erklärungsmuster der Genese der Klassenjustiz ziemlich unzureichend. Es bleibt festzuhalten, dass der Begriff „Klassenjustiz“ oft Verwendung fand, um auf den Klassencharakter der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und damit verbunden auf den Klassencharakter des Justizapparates hinzuweisen. Die argumentative Unschärfe, die mit dieser Begriffsverwendung einher ging, resultierte daraus, dass „Klassenjustiz“ viel zu sehr auf die Sphäre der Rechtsanwendung fixiert wurde. „Klassenjustiz“ dokumentiert sich nicht vordergründig in als Fehlurteile definierte Richtersprüche; Klassenjustiz ist die Justiz, die eben keine andere Funktion hat, als die kapitalistischen Ausbeutungsinteressen und Verwertungsbedingungen zu garantieren. Dieser ureigenen Aufgabe hat sie systemisch nachzukommen, und sie unternimmt es folgerichtigerweise auch. Unterlässt sie es, hat sie vor allem politisch versagt.

Also, nicht dann, wenn bspw. Wirtschaftsverbrechen nicht oder in den Augen der Bevölkerung zu milde geahndet werden, ist der Begriff von Klassenjustiz angebracht, sondern dann, wenn in der Abpressung von Mehrwert qua Gesetzesgrundlage kein Verbrechen gesehen wird. D.h., nicht die Analyse in Bezug auf die Zusammensetzung oder das Rekrutierungsfeld oder das Selbstverständnis der AkteurInnen im staatlichen Repressionsapparat macht den Klassencharakter sichtbar – sie erfasst nur ein an das Ideal der ‘Rechtsstaatlichkeit’ geknüpftes Glaubensbekenntnis – sondern nur in Verbindung mit der Klassenanalyse des Kapitalismus kann er hinreichend erklärt werden. Deshalb stellt es auch kein Paradoxon dar, wenn ‘Unrecht’ in den verfassungsmäßigen und rechtlich verbrieften Bahnen verläuft, „was übrigens oft auch geschieht“, so der marxistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas.

Wir wollen an dieser Stelle mit Marx schließen, der den idealistischen JuristInnen ins Urteil schrieb, dass „sowohl die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse proklamieren und protokollieren.“ Damit haben wir hoffentlich genug Material vorgebracht, um argumentativ abgestützt sagen zu dürfen, dass Klassenjustiz „herrschaftsimmanent“ ist.

Zur Frage nach der anti-repressiven Vorkehrung: ganz kess würden wir sagen, sich am besten nicht erwischen zu lassen und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel zu haben. Aber Spaß beiseite, wir wollen ja weiterhin als ernsthafte GenossInnen gelten... Wir sehen uns hier aber nicht in der Lage, ein dezidiertes Handlungsmuster zu notieren, das man nur in der (gedanklichen) Tasche parat haben müsste, um repressionsfrei durchs klandestine Leben zu schreiten.

Lasst uns noch einen Aspekt im „Repressionsblock“ ansprechen, der uns doch seit einiger Zeit immer mal wieder stärker beschäftigt. In unserem Papier zum G8-Gipfel 2007 (vgl. Interim 649) haben wir geschrieben, dass wir als revolutionäre Linke im allgemeinen und als klandestine Zusammenhänge im besonderen aufpassen müssen, nicht als ‘nützliche IdiotInnen’ herzuhalten und von den repressiven Staatsapparaten auf eine ganz spezielle Weise funktionalisiert zu werden. Wir halten die These, dass Staatsschutzabteilungen einen kontrollierbaren Widerstand als Existenzberechtigung benötigen, für nicht sonderlich abwegig. Ein anderes Erklärungsmuster haben wir nicht, wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welchem relativen Aufwand bestimmte Gruppierungen zu einem Popanz aufgeblasen oder gar faktisch erfunden werden, wie im Falle des konstruierten klandestin-militanten Gruppenzusammenhangs „militante Kampagne“ vor und während des G8-Gipfels. Dieser Moment, auch wenn er beileibe nicht ausschlaggebend war, hat uns mit dazu bewogen, unser Projekt zu beenden und zu transformieren. Wir haben keinen Bock mehr darauf, dass GenossInnen mit uns wohlwissend fälschlich in Verbindung gebracht und mit dem bourgeoisen Paragrafenzeugs überzogen werden. Die (mg) wird dafür nicht mehr als Rechtfertigungsfolie ausgelegt werden können.

Wir denken aber auch, dass es die BürokratInnen der Repressionsorgane vorziehen, tatsächlich aktive Militante bestimmter klandestiner Kerne dingfest zu machen. In Ermangelung dessen müssen dann allerdings GenossInnen den Kopf hinhalten, die unter welchen Umständen auch immer ins Fangnetz von BAW und BKA geraten sind. Richtig, wir denken dabei insbesondere an die drei Genossen, die sich, wie sie geschrieben haben, im Berliner Kammergericht die Arschbacken breit sitzen müssen. An dieser Stelle ist wohl die Gelegenheit gegeben, um zu sagen, dass damit die (mg) weder personell getroffen und schon gar nicht zerschlagen wurde. Die SchwadroneurInnen der Harms-Griesbaum-Bande (HGB) und des Ziercke-Stadls müssen halt nachsitzen und sich noch mehr anstrengen, um uns zu lokalisieren. Dass der Staatsschutzprozess gegen die drei antimilitaristischen Linken ein Prozess ohne Beteiligung von uns (mg-)lerInnen ist, sollte sich schon daraus ablesen lassen, wie dieser Prozess, dessen Berichte wir natürlich zur Kenntnis nehmen, geführt wird. Wären GenossInnen aus unserem Gruppenzusammenhang bei den „BankdrückerInnen“ im sog. Sicherheitssaal 700 des Kriminalgerichts in Berlin-Moabit, dann wäre unser Verständnis von politischer Gefangenschaft und einer offensiven politischen Prozessführung als revolutionäre KommunistInnen für alle Interessierten unverkennbar und unüberhörbar zum Ausdruck gekommen.

Wir werden in diesem schriftlichen Beitrag vor dem Hintergrund des laufenden Verfahrens keine Diskussion über die Rolle von politischen AktivistInnen auf der „Anklage“bank und jener der neben ihnen sitzenden AnwältInnen anstimmen. Nur soviel: die eine oder andere Textproduktion aus der Reihe der AnwältInnen in diesem Verfahren mutet äußerst skurril an. Da wird sich der Kopf über unsere interne Struktur zerbrochen und klandestine Gruppenmodelle entworfen, die, wenn’s hochkommt, einen gewissen Unterhaltungswert besitzen, mehr aber auch nicht. Nichtsdestotrotz erklären wir uns nachdrücklich mit den ‘Brandenburg Three’ solidarisch; sie haben in den vergangenen fast zwei Jahren durch ihre öffentliche Präsenz revolutionäre Politik verteidigt und sind in keiner Weise denunzierend aufgetreten.

Was müssen wir noch loswerden? Den eigentlichen Vogel schießen BAW und BKA ab: wir haben es mehrfach dick und knallrot unterstrichen, dass wir uns zu unseren militanten Aktionen bekennen! Erfolgt von uns kein Bekenntnis in Form einer Anschlagserklärung oder einem sonstigen O-Ton, dann haben wir damit nichts zu tun. Das erklären wir hiermit letztmalig! Das sollte genügen, um klar zu haben, dass der uns zugeschobene versuchte Brandanschlag auf BW-LKWs am 31.7.2007 in Brandenburg/Havel nicht in unserem „Planungsbüro“ ersonnen und von dort ausgeführt wurde. Das, was uns beinahe kränkt, ist, dass man uns für so dusslig hält, alle Normen einer klandestinen Aktion zu verletzten, um schnurstracks in eine vorbereitete Bullenfalle zu tappen.

Und außerdem: Wir sind es gewohnt, unsere von uns veröffentlichten Texte selbst zu schreiben und zu unterzeichnen. Bildungsmisere hin oder her. Dieses sog. Minihandbuch für Militante, von dem im Prozess gegen die drei Antimilitaristen die Rede ist, und das als Beleg einer Mitgliedschaft bei uns herhalten soll, kennen wir nicht. Nützlich und zweckdienlich dürfte ein solches Elaborat sein, gleichwohl, aber in unserer Schreibstube ist es nicht entstanden und schon gar nicht als „Fundstück“ frei Haus erhältlich. Wer weiß, vielleicht ist die Urheberschaft bei einem weiteren „Muppet-“Pärchen zu suchen. Alles andere an Prosa ist eine Staatsschutzlüge, Spam. Mehr wird es daher zu diesem Sachverhalt aus unserer Feder nicht geben!

radikal: Nun gut, das war auch durchaus deutlich genug, und wir danken euch für diese notwendige Klarstellung. Anderes Thema: In verschiedenen Papieren deutet ihr eure ideologischen Prämissen an (und das Wort „andeuten“ ist hier kein Euphemismus). In eurem Selbstportrait hattet ihr ein breites Spektrum geöffnet, das von links-kommunistischen über räte-kommunistischen bis hin zu syndikalistischen Anlehnungen reicht. Wir haben einige Mühe, da eine klare ideologische Linie zu erkennen, denn aus der von euch aufgemachten Bandbreite stechen so manche – nicht ganz banale – Unverträglichkeiten heraus (u. a. – doch darauf kommen wir später noch – hinsichtlich der Frage der Partei-Form). Ein wenig Sarkasmus sei uns erlaubt: Habt ihr euch inhaltlich endlich einer Position angenähert, die den Namen „theoretisch-ideologische Linie“ verdient?

mg: Oh, wir fühlen uns in diesem Moment tatsächlich ein wenig ertappt. Wir haben in diesem besagten Selbstportrait, und an der einen oder anderen Stelle auch, politische Strömungen der revolutionären Linken zusammen gemixt, die in entscheidenden Punkten unvereinbar sind. Die von uns suggerierte friedliche Koexistenz dieser z.T. grundverschiedenen theoretischen Ansätze kann auch nur in sehr oberflächlich gehaltenen Texten bestehen, im wirklichen politischen Leben krachen sie oft genug aneinander.

Wir sind jahrelang um zentrale inhaltliche Fragen, die unser ideologisches Fundament hätten bilden und uns (noch mehr) Selbstsicherheit hätten geben sollen, ständig herumgeeiert. Das ist uns in den letzten etwa zwei Jahren häufiger in die Kniekehlen gefahren, schmerzhaft, weil wir vorgespiegelt bekamen, wie luftig unsere Inhalte doch bei ideologischem Gegenwind waren.

Wir sind über das Sammeln und Zusammentragen von ideologischen Schnipseln, wie sie sich im ersten Teil unseres Epos’ ‘Bewaffneter Kampf – Aufstand-Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Anarchismus und Kommunismus’ dokumentiert finden, nicht hinausgekommen. Einige meinen uns gegenüber wohlwollend: immerhin, welche Combo hat das vor euch in dieser Dichte hinbekommen? Gut, das schmeichelt uns. Aber dafür haben wir uns niemals in die politische Arena begeben, um Schmeicheleien abzugreifen. Wir sind auch hier verdammt altmodisch, wir gucken nicht zu sehr auf das, was andere alles nicht absolviert haben, sondern wir messen uns an unseren eigenen Ansprüchen, die hoch sind und uns schon mehrfach beinahe erdrückt haben. Selbst eine angekündigte Fortsetzung unseres Epos’ war uns rein kräftemäßig und zeitlich nicht möglich, obwohl es erst einmal nur galt, zu dokumentieren, um uns und anderen mit diesem Material eine Positionierung einfacher zu gestalten. Tja, eine weitere brachliegende Baustelle, und wir wissen derzeit nicht, wann wir die Energie und Zeit finden, diese fertig zu stellen.

Aber um nicht alles im Nebulösen zu lassen: Wir haben uns trotzdem in der Lage gesehen, uns intern weiterzubilden und unsere ideologischen Kurven zu begradigen. Des ‘Undogmatismus’ wegen potenzieren wir aber erst einmal unsere ideologische Konfusion: Wir sind leninistische BlanquistInnen oder auch blanquistische LeninistInnen. Wie herum genau, wissen wir auch nicht so exakt. Lenin wurde und wird ja gerne vorgeworfen, ein verkappter Blanquist oder gar Jakobiner gewesen zu sein (Nebenbei bemerkt wurde auch Marx des „Blanquismus“ bezichtigt) Das, was anderen als Schmähruf gilt, interpretieren wir von einer anderen Warte aus. Der „Blanquismus“, falls wir diesen Begriff überhaupt verwenden möchten, ist schnell zu einer Floskel für abenteuerliche Aufstandspläne kleiner verwegener VerschwörerInnengruppen geworden. Diese extrem verkürzte Sicht pervertierte so weit, dass, wie Eduard Bernstein es gerne vormachte, jeder bewaffnete Kampf und Aufstandsversuch als abscheulicher Blanquismus verschrieen wurde. In unserem Text „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus“ (Interim 601) haben wir versucht anhand eines primären Quellenstudiums Blanqui tatsächlich näher zu kommen: „Man würde die Person Blanqui grob verfälschen, wenn man ihn auf die Rolle eines erbarmungslosen Desperados reduzieren wollte. Damit bedient man lediglich das Zerrbild des „Blanquismus“, der zu einer Collage negativer Attribute pervertiert ist (Synonym für massenlose „Putscherei“ einer selbsternannten Sperrspitze etc.). Auch Blanqui geht wie Babeuf an die Frage des Zeitpunktes und der Methoden eines revolutionären Umsturzes wohlüberlegt und planvoll heran. Er zeichnet sich geradezu durch ein analytisches Vorgehen bei seinen Projekten aus, auch wenn es aufgrund seiner hohen Quote des politisch-militärischen Scheiterns paradox erscheint.“

Um auf Lenin zurückzukommen: Er hat in seiner dem Titel nach bekannten Schrift „Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ klar gegen eine kopflose Politik der Aufstandsmacherei Stellung bezogen: „Den Kampf aufzunehmen, wenn das offenkundig für den Feind und nicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker der revolutionären Klasse, die nicht ‘zu lavieren, Übereinkommen und Kompromisse zu schließen’ verstehen, um einem offenkundig unvorteilhaften Kampf auszuweichen, sind keinen Pfifferling wert.“ Allerdings wusste er sich auch klar in entscheidenden historischen Momenten zu positionieren. Im Gegensatz zu seinen einflussreichen Mitstreitern Georgi Sinowjew und Lew Kamenew setzte er während des ersten imperialistischen Weltkrieges auf den Oktoberaufstand, der den Revolutionsprozess im zerrütteten russischen Zarenreich zum Aufbau einer Sowjetrepublik einleitete. Für Lenin gibt es hinsichtlich der Aufstandspolitik zwei „grundlegende theoretische Leitsätze“, die revolutionäre AktivistInnen zur „Richtschnur“ nehmen müssen: „Erstens unterscheidet sich der Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, daß er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet.“ D.h., dass eine Vielheit von Methoden des revolutionären Kampfes zur Verfügung steht und „doktrinäre Konzepte“ zu verwerfen sind. „Zweitens fordert der Marxismus“, so Lenin weiter, „unbedingt ein historisches Herangehen an die Frage der Kampfformen.“ D.h. wiederum, dass die „Anwendbarkeit eines bestimmten Kampfmittels“ von der „konkreten Situation der gegebenen Bewegung auf der gegebenen Stufe ihrer Entwicklung“ abhängt. Einige sprechen gerne von der „revolutionären Realpolitik“ Lenins; wir finden, dass diese in den hier zitierten Passagen aus seinem Text „Der Partisanenkrieg“ sehr gut zum Ausdruck kommt.

Um den Bogen von Blanqui zu Lenin und zurück wieder herzustellen, nehmen wir den Genossen Leo Trotzki in Beschlag, der gegen Kautskys Interpretation des „Anarchoiden und Unmarxistischen“ am „russischen Bolschewismus“ folgendes richtigerweise auszusetzen hatte: „Mit weit größerer Berechtigung könnte Kautsky uns mit den Gegnern der Proudhonisten, den Blanquisten, vergleichen, die die Bedeutung der revolutionären Macht begriffen und die Eroberung dieser Macht nicht abergläubisch in Abhängigkeit von formalen Merkmalen der Demokratie betrachten. Um aber dem Vergleich der Kommunisten mit den Blanquisten den rechten Sinn zu geben, müßte man hinzufügen, daß wir in der Person der Arbeiter- und Soldatenräte über eine solche Organisation der Umwälzung verfügten, von der die Blanquisten nicht träumen konnten, in unserer Partei hatten und haben wir eine unersetzliche Organisation politischer Führung mit einem vollendeten Programm der sozialen Revolution.“ (Trotzki-KennerInnen werden anzumerken haben, dass der Genosse zu Zeiten der mit harten Bandagen geführten ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Menschewiki und Bolschewiki kurz nach der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert vehement gegen den „Jakobinismus und Blanquismus“ Lenins und seiner AnhängerInnenschaft polemisierte.) Trotzki legt mit diesem Zitat nahe, Blanqui quasi als einen Vorläufer der Bolschewiki anzusehen, als einen passionierten Revolutionär, der tragischerweise nicht die gesellschaftlichen Bedingungen vorfinden konnte, die seinem Engagement für eine kommunistische Perspektive mehr Rückenwind hätten geben können.

Die faktisch historisch und sozio-ökonomisch bedingten Mängel der Organisiertheit im Proletariat zu den Wirkungszeiten Blanquis konnten erstmals „im großen Stil“ im Zuge der Oktoberrevolution durch die „realpolitischen“ Initiativen Lenins, wie sie z.B. in den April-Thesen zum Ausdruck kamen, sozusagen behoben werden. Der revolutionäre Klassenkampf um eine egalitäre Gesellschaftsform konnte demnach erst als greifbare Option wirkungsmächtig werden, als den KommunistInnen durch die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus die Voraussetzungen gegeben waren. Friedrich Engels schreibt zum Verständnis des sich hierin ausdrückenden Historischen Materialismus: „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu (Umgebung), auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen den durchgehenden allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden.“

So, da haben wir uns ein weiteres Mal keine Blöße gegeben und unseren ideologischen Ausführungsversuch mit gewichtigen Zitaten von „Klassikern“ nach allen Seiten hin abgestützt. Wer/welche wollte uns da noch widersprechen?! Und wenn dann noch Aspekte der Kompatibilität zwischen Lenin und Blanqui plausibel geworden sein sollten, dann sprudelt förmlich das Glück aus uns...

radikal: Da gibt es von unserer Seite keinen Widerspruch. Allerdings „quälen“ wir euch nun mit einer Anschlussfrage, da ihr unsere vorherige Frage nicht vollständig beantwortet habt. In euren Texten verwendet ihr wiederholt den Begriff „Links-Kommunismus“, ohne ihn weiter zu erläutern. Könnt ihr hier diesbezüglich einige organisatorische und inhaltliche Aspekte ausführen?

mg: Wir bemühen uns in den folgenden Zeilen ein ideologisches Panorama vorzustellen, damit unsere Strömungsorientierung innerhalb der Kommunismen hoffentlich etwas durchschaubarer wird. Trotz unseres tendenziellen Leninismus sind wir Teil dessen, was der (unfreiwillige) Namensgeber dieses „Ismus“ als „Kinderkrankheit“ zu charakterisieren trachtete. Denn gleichzeitig zum Leninismus haben wir uns ja als ‘blanquistisch’ etikettiert. Es kommen aber noch weitere Zutaten an ideologischer Mischkost auf den Tisch: Joseph Dietzgen, die sog. Deutsch-Holländische Linke um Anton Pannekoek, Hermann Gorter und Henriette Roland-Holst, die italienische Linke um Amadeo Bordiga, Ansätze der Gruppe Arbeiteropposition um Alexandra Kollontai, Phasen der Politik der KPD-Abspaltung, der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), und natürlich aktivistische Gestalten wie Max Hoelz, Karl Plättner, Karl Knüfken, Franz Jung.

So, nach der Auflistung all dessen, was möglich war, geht es jetzt um einen sortierten Schnelldurchlauf. Aber: Halt! Nach kurzer Rücksprache werden wir uns auf einen Abriss der Geschichte und Bedeutung der KAPD begrenzen müssen, sonst werden wir wieder zur epischen Breite greifen müssen, was wir euch und uns an dieser Stelle ersparen möchten. Die KPD hat sich bekanntlich oder auch nicht zum Jahreswechsel 1918/19 gegründet. In ihr sind der Spartakusbund von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring und Leo Jogiches mit den Vertretern der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), dazu zählen u.a. Paul Frölich und Otto Rühle, zu einer parteipolitischen Kraft verschmolzen. Der Spartakusbund löste sich endlich von der „zentristischen“ Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich 1917 als linker Flügel aus der SPD herauslöste, aufgrund der Protesthaltung zum ersten imperialistischen Weltkrieg. Die IKD bzw. der Vorläufer, die Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD), bildeten sich bereits zu Beginn des Krieges als loser Zusammenschluss der radikalen Linken, insbesondere um die Bremer Linksradikalen von Johann Knief. Mit diesem Kreis standen auch die Protagonisten der Deutsch-Holländischen Linken in Kontakt.

Bis dahin ganz kurz, ganz knapp, und weiter geht’s. Bereits auf dem Gründungsparteitag der KPD (Spartakusbund) zeichnete sich ab, dass es in Grundsatzfragen wie des Parlamentarismus oder der Rolle der Gewerkschaften ein großes, unterschwelliges Konfliktpotential in der jungen Partei gibt. Die, die über die IKD in die neue Partei gekommen waren, konnten sich in weiten Teilen anfangs durchsetzen und die KPD auf einen anti-parlamentarischen und stark gewerkschaftskritischen bis -ablehnenden Kurs festlegen. Aber bereits auf dem zweiten KPD-Parteitag brachen die Spannungen in offene Konflikte aus. Teils verließen Vertreter der radikalen Linken die Partei, teils wurden sie, insbesondere vor und nach dem dritten Parteitag, ausgeschlossen. Die Opponenten sammelten sich im April 1920 in der neu gegründeten KAPD, in der sich allerdings die unterschiedlichsten Strömungen tummelten: die Linie um die frühe originäre radikale Linke, die syndikalistisch geprägte um Otto Rühle und die nationalbolschewistisch orientierte um die Hamburger Laufenberg und Wolffheim. Die Partei büßte nach dem Austritt bzw. dem Ausschluss der letzten beiden Linien nur wenige Monate nach der KAPD-Gründung nach und nach an Mitgliederschaft und politischem Einfluss ein. Das Zurückschlagen des sog. Kapp-Putsches durch einen Generalstreik im April 1920 und die proletarischen Aufstände während der Märzaktion 1921 bedeuteten zwar für die KAPD aktivistische Phasen, aber da sich diese nicht zu einem landesweiten Aufruhr weiterentwickeln ließen, erfolgte nach dem rebellischen Hoch ein typischer Sinkflug. Die andauernden politisch-ideologischen Querelen zwischen der sog. Berliner und der sog. Essener Richtung, zu der u.a. H. Gorter zählte, marginalisierten die KAPD bis Mitte/Ende der 20er Jahre nahezu vollends. Die KAPD und die ihr nahe stehende Betriebsorganisation, die Allgemeine Arbeiterunion (AAU), befanden sich im „links“ von der KPD befindlichen organisatorischen Spektrum im Spannungsfeld zur Allgemeinen Arbeiterunion-Einheitsorganisation (AAU-E) um Rühle und der Freien Arbeiterunion Deutschlands (Syndikalisten) (FAUD(S)), in der bspw. Rudolf Rocker eine starke Position hatte.

Wir wollen hier abbrechen und nicht weiter dozieren, sonst verlaufen wir uns noch in diversen Anekdoten der Organisations- und Spaltungsgeschichte des Links- und Räte-Kommunismus. Wir sehen für uns weiterhin Bezugspunkte in diesem Teil der Widerstandsgeschichte der revolutionären Linken, ohne allerdings in einen Idealismus zu verfallen, für den es angesichts des Niedergangs dieser Strömung innerhalb der kommunistischen Weltbewegung keinen Anlass gibt.

Um auch an diese eure Frage einen weiteren Anknüpfungspunkt zu setzen, erklären wir gleich unser Verhältnis zum ‘ML-Stempel’, der uns und anderen, die als KommunistInnen politisch und mitunter militant agieren, aufgedrückt wird. Dabei bedienen wir uns in weiten Teilen einer Position der GenossInnen der Militanten Antiimperialistischen Gruppe – Aktionszelle Pierre Overney -, die im Rahmen der Militanzdebatte im September 2003 formuliert wurde: „Wir bezeichnen uns selbst als KommunistInnen, da wir nicht für ein von bestimmten InterpretInnen gezimmertes ‘Lehrgebäude Marxismus-Leninismus’, sondern für einen gesellschaftlichen Zustand, den Kommunismus, kämpfen. Diese inhaltlich und praktisch zu erkämpfende Perspektive einer klassen- und staatenlosen sowie unterdrückungs- und ausbeutungsfreien Gesellschaft ist zugleich unser ideologischer Ausgangspunkt
(...) wir (haben) erwähnt, dass der Begriff ‘Marxismus’, den Marx zu Lebzeiten ablehnte!, von Kautsky zwar nicht erfunden, aber wesentlich in den Diskurs eingebracht wurde. Der Begriff ‘Leninismus’ wurde als positive Kategorie, vormals war er eine verächtliche Bezeichnung für die AnhängerInnenschaft Lenins, von Stalin in die Debatte geworfen: ‘Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution’ (aus: Über die Grundlagen des Leninismus).

Der Begriff ‘Marxismus-Leninismus’ hat des weiteren eine recht wechselvolle Geschichte. Zum einen galt er nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und der einsetzenden ‘Ent-Stalinisierung’ als Beitrag der Re-Theoretisierung der kommunistischen Weltanschauung und Abkehr vom ‘Personenkult’ um Stalin. Die Partei der Arbeit Albaniens unter Enver Hoxha und die KP Chinas unter Mao verwendeten den Begriff ihrerseits als Abgrenzung und ‘Waffe’ gegen den ‘Sozialimperialismus’ oder ‘Sozialfaschismus’ der Sowjetunion. Wie dem auch sei, unser Begriff ist er nicht.“ Eine Position, die wir für uns selbst angenommen haben und vertreten: wir sprechen vom kommunistischen Kampf für eine klassen- und staatenlose Gesellschaftsform und nicht über ein formelhaftes Abstraktum. Allerdings wollen wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, dass wir mit dieser Position vom wissenschaftlichen Sozialismus zur utopistischen Phantasterei zurückkehren. „Der Marxismus“, so der junge Leo Trotzki, „hat aus dem Sozialismus eine Wissenschaft gemacht. Das hindert manche ‘Marxisten’ nicht, aus dem Marxismus eine Utopie zu machen.“ Richtig. Über die real existierende kapitalistische Barbarei, über den Inhalt der Diktatur des Proletariats, über die sozio-ökonomischen Voraussetzungen der Übergangsphase des Sozialismus und über den Übergang zum Kommunismus ist selbstredend „wissenschaftlich“ zu argumentieren. Aber nicht im Sinne auswendig zu rezitierender Aussagen der marxistischen KlassikerInnen, sondern im Sinne einer Erkenntnisgewinnung im Zuge der „theoretischen Praxis“ (Louis Althusser).

radikal: OK, jetzt sehen wir klarer, wie ihr euch ideologisch einordnet.
Greifen wir gleich einmal das Thema der Militanz-Debatte auf. Die Militanz-Debatte ist unserer Ansicht nach seit etwa 2 Jahren zum Stillstand gekommen. Einzelne Versuche der Wiederbelebung schlugen schon deshalb fehl, weil sie nicht an das anschlossen, was in den Jahren zuvor erarbeitet worden ist. An dem Punkt sind wir uns vermutlich einig.
Gibt es eures Erachtens dennoch einige zentrale Aspekte aus dem jahrelangen Diskussionsverlauf, die man festhalten und den nachrückenden Militanten als Rüstzeug in die Hand geben kann? Oder muss man übermorgen alles wieder von vorne aufrollen, um dann möglicherweise doch wieder im Nichts zu enden?

mg: Um mit dem ersten Teil der Frage anzufangen: Ohne an dieser Stelle einen ‘wissenschaftlich’ ermittelten statistischen Wert vorlegen zu können, glauben wir, dass wir in Intervallen mit „einzelnen Versuchen der Wiederbelebung“ einer Debatte um Militanz, militante Praxis und militante Politik zu rechnen haben werden. Das wäre für uns als revolutionäre Linke dann kein Problem, wenn es gelänge, an das inhaltlich erarbeitete Erkenntnisniveau anzuschließen, sich als probat herausgestellte Aktionsformen auszureifen, die organisatorische Umsetzung eines strukturellen Aufbaus revolutionärer Projekte als real existierende Vorlage weiterzuentwickeln und dieses komplexe Ganze reproduktiv abzusichern sowie darüber zur Diskussion und auf die Probe zu stellen. Bislang finden wir in den zurückliegenden Debattenfragmenten um Militanz und revolutionäre Politik dafür kein positives Beispiel, bei dem diese vier Komponenten wie in einem Brennglas zusammengezogen worden wären. Das ist der springende Punkt, der erst gesetzt werden kann, wenn wir eine vermittelte Kontinuität und Konstanz revolutionärer Politik in ihrer Allgemeinheit zu organisieren wissen, aber vor allem auch eine konkrete Kenntnisweitergabe von vergangenen oder aktuell tätigen politisch-militärischen Projekten gewährleisten.

D.h., eine Fortsetzung einer intensiv geführten Debatte um Voraussetzungen, Mittel und Wege sowie die Perspektiven von revolutionärer Politik wäre nicht nur zu begrüßen, sondern folgerichtig, wenn man mit einer organisierten Gegenbewegung auf den ‘Strom der Zeit’ effektvoll prallen will. Allerdings setzten wir, um in einem einigermaßen überschaubaren Zeitraum zu denken, seit dem Ende des Erosionsprozesses von bewaffneten und/oder militanten Zusammenhängen (Rote Armee Fraktion (RAF), Revolutionäre Zellen (RZ)/Rote Zora, antiimperialistischen zelle) von Anfang/Mitte der 90er Jahre wenig bis nichts fort, sondern taumeln und wanken um die selben Fragestellungen herum, ohne uns erkennbar von der Stelle zu bewegen. Wir nehmen leider nur in Ausnahmefällen das Vergangene an revolutionärer Politik mit und das Gegenwärtige auf, um es ebenfalls mit ins Gepäck zu nehmen. Eine Zustandsbeschreibung, die wir in der einen oder anderen Art und Weise bereits vor Jahren mehrmals zu Papier gebracht haben, wir wissen das.

Die Diskontinuitäten selbst innerhalb eines Segments der revolutionären Linken sind zu groß, als dass es so ohne weiteres gelingen könnte, eine Bezug nehmende und aufeinander aufbauende inhaltliche Auseinandersetzung unter strukturell nicht miteinander vernetzten klandestinen Kernen führen und aufrecht halten zu können. Die Ungleichzeitigkeiten, von denen wir schon einige Male gesprochen haben, sind ein stärkerer Hinderungsfaktor für eine ergebnis- und zielgerichtete Debatte, als wir anfangs und mittendrin wahrhaben wollten. Eine solche von uns anvisierte Debatte lässt sich schlicht und einfach nicht herbeischreiben und schon gar nicht herbeiwünschen. Zumal wir offensichtlich über kein geeignetes und repräsentatives publizistisches Forum verfügen, mit dem und durch das unsere immanenten Defizite in der Streit- und Debattenkultur gelindert werden könnten. Deshalb setzen wir auch sehr auf euer „Postillen“-Projekt mit dem entsprechenden „Traditionshintergrund“! Hier sehen wir augenblicklich (und hoffentlich über den Augenblick weit, weit hinaus) einen Ansatz, der das publizistische Forum als Aufhänger eines Organisierungsprozesses versteht; das ist ganz in unserem Sinne und wird nicht nur deshalb von uns tatkräftig unterstützt.

Was wollen wir damit sagen, wenn wir von den scheiß Schwierigkeiten einer konzentrierten Debattenführung sprechen? Vor allem: Erfahrungen lehren halt! Wir sind überhaupt nicht erfahrungsresistent – im Gegenteil. Das Minimum, das sich allerdings als aktuelles Maximum zeigt, ist, dass eine vermittelte Kontinuität revolutionärer Politik in ihrer Allgemeinheit und eine konkrete Kenntnisweitergabe spezifischer Organisationsgeschichten nur in und über kleine Zirkel stattfindet. Auch das haben wir zu konstatieren, ob wir wollen der nicht. Dies wiederum impliziert einige Konsequenzen.

Die Debatte um Fragen und Voraussetzungen von Militanz, militante Praxen und militante Politik, die sich im Jahre 2001 entfaltete, hat zumindest, und das ist im Ergebnis positiv zu bewerten, eine Art Bausatzkasten für klandestine Kerne schriftlich niedergelegt. Und die in diesem schriftlich niedergelegten Bausatzkasten enthaltenen inhaltlichen, praktischen, organisatorischen und reproduktiven Aspekte von Militanz sind partiell einer Wirklichkeitsprüfung unterzogen worden. D.h., dass aus dem „Militanz-Steinbruch“ das herausgebrochen werden kann, was für eine eigene klandestine Praxis benötigt wird. Was sollen wir sagen? Das ist vor dem Hintergrund der selbst gestellten Ansprüche natürlich eine (er-)nüchterne Bilanz, aber wenigstens eine, die sich ziehen lässt.

Des weiteren haben wir mit unseren Initiativen militanter Politik einige (Denk-)Prozesse ausgelöst, die sich stärker konzeptionell mit dem Komplex Militanz befassen. Militante Politik wird dabei als ein in einen strukturell-organisatorischen Gesamtrahmen zu stellendes Konzept nicht nur gedacht, sondern umgesetzt. Dazu gehört, es drängt sich förmlich auf, die Frage nach der Realisierungschance einer Koordination strukturell vernetzter klandestiner Kerne, die auf allen Ebenen abgestimmt, eine potenzierte Interventionsfähigkeit entwickeln und sich zu einem „eigenständigen Faktor“ ausbilden. Kurzum: die Etablierung einer militanten Plattform ist aktuell, d.h. alles andere als vom Tisch, sondern durch die sympathisierenden GenossInnen und klandestinen Strukturen, die sich mit uns in diesen Kontext stellen wollen, anzugehen. Die eigenverantwortlich-kollektive Initiative ist jetzt systematisch zu ergreifen!

Der Knackpunkt der aus dem Verlauf der Militanzdebatte für uns zu ziehen ist, ist, dass wir keine auf den Militanz-Komplex fokussierte und damit reduzierte Debatte führen können (dazu haben wir in unserem Text „Abschlussworte zur Militanzdebatte“ bereits einiges gesagt), ohne den gesamtorganisatorischen Kontext zu vernachlässigen. D.h., die Militanzdebatte muss in eine thematisch breitere Organisationsdebatte eingeführt bzw. eingefügt werden. Welche Diskussionen um welche organisatorischen Vorstellungen wir damit umreißen wollen, werden wir in einigen folgenden Fragen zu beantworten versuchen.

Lasst uns aber noch auf unser erstes schriftliche Interview mit euch zurückkommen; wir schrieben: „Wir haben bereits in früheren Texten erklärt, dass wir nicht des Prestiges wegen an unserem Label hängen. Im Gegenteil, wir sehen diesen eher ‘technischen’ Namenszug kritisch, da er vordergründig eine Praxisform und nicht eine ideologische Ausrichtung transportiert. Für den Plattformprozess dokumentiert dieser Gruppenname das zentrale Moment der Strukturierung militanter Zusammenhänge, mehr aber auch nicht. Wir werden nicht auf ewig unter diesem Label agieren, es wird Ausdruck einer (noch nicht abgeschlossenen) Phase sein.“

Wir haben bereits sehr frühzeitig mehrere Aspekte umrissen, die die bewusste Entscheidung für eine kontinuierliche Namensgebung problematisieren. Was den „technischen Namenszug“ betrifft, war es eine unserer wichtigsten Intention, Militanz nicht nur als eine spezifische Praxisform zu definieren, sondern als ein Widerstandsfeld, dass sich durch einen eigenständigen Charakter auszeichnet und auf Sicht zu einem eigenständigen Faktor im Rahmen eines komplexen revolutionären Aufbauprozesses entwickelt wird. Letzteres über einen dreifachen Weg: die strukturelle und personelle Basis des eigenen klandestinen Zusammenhangs stärken, eine strukturelle Vernetzung mit anderen militanten Kernen als Ergebnis einer exakten und zeitintensiven politischen Auseinandersetzung anstreben und darüber hinaus bspw. mit Hilfe einer organisierten Diskussion in einem entsprechenden Forum auf ein inhaltliches Zusammenkommen von klandestinen Gruppenzusammenhängen hinarbeiten. Diese drei Optionen, die eine Stärkung von militanter Politik bedeuten können, haben aus unserer Sicht und nach den Erfahrungswerten, die wir in den vergangenen Jahren sammeln konnten, eine Allgemeingültigkeit. Der Schlüssel liegt für uns, um das einige Zeilen weiter oben Ausgeführte aufzugreifen, aber darin, dass wir uns auch nicht begrifflich-namensspezifisch in dem „Mikrokosmos Militanz“ einrichten, sondern unsere eigentliche proletarisch-klassenpolitische Linie organisatorisch auszudrücken verstehen. Dazu gehört, als ein Aspekt, eine kontinuierliche Namensgebung zu finden, die nicht „technizistisch“ ist, denn die Möglichkeit und Notwendigkeit einer fundamentalen Gesellschaftsveränderung zu dokumentieren weiß.

radikal: Um an die eben gestellte Frage anzuknüpfen: Eure Texte behandeln wiederholt das Thema „Partei-Form“. In verschiedenen Beiträgen zur Militanzdebatte habt ihr bereits einige Partei-Modelle skizzenhaft umrissen und voneinander abgegrenzt. Was versteht ihr unter einer Partei-Form, und welche Aufgaben hat diese zu erfüllen?

mg: Bereits in unserem ersten schriftlichen Interview mit euch seit ihr auf das “Reizwort revolutionäre Parteistruktur oder Partei-Form“ in einer Frage zu sprechen gekommen. Schön, dass euch dieser organisatorische Aspekt, heute würden wir sagen, zentrale Aspekt einer revolutionären Organisierung so bedeutungsvoll erscheint wie uns. Wir deuten also gleich zu Anfang an, dass sich da bei uns einiges getan hat. Bevor wir allerdings darauf näher eingehen werden, wollen wir noch einmal kurz auf unser erwähntes früheres Interview zurückblenden und das hervorholen, was wir damals zum Themenkomplex ‘Partei-Form’ vom Stapel gelassen haben, um den Kontext zu unseren jetzigen Ausführungen einfach nachvollziehbarer zu machen.

Also: „Nun kommen wir noch kurz zum Stolperstein ‘Partei’. In einigen kritischen Beiträgen zur Militanzdebatte ist die ‘organisatorische Figur ‘Partei’’, wie Ihr sie nennt, gerne aus dem eben geschilderten ‘komplexen revolutionären Aufbauprozess’ herausgebrochen worden. Allein das Erwähnen der Organisationsform ‘Partei’ treibt einige zu szenetypischen Beißreflexen, die wir – wir geben es zu – erwartet und ein bisschen provoziert haben.

Es ist erforderlich, wenn man zu einer vorurteilsfreien Beurteilung von ‘Partei’ kommen möchte, die eigene mit negativen Assoziationen gespickte Gedankenwelt zur Thematik ‘Partei’ gründlich zu entrümpeln. Denn ein Verweis auf die zumeist studentischen Kabarettvereinigungen, die sog. K-Gruppen, als Ausläufer von 68 reicht nicht aus, um dem tief in der Geschichte der revolutionären verwurzelten Phänomen ‘Partei’ auch nur annähernd gerecht werden zu können. An dieser Stelle nur soviel: ‘Partei’ als politischer Ausdruck der revolutionären Linken ist seit dem ersten, wichtigen Dokument der sich formierenden KommunistInnen (Manifest der Kommunistischen Partei, fälschlich oft als ‘Kommunistisches Manifest’ sinnentstellend verkürzt) ein zentrales Element der Frage, wie sich (fundamental-)oppositionelle Bestrebungen eine abgestimmte sowie kollektive Stimme in inhaltlicher, praktischer und organisatorischer Hinsicht verschaffen können. ‘Partei’, verstanden als Synonym für ein Koordinationszentrum, bildet in vielen revolutionären Gesamtorganisationen und Befreiungsbewegungen den ideologischen und strukturellen Kitt zwischen den einzelnen Gliederungen. Im Detail lassen sich sehr viele, widersprüchliche Definitionen von Partei-Formen finden. Wir haben in anderen Texten darauf verwiesen. Z.B. finden sich in linkskommunistischen Organismen interessante Debatten über die Bedeutung und Rolle einer Partei-Form, auch das Modell einer Kämpfenden Kommunistischen Partei ist unter revolutionären Organisationen bis tief in die 90er Jahre ein Thema der Auseinandersetzung gewesen.

Wir wollen uns jedenfalls nicht unreflektiert aus solchen Überlegungen von GenossInnen anderswo ausschließen. Wir können beruhigen, zu einem ‘komplexen revolutionären Aufbauprozess’ gehört auch, Prioritäten zu setzen. Die Frage nach einer praktisch umzusetzenden Partei-Form gehört, soweit wir das überschauen können, nicht zu den aktuell brennendsten.“

Eine Aussage unsererseits, die fast fünf Jahre her ist und um mehrere Aspekte erweitert werden muss. Wir wollten sie dennoch an dieser Stelle zitiert haben, um daran direkter anschließen zu können.

Es macht unserer Ansicht nach Sinn, einige ExponentInnen von Partei-Modellen anzuführen, die jeweils auch für eine bestimmte Strömung innerhalb der revolutionären Linken stehen. Fangen wir mit einem Interpreten an, der aus der Sozialdemokratie kommend, als einziger neben Karl Liebknecht (im dritten Anlauf) gegen die Kriegskredite in der SPD-Reichstagsfraktion gestimmt hat und nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg in Etappen zu einem der profiliertesten Anhänger des Rätekommunismus wurde: Otto Rühle. „Die Revolution“, so Rühle, „ist keine Parteisache (...) (sondern sie) ist die politische und wirtschaftliche Angelegenheit der ganzen proletarischen Klasse.“ Rühle erblickte in der Partei-Form „im Grunde nicht eine Organisationsform des Proletariats, sondern der Bourgeoisie.“ Die KAPD und KAPN definierte er paradox als „neue kommunistische Partei, die keine Partei mehr ist.“ Mitte der 20er Jahre agitierte er noch pointierter gegen die „Parteisache“: „Eine Partei mit revolutionärem Charakter im proletarischen Sinne ist ein Unding. Sie kann nur revolutionären Charakter im bürgerlichen Sinne haben und da nur an der Wende zwischen Feudalismus und Kapitalismus.“ Ja, so der Kollege Rühle, der nach seinem Ausschluss aus der KAPD wegen ‘syndikalistischer Tendenzen’ maßgeblich die proletarische Einheitsorganisation, die Allgemeine Arbeiter Union - Einheitsorganisation (AAU-E) prägte, in der der politische und wirtschaftliche Kampf des Proletariats, der nach sozialdemokratischer Manier in sozialreformerische Partei und sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften aufgespalten war, zusammengeführt werden sollte.

Einer der ehemaligen Hauptvertreter der deutsch-holländischen Linken vor und während des ersten imperialistischen Weltkrieges, Anton Pannekoek, liefert in seiner eher rätekommunistisch geprägten Phase in den 40er Jahren eine relativ a-typische Interpretation des Verhältnisses von Räten und proletarischer Partei, die aber für uns deshalb auf Interesse stößt, weil sie von der ‘rätistischen’ Negation einer Partei-Form wegkommt: „Die arbeitenden Massen können ihre Freiheit nur durch die eigene organisierte Aktion gewinnen, indem sie mit hingebungsvoller Anstrengung und mit allen ihren Fähigkeiten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und mittels ihrer Räte ihren Kampf selbst führen und ihre Arbeit selbst organisieren. Den Parteien bleibt (...) die Verbreitung von Kenntnissen und Wissen sowie das Studium, die Diskussion und die Formulierung sozialer Ideen, um durch ihre Propaganda die Massen verstandesmäßig aufzuklären. Die Arbeiterräte sind die Organe der praktischen Aktion und des Kampfes der Arbeiterklasse; den Parteien kommt die Aufgabe zu, die geistige Kraft zu entwickeln. Ihre Arbeit ist ein unersetzbarer Bestandteil der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse.“

Wir haben den Anspruch, verstautes und verstaubtes theoretisches Material aus den Nachlasskellern zu holen, zumal wenn wir es für dringlich halten, dass wir uns damit auseinandersetzen. Wir reden z.B. von Amadeo Bordiga und der Frühphase der Kommunistischen Partei in Italien. Bordiga ist im Gegensatz zu Antonio Gramsci in der revolutionären Linken der BRD fast ein Namenloser. Völlig zu Unrecht. Er galt sozusagen als „linke“ Gegenkraft zu Gramsci und ist für die LinkskommunistInnen insgesamt einer der zentralen Theoretiker. Mit der Parteitheorie Bordigas, die er Anfang der 20er Jahre formuliert hat, verbindet sich ein enges parteipolitisches Konzept. Jene, die Bordiga nicht sonderlich wohlgesonnen sind, sprechen gern von einem „Partei-Fetischismus“, den er zelebrieren würde. OK, das werden wir hier nicht weiter diskutieren; wir beschränken uns auf die Grundlinien seiner Partei-Konzeption. Zum allgemeinen Verhältnis zwischen Partei und Klasse schreibt Bordiga in Anlehnung an Komintern-Beschlüsse des II. Kongresses von 1920: „die Klassenpartei (kann) nur einen Teil der Klasse in ihre Reihen aufnehmen – nie die ganze Klasse und wohl nie ihre Mehrheit.“ Und weiter heißt es: „Diese Minorität ist eben die Partei. Hat diese eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht, was sicher nicht ohne Stockungen, Krisen, interne Konflikte, vor sich gehen kann, können wir von einer kämpfenden Klasse sprechen. Auch wenn die Partei nur einen Teil der Klasse umfasst, gibt doch erst sie ihrem Handeln und ihrer Bewegung die Einheit, weil in ihr jene Elemente zusammentreffen, die die bornierten lokalen und Berufsschranken überwunden haben, und die die Klasse fühlen und darstellen.“

Zur „avantgardistischen“ Rolle der Partei im Kontext des Klassenkampfes führt Bordiga aus: „Die grundlegende Tatsache“ ist, so Bordiga, „dass die Partei nur ein Teil der Klasse ist (...) Wenn jemand das unbewegliche und abstrakte Bild der Gesellschaft betrachtet und darin einen Ausschnitt, die Klasse, und darin wiederum einen kleinen Kern, die Partei, fixiert, wird er natürlich sagen, dass der außerhalb der Partei stehende Teil der Klasse, der fast immer die Mehrheit ist, mehr Raum einnimmt, größeres ‘Recht’ hat. Denkt man aber daran, dass die Individuen in dieser großen Masse noch kein Klassenbewusstsein, noch keinen Klassenwillen haben, dass in ihrem Leben der Egoismus, der jeweilige Beruf, die jeweilige Region oder auch Nation, bestimmend sind, wird man einsehen, dass, um in der historischen Bewegung das einheitliche Handeln der Klasse zu verankern, ein Organismus notwendig ist, der sie belebt, sie zusammenschweißt, präzise: sie gliedert; man wird dann in der Partei den wirklichen Lebenskern erkennen, ohne den es sinnlos wäre, die große Masse als geballte Kraft zu bezeichnen.“

Der „Bordigismus“ setzt die organisatorische Keimzelle der Partei, die programmatischen Grundlinien und die Taktiken, an erste Stelle, denn „es sind Lehre und Kampfmethode, durch die eine Partei lebt. Sie ist die Schule der politischen Denkweise und damit eine Kampforganisation. Ersteres betrifft das Bewusstsein, letzteres den Willen, oder genauer, die Zielsetzung.“ Demnach „(braucht) die Revolution einen Organismus aktiver und positiver Kräfte, die durch Lehre und Zielsetzung gebündelt werden“, also die Partei, so Bordigas Quintessenz.

Weniger zu einem organisatorischen Parteiaufbau, als mehr zu Kriterien eines Partei-Innenlebens wollen wir jetzt überleiten. Auch die vermeintlichen Protagonisten des (Partei-)Dogmatismus haben erstaunlich oft gegen entsprechende Verkrustungen innerhalb der Parteiorganisation agitiert und agiert. Ein Beispiel: Kein geringerer als Mao Tse-tung hat in einer Rede vor Parteikadern bereits während des antikolonialen Befreiungskrieges gegen die japanischen Invasoren „Gegen den schablonenhaften Parteistil“ Stellung bezogen. Acht Merkmale hebt er hervor, um „das Gift des Subjektivismus und Sektierertums, das sich im schablonenhaften Parteistil verbirgt, kenntlich zu machen. Dazu zählt er u.a. das Dreschen leerer Phrasen und inhaltsloses, gegenstandsloses Gerede, das dazu dienen soll, sich fälschlich Autorität anzumaßen, um bspw. parteiinterne KritikerInnen durch das Abbrennen begrifflicher Nebelkerzen einzuschüchtern und zu verunsichern.

Eine nach außen hin gerichtete propagandistische Tätigkeit läuft dann ins Nichts, „wenn einer (...) drauflosschwatzt, ohne das Objekt seiner Propaganda untersucht, studiert und analysiert zu haben, dann wird er niemals etwas erreichen.“ Ein weiteres „Vergehen des schablonenhaften Parteistils“ sieht Mao in der mechanischen Einordnung von bestimmten Problemlagen innerhalb der Partei oder im gesellschaftlichen Kontext und in den formalistischen Lösungsmethoden, die eine wirkliche Problemanalyse unterlaufen. Des weiteren sind „schlechte Gewohnheiten, wie mangelhaftes Verantwortungsbewusstsein“ abzulegen, denn es ist darauf zu achten, politische Arbeit vorbereitet und reflektiert zu unternehmen, besonders dann, wenn sie dazu bestimmt ist, anderen etwa spezifische Sachverhalte zu vermitteln.

Wir müssen nicht unbedingt AnhängerInnen der Mao Tse-tung-Ideen bzw. des sog. Maoismus sein, um diesen Ausführungen einiges abgewinnen zu können. Wichtig ist für uns, wenn wir von der „Entrümpelung“ der szenetypischen Gedankenwelt u.a. hinsichtlich von Partei-Formen sprechen, dass wir z.B. das erste „Vergehen“ unterlassen und darauf verzichten, „leere Phrasen“ für eine Grundlage einer kenntnisreichen Urteilskraft zu halten.

Wir werden jetzt einen Cut machen, sonst ufert unsere Antwortprosa auf diese aber auch wirklich breit angelegte Frage völlig aus. Wir fassen zusammen: Unsere weitergehende und in Teilen vertiefte Beschäftigung mit dem Komplex Partei-Form ging und geht zum einen in die Richtung, sich einen möglichst dezidierten (historischen) Überblick über Modelle einer parteimäßigen Organisierung und ihren Voraussetzungen zu verschaffen. Einen Gutteil des Panoramas, dessen Spannbreite hier deutlich wird, überblicken wir ja bereits. Zum anderen zielt unsere Orientierung auf Projekte, die u.a. als bewaffnete Organisationen auf den Prozess einer Parteibildung setzten bzw. weiterhin setzen. Auch das haben wir angeschnitten.

radikal: Gut, wir haben von euch jetzt einen historischen Abriss über Partei-Modelle dargestellt bekommen. Informativ. Trotzdem ist es aus unserer Sicht noch etwas früh für einen ‘Cut’. Wir möchten euch nämlich eine ‘parteipolitische’ Orientierung entlocken. Auf welche revolutionären Organisationen, die sich in ihrem strukturellen Geflecht eine ‘Partei-Form’ gegeben haben, bezieht ihr euch? Und wo liegt die Grenze zwischen einer Bezugnahme und der Suche nach einer Kopiervorlage?

mg: Ihr habt recht, im Subtext unserer Ausführungen schwingen die Modelle revolutionärer Organisation mit, deren Zentrum (perspektivisch) parteiförmig strukturiert sein soll. Ihr wollt, dass wir uns an diesem Punkt stellen; dazu habt ihr als fragendes Kollektiv auch ein Recht. Als Bezugsquellen (nicht als „Kopiervorlagen“!) nennen wir die Gruppierungen, die von uns bereits in früheren Stellungnahmen zumindest als Namenszug auftauchten: rekonstruierte Kommunistische Partei Spaniens PCE/r und Antifaschistische Widerstandsgruppe 1. Oktober (Grapo), Kämpfende Kommunistische Zellen (CCC), Rote Brigaden/Kämpfende Kommunistische Partei (BR/PCC) und Kommunistische Partei politisch-militärisch (PC p-m).

Als besagte Bezugsquellen sind insbesondere die aktuell kämpfenden Organisationen PCE/r und Grapo im spanischen Staat sowie die PC p-m in Italien in den Blickwinkel zu nehmen. Beide Gruppierungen blicken auf eine Jahrzehntelange inhaltlich-praktisch-organisatorische Entwicklung zurück, liefern einen Fundus für die revolutionäre Linke weltweit. Für uns als klandestiner Gruppenzusammenhang, der für die ideologische Ausrichtung, die praktische Artikulation und die organisatorische Strukturierung einer konkret werdenden kommunistischen Perspektive kämpft, sind diese politisch-militärischen Organisationen Orientierungspunkte für einen komplexen revolutionären Aufbauprozess, was selbstredend nicht heißt, dass sie als Vorlage für eine 1 zu 1-Übertragung fungieren könnten.

In den mehr oder weniger organisierten Polit-Zusammenhängen der revolutionären Linken in der BRD entwickelte sich eine internationalistische Diskussion um Konzeptionen des vielschichtigen Widerstandskampfes zumeist nur episodenhaft und weist keine tatsächliche Kontinuität auf. Kaum verwunderlich, wenn es nicht einmal gelungen ist, die Widerstandsgeschichte der revolutionären Linken in der BRD den nachrückenden Generationen adäquat vermittelt zu haben. Dieses Manko muss sich faktisch zwangsläufig potenzieren, wenn es um die Vermittlung des revolutionären Kampfes über die Landesgrenzen hinaus geht. Umso wichtiger im Rahmen der von uns proklamierten Wiederaneignung der Widerstandsgeschichte der revolutionären Linken die internationalistische Dimension klar und deutlich herauszuarbeiten. Damit schließen wir ausdrücklich an das Motto „Die Zukunft erobern bedingt die Kenntnis der Geschichte!“ der gefangenen Militanten für die Konstituierung der PC p-m an.

Wir gehen davon aus, dass die Konzeptionen der beiden von uns hier hervorgehobenen politisch-militärischen Gruppierungen innerhalb der revolutionären Linken in der BRD nur bedingt geläufig sind. Die PCE/r und Grapo standen immer im Windschatten des durch die ETA repräsentierten sozialen und nationalen Befreiungskampfes der BaskInnen im spanischen und französischen Staat. Eventuell ist einigen der unsere Antwort Lesenden die Debatte um den „antiimperialistischen Frontprozess“ aus Mitte der 80er Jahre in Erinnerung, in dem es u.a. um die Etablierung einer „westeuropäischen Guerillafront“ ging. Die GenossInnen aus dem spanischen Staat standen dieser Initiative nicht nur äußerst skeptisch, sondern explizit ablehnend gegenüber. Ihr zentraler Debattenbeitrag war z.B. mit „Zwei unvereinbare Linien innerhalb der europäischen revolutionären Bewegung“ betitelt. Dabei sprechen sie von der „Existenz von unvereinbaren Divergenzen (in der Einschätzung des Charakters der Revolution in Europa, des proletarischen Internationalismus, der politischen Organisierung der Massen, der Rolle und den Zielen des bewaffneten Guerillakampfes, der Strategie und Taktik etc.)“ und nicht lediglich von dem Pro & Contra „der Rekonstruktion der Kommunistischen Partei“.

Die italienischen GenossInnen der PC p-m dürften bestimmt noch weniger im „linksradikalen Bewusstsein“ in diesen Breitengraden verankert sein, auch wenn sich das aufgrund des laufenden politischen Prozesses gegen Militante dieser Organisation zu ändern beginnt. Die Ursprungsorganisation Rote Brigaden (Brigate Rosse) sollte dagegen noch um einiges präsenter sein. Mit dieser sollte die relative Verankerung militanter und halb-klandestiner proletarischer Politik Anfang der 70er Jahre in den Großfabriken der Automobilindustrie im Norden Italiens zu verbinden sein. Die Entführung und Liquidation des Chefs der Christdemokraten von der DC im Jahre 1978, Aldo Moro, um den historischen Kern der BR um Renato Curcio frei zu bekommen, gilt ebenfalls als markantes Ereignis in der BR-Geschichte. Die Umorientierungsprozesse Anfang der 80er Jahre und die Fraktionierung in BR/PCC (Rote Brigaden/Kämpfende Kommunistische Partei), UCC (Vereinigung Kämpfender Kommunisten) und (weit weniger bekannt) PG (Guerilla-Partei) sind, so unser Eindruck, nahezu unbekannt. Einen gewissen Bekanntheitsgrad setzen wir bei den BR/PCC voraus, die im Kontext der angesprochenen „westeuropäischen Guerillafront“ eine Kooperation mit der RAF und der Action Directe (AD) aus dem französischen Staat eingegangen sind.

radikal: Vielleicht nutzt ihr die Gelegenheit, um an dieser Stelle die Entwicklungsgeschichte und Konzeption von der PCE/r sowie den Grapo bzw. die PC p-m näher zu beleuchten. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass sich unsere LeserInnen hierdurch motiviert fühlen, selbst in die Auseinandersetzung einzusteigen und die Politik dieser Gruppierungen kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wie sehen also die Entwicklungslinien dieser Organisationen aus, und an welchen Punkten seht ihr konzeptionelle Übereinstimmungen mit eurer eigenen Orientierung?

mg: Wir gehen gerne auf diese Frage ein; wollen aber vorausschicken, dass wir nicht den Anspruch erheben, diese Gruppierungen bis in jede organisationsgeschichtliche Verästelung nachzeichnen zu können. Dafür dürfte auch ein Interview nicht das richtige literarische Forum sein. Als Einstieg der Beschäftigung sind unsere Ausführungen hoffentlich dennoch brauchbar. Damit sie nicht nur brauchbar, sondern auch von der Länge her überschaubar sind, werden wir uns aber auf die PC p-m konzentrieren müssen. Wir wollen es auch deshalb, weil wir den Eindruck gewonnen haben, dass infolge der angesprochenen politischen Prozessführung und der regelmäßigen inhaltlichen Beiträge der Genossen, die sich explizit als PC p-m-Mitglieder äußern, ein verstärktes Interesse zu registrieren ist. Dem wollen wir nachkommen, was überhaupt nicht heißt, dass es nicht für uns als revolutionäre Linke wichtig ist, sich intensiv mit der PCE/r und Grapo konstruktiv auseinander zu setzen.

Die GenossInnen, die für den Aufbau der Kommunistischen Partei politisch-militärisch (PC p-m) stehen, kommen aus unterschiedlichen Strömungen der revolutionären Linken Italiens. Im Vorwort der Nullnummer ihrer klandestinen Zeitschrift L’ Aurora schreiben sie: „Die GenossInnen, VerfasserInnen dieser Broschüre, obwohl von verschiedenen organisatorischen Erfahrungen kommend, sind heute im gemeinsamen Ziel, dem Aufbau einer wirklichen kommunistischen Partei, vereint.“

Ihr organisatorischer Hauptbezugspunkt liegt aber in der BR/PCC, die formell im Oktober 1981 nach der Abspaltung der BR-Partito della Guerriglia (BR-PG) aus den BR hervorgegangen war. Im Zuge des sog. Strategischen Rückzugs 1982 orientierten sich die BR/PCC am Modell des Aufbaus einer westeuropäischen antiimperialistischen Guerillafront. Diese Konzeption ist im sog. Mai-Papier der RAF 1982 veröffentlicht worden. Insbesondere die Action Directe (AD) hat sich in dieses Projekt bis zu ihrer faktischen Zerschlagung im Februar 1987 eingebracht. Im Verlauf des Jahres 1984 wurde der interne Linienkampf in den BR/PCC ideologisch ausgetragen. Die Minderheitsfraktion, die sich überwiegend aus Angehörigen der Strategischen Direktion der BR/PCC rekrutierte und etwa ein Drittel der Militanten stellte, wurde im Oktober 1984 aus der Organisation ausgeschlossen und bezeichnete sich als sog. 2. Position. Die Mehrheitsfraktion behielt den Namen BR/PCC bei, die Minderheitsfraktion nahm die Bezeichnung Vereinigung Kämpfender Kommunisten (UCC) an. 1985 war demnach der Entfremdungs- und Spaltungsprozess innerhalb der BR/PCC abgeschlossen. Die UCC galt nur wenige Monate nach ihrer formellen Konstituierung aufgrund von Festnahmen als zerschlagen.

Der Kernpunkt der Auseinandersetzung zwischen 1. und 2. Position, der letztlich spaltungsverursachend war, lag in der Einordnung des bewaffneten Kampfes im Kontext einer revolutionären Gesamtkonzeption. Ist der bewaffnete Kampf in den westeuropäischen Kathedralen als taktische Methode oder als strategische Linie zu fassen? Ein alter, langer und zäher Konflikt, der bis in unsere Tage reicht. Allerdings ist diese Entweder-Oder-Positionierung in sich oft differenzierter und selten in „Reinkultur“ propagiert. Hintergrund dieser zentralen Kontroverse ist, dass eine falsche Setzung in taktischen, operativen oder strategischen Fragen, die in leichtfertiger Weise, mit arger Unterschätzung der gegnerischen Kräfte und in höchster Überschätzung der eigenen Relevanz dem organisatorischen Zusammenhang Aufgaben auferlegt, an denen dieser elend scheitern muss. Wenn die Organisation sich ohne jede Not in Kämpfe einlässt, die bei richtiger Einschätzung der Kräfteverhältnisse vermeidbar wären, wenn sie hierbei die höchsten Anforderungen an die Mobilisierungsbereitschaft der Mitglieder stellt, ohne irgendwelchen zählbaren Erfolg, wenn sie ihre Kräfte verpulvert, so dass sie schließlich de facto kapituliert, dann wird der Zerfall des organisatorischen Zusammenhangs logisch nicht zur Vermehrung des proletarischen Elans führen, sondern Entmutigung, Indifferenz, ja Misstrauen gegen jedes organisierte Handeln erzeugen.

Ein UCC-Nachfolgeprojekt, in dem sich die 2. Position fortsetzte, firmierte unter der Bezeichnung Zelle für die Gründung der Kämpfenden Kommunistischen Partei (CC/PCC), die bereits Anfang der 90er Jahre mit einem sog. Offenen Brief an die KommunistInnen Italiens herangetreten war. Darin heißt es exemplarisch: „Es kann keine Trennung zwischen Politischem und Militärischem geben; die KKP (Kämpfende Kommunistische Partei, Anm. mg) ist nicht die Rote Armee, wie es auch keine Trennung zwischen Initiative von oben und Initiative von unten der Partei geben kann. Die KKP, auch wenn sie unter den Kriterien der striktesten Klandestinität agiert, muss von Anfang an eine konstante Verbindung in und mit der Klasse haben: Die Militanten der Partei dürfen sich nicht wie Festungssoldaten bewegen, sondern wie Fische im Wasser.“ Diese Aussagen sind das erkenntnistheoretische Resultat, dass es im Rahmen einer (Neu-)Bestimmung revolutionärer Politik nicht mehr darum gehen kann, wie sie schreiben, ausschließlich eine „reine bewaffnete Propaganda“ auf die Agenda zu setzen.

Diese Positionierung setzt sich in dem Projekt der PC p-m fort: Die GenossInnen haben in einer Erklärung zur Liquidation des italienischen Arbeitsrechtlers Biagi durch die BR/PCC im Jahre 2002 ihr taktisches Verhältnis zum bewaffneten Kampf dargelegt: „Oft haben die BR gesagt, dass es ab einem gewissen Niveau keine Rückkehr mehr gibt. Gerade das ist es, was wir nicht verstehen. Es gab ja auch den strategischen Rückzug, oder etwa nicht? Im Allgemeinen sind wir mit dem Ansatz, der dieses operative Modell stützt, das heißt die Strategie des Bewaffneten Kampfes, die Guerillastrategie nicht einverstanden.“ In ihrem Text „Der revolutionäre Weg ist legitim, notwendig, möglich. Die Revolution ist notwendig – die Revolution ist möglich“ aus dem Herbst 2008 fixieren die gefangenen Genossen der PC p-m einen Gegensatz zwischen dem Modell der PCC und dem der PC p-m: „(...) Und schließlich war ein formeller Übergang jener des historischen Bezugs auf die PCC zu dieser neuen Formulierung: PC p-m. Eine Formulierung, die in gewisser Hinsicht dem beschrittenen Weg und dem unterschiedlichen Ansatz zur Überwindung der ursprünglichen Matrix des ‘bewaffneten Kampfes’ subjektivistischer Prägung Rechnung trägt. Effektiv ist PCC die durch die ‘Strategie des bewaffneten Kampfes’, also ‘Guerillastrategie’, ausgedrückte Form. Vom inhaltlichen Gesichtspunkt her heißt PC p-m, den Akzent auf die gesamte Dimension der Auseinandersetzung, auf die notwendige Synthese zwischen den verschiedenen Elementen zu setzen; auf die Tatsache, dass ohne diese Synthese weder die revolutionäre Partei noch Politik bestehen kann; und auf die Tatsache, dass das Politische über dem Militärischen steht und es leitet (...).“

Einleuchtend sollte geworden sein, welchen Stellenwert die Beantwortung dieser Frage im revolutionären Milieu generell hat. In unserem Text „(Stadt-)Guerilla oder Miliz? Nachbetrachtung zum Kongress „Theorie und Praxis der Stadtguerillabewegung – der bewaffnete Kampf als Teil linker und bundesdeutscher Geschichte” (Interim 608 u. 609) haben wir diesen Aspekt bereits gestreift; wir werden künftig expliziter drauf zu sprechen kommen, wollen es aber an dieser Stelle dabei belassen.

Die GenossInnen der PC p-m betonen, dass der organisatorische Aufbau von Grund auf klandestin erfolgen muss. U.a. setzen sie, stark an Lenin anknüpfend, auf einen publizistischen kollektiven Agitator und Organisator, an eine klandestin hergestellte und vertriebene Zeitung. In der Nullnummer der L’ Aurora aus dem Sommer 2002 wird die Klandestinität begründet: „Die Entwicklung eines Propagandainstruments dieser Art ermöglicht uns einerseits unser kommunistisches politisches Projekt vollumfänglich Ausdruck zu geben, andererseits macht es uns politisch bekannt. Weiter trägt es zu unserem organisatorischen Wachstum bei, während wir den richtigen Arbeitsstil der KommunistInnen in dieser Phase der imperialistischen sozialen Formation und der proletarischen Revolution ausarbeiten und anwenden: der klandestine Arbeitsstil. Parteiarbeit ist vor allem klandestine Arbeit, die sich den Blicken der Konterrevolution entzieht (...).“ In einem weiteren Text unter dem Titel „Für die revolutionäre Entwicklung der Klasse. Die Kommunistische Partei in politisch-militärischer Einheit aufbauen“ wird die organisatorische Notwendigkeit der Klandestinität konkretisiert: „Als Konsequenz der revolutionären Strategie zur Machtergreifung ist die Partei durch die historische Entwicklung des Widerspruchs Revolution/Konterrevolution gezwungen, sich für die Klandestinität zu entscheiden. Jene, die heute, in der allgemeinen Krise der imperialistischen Epoche des Kapitalismus, zwar in Betracht ziehen am Aufbau der Partei zu arbeiten, sich aber die Frage ihres klandestinen Charakters nicht stellen, setzen sich weder in Absicht noch Tat in die Lage, den revolutionären Weg zu beschreiten (...).“ In dieser Argumentation finden wir sehr viel von dem wieder, was wir immer verfochten haben. Eine weiterführende Diskussion wäre aber bezüglich der Differenzen zwischen informellen, klandestinen und illegalen/illegalisierten Sektoren des organisatorischen Aufbaus vorzunehmen, um nicht alles unterschieds- und konturenlos in der Begrifflichkeit der Klandestinität aufzulösen Dazu kommen wir aber nicht heute und jetzt.

OK, nach dieser Grobbestimmung des klandestinen Verständnisses vom bewaffneten Kampf der PC p-m noch kurz zu einigen Aspekten. Die gefangenen Militanten für die Konstituierung der PC p-m haben zum Auftakt des Prozesses gegen die drei antimilitaristischen Linken vor dem Berliner Kammergericht im September 2008, denen phantasiereich die Mitgliedschaft in unserer Gruppe nachgesagt wird, eine Solidaritätsbotschaft verfasst. In diesem Text haben sie sich auch auf uns als Gruppenzusammenhang ausdrücklich bezogen. Dabei gehen sie auf unseren bisher projektierten „Dreiklang“ ein, d.h. auf die organisatorische Verbindung der Strukturierung eines Zusammenhangs militanter Kerne (Projekt der Etablierung einer militanten Plattform), der Initiierung, Unterstützung und Forcierung von Basisprozessen und der Schaffung logistischer Voraussetzungen einer bewaffneten Propaganda in der organisierten Form einer (Stadt-)Guerilla oder Milizstruktur. Das, was die Genossen der PC p-m (zurecht) kritisch anmerken, ist unser (zwar nicht fehlender), aber mangelhaft ausgeprägter Bezug zum Aufbau einer revolutionären Parteistruktur. Sie schreiben: „(...) für uns ist grundlegend, dass dieser Prozess seine Erfüllung im Aufbau des wichtigsten Instrumentes findet, die Partei. Aber gerade weil wir denken, dass dieser Prozess sich in der Einheit von Theorie und Praxis, in politischer und militärischer Einheit ergibt, sind für uns alle Beiträge wertvoll, die sich konsequent auf dieses Terrain des authentischen Aufbaus begeben.“ Wir nehmen gerne die solidarische Kritik auf und wir denken, dass wir mit unseren Ausführungen in diesem schriftlichen Interview herausgearbeitet haben, dass wir als revolutionäre KommunistInnen die Grundlagen einer Partei-Form als koordinatorisches Zentrum aus den klassenkämpferischen und internationalistischen Konfrontationen heraus zu schaffen haben. Oder ganz simpel ausgesprochen: Das Ideal einer klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft zu verwirklichen, ist ausgeschlossen, wenn nicht eine organisatorische Zusammenfassung der einzelnen Kräfte der proletarisch-revolutionären Linken erfolgt, die sich dazu bekennen, dass das Ideal „Zustand“ wird. Eine Organisation, die sich den Zweck setzt, diese kapitalistische Klassengesellschaft ihren kommunistischen Zielen entsprechend aus den Angeln zu heben, ist eine revolutionäre Partei in unserem Sinne.

Zu einem weiteren Aspekt in der Programmatik der PC p-m: In dem Text „Der Kampf gegen die Isolation liegt in der Linie der Auseinandersetzung zwischen den Klassen“ wird das dialektische Verhältnis zwischen Masse-Klasse-Partei im kommunistischen Revolutionsprozess skizziert: „Der Knoten liegt im programmatischen Inhalt der Revolution, als Prozess zur Behauptung und zum Aufbau der kommunistischen Produktionsweise, und in den organisierten Formen und Mitteln, um sie zu erreichen, in der angemessenen Praxis. Ideologie, Strategie, politische Linie sind der Inhalt. Die Kommunistische Partei in politisch-militärischer Einheit und die Sowjets sind die Formen und Mittel.“ D.h., Partei und Räte sind die zentralen organisatorischen Momente der proletarischen Revolution, und zwar nicht in der Art und Weise, dass die Partei über den Dingen schwebt und die Massen der Klasse dirigiert. In dem bereits weiter oben erwähnten Text „Der revolutionäre Weg ist legitim, notwendig, möglich. Die Revolution ist notwendig – die Revolution ist möglich“ heißt es dazu: „Die Partei ist, in der Tat, nicht bloß die Protagonistin der Revolution; sie ist es in Einheit und Funktion der revolutionären Mobilisierung der Massen. Partei und Massen sind in der Dialektik der Rollen wesentlich, die sowohl unterschiedlich als auch zusammen notwendig sind. Sobald eine davon fehlt, fehlt diese für den revolutionären Verlauf lebenswichtige Interaktion.“ Und zu den Aufgaben einer sich konstituierenden revolutionären Partei in nicht-revolutionären Zeiten wird weiter ausgeführt: „Wir können sagen, dass die Verwurzelung der Partei in der Klasse nicht eine Voraussetzung zum ‘Politik machen’ ist, sondern eines ihrer Ziele bildet. Die organisierte kommunistische Avantgarde ist vom Anfang ihrer Aktivität an zum Ausdruck der politischen Richtung imstande, vorausgesetzt sie erfüllt diese Rolle, legt das strategische Terrain fest. Während den überwiegend nicht-revolutionären Phasen kann die politische Orientierung ausschließlich als allgemeine Orientierung auf die Klasse hin gemeint sein, und noch nicht als eine wahre und kapillare Massenmobilisierungsfähigkeit. Was aber nicht heißt, dass das weniger wichtig ist. Es ist das, was unter den gegebenen Einschränkungen und objektiven Bedingungen getan werden kann, und es ist die Vorbereitung und Ermöglichung des subjektiven Qualitätssprunges in den revolutionären Phasen. Nach dem leninistischen Prinzip, dass die Partei von den nicht-revolutionären Phasen „profitiert“, um sich zu organisieren.“ Soweit zum Verhältnis zwischen Partei-Klasse-Masse in der Konzeption der PC p-m, in der explizit „die Tendenz zur Idealisierung der Partei“ kritisiert wird.

Das, was wir den GenossInnen der PC p-m anzurechnen haben, ist, dass sie einen verstärkten Blick auf die Ökologiefrage richten. Einen Blick, der oft genug in klandestinen Organisierungen viel zu kurz greift bzw. gar nicht existiert, obwohl die kapitalistische Barbarei mit dem ökologischen Desaster einhergeht.

Beispielhaft ist aus unserer Sicht das Verhalten der gefangenen Genossen der PC p-m und der gefangenen kommunistischen Militanten während ihres politischen Schauprozesses in Mailand zu sehen. Beinahe legendär ist die Aussage in der Solidaritätsbotschaft der PC p-m-Gefangenen geworden, die den drei Antimilitaristen vor dem Berliner Kammergericht gewidmet ist: „Der Neubeginn der revolutionären Bewegung führt auch durch den Gerichtssaal und die Gefängnisse als unvermeidliche Passagen für die Militanten, die sich ernsthaft mit dem revolutionären Kampf identifizieren.“ Dem können wir uns nur voll und ganz anschließen! Richtig akzentuiert finden wir auch die Einbindung unserer Gefangenen in den Prozess der proletarischen Revolution. In der Erklärung „Der Kampf gegen die Isolation liegt in der Linie der Auseinandersetzung zwischen den Klassen“ schreiben sie u.a. dazu: „Der Kampf gegen die Repression, an der Seite der gefangenen GenossInnen, muss als Front dieser Tendenz zum Klassenkrieg übernommen werden (...)“, und außerdem geht es darum, „lernen zu widerstehen und jenseits von Selbstmitleid und von der Klage, verfolgt zu sein, und schlussendlich von legalistischen Haltungen, zu kämpfen.“

Auf der „Metaebene“ verteidigen die gefangenen Genossen der PC p-m maoistische Theoreme; in der Prozesserklärung unter dem Titel „Der Revolution wird kein Prozess gemacht“ vom 4. Mai 2009 heißt es prononciert: „Die realisierten Revolutionen haben uns ein enormes Erbe und Fortschritte hinterlassen, die in den jetzt im Trikontinent (hiermit sind z.B. die Kämpfe in Nepal, auf dem indischen Subkontinent und auf den Philippinen gemeint, Anm. mg) laufenden revolutionären Prozessen und Volkskriegen effektiv eingesetzt werden. Es handelt sich um jenes Gesamte an Errungenschaften, die im Marxismus-Leninismus-Maoismus und in der Strategie des langandauernden Volkskrieges zusammengefasst werden.“ Wir sagen voraus, dass wir uns mit den guerilla- und militärtheoretischen Aspekten der Lehre Maos stärker inhaltlich beschäftigen werden, um zu versuchen, diese für uns besser einordnen zu können, insbesondere vor dem Hintergrund einer situationsangepassten Transponierung auf westeuropäische Verhältnisse.

Wir waren in den zurückliegenden Zeilen nicht zu mehr in der Lage als einen Schnelldurchgang durch die Vorläufer- und Organisationsgeschichte der PC p-m zu unternehmen. Alle weitergehenden Ausführungen, die absolut notwendig sind, müssen in den folgenden Auseinandersetzungen und Reflexionen erfolgen. Unser begrenztes Ziel mit diesen Darstellungen konnte nur darin liegen, einen Scheinwerfer auf diesen politisch-militärischen Organisationsansatz gelegt zu haben, der sich durch eine systematisch vorgenommene und „unhektische“ Strukturbildung auszeichnet.

Die konzentrierte und kontinuierlich zu führende Debatte unter revolutionären Kräften ist für uns damit eröffnet, auch wenn wir sie nicht mehr als (mg) führen werden. Das organisatorische Nachfolgeprojekt, das, wir betonen es nochmals, keine einfache Fortführung der (mg) sein kann und soll, wird sich dieser Debatte annehmen und versuchen, diese im Sinne des Zusammenkommens von GenossInnen weiterzuführen, zu konkretisieren.

Wenn wir unsere Angaben der letzten drei Fragen resümieren sollten, können wir für uns als Faktum vermelden: Der Prozess des strukturellen Aufbaus einer kämpfenden, revolutionären Partei kann nicht die Voraussetzung, sondern nur die Folge der fundamentalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse sein. Die Herausbildung von Strukturen über den Rahmen von organisierten Kernen und Keimzellen einer Partei-Form hinaus ist das Ergebnis des Kampfes selbst: das Projekt einer derart definierten Kommunistischen Partei ist nicht anders zu begreifen. Aus dem folgt für uns, dass die Frage der Partei-Form (z.B. PCC oder PC p-m) wesentlich mehr als in den letzten Jahren zu einer brennenden geworden ist. Wir sind über die ursprüngliche Aversion gegen eine parteiförmige Organisierung hin zu einem Verständnis gelangt, dass eine Partei-Form in einem Umwälzungsprozess zu einem dynamisierenden und stabilisierenden Faktor im Geflecht von Rätebewegung und Guerilla- bzw. Milizeinheiten werden kann, ja zu einem koordinatorischen Zentrum werden wird. Partei, Räte und Guerilla/Miliz sind der organisatorische Ausdruck in überkochenden und zugespitzten gesellschaftlichen Situationen; die täglichen Bedürfnisse, die augenblicklichen Ereignisse des (eskalierten) Klassenkampfes geben den ersten Anstoß. Es stellt sich während des Fortgangs heraus, dass die organisatorischen Fragen von Partei, Räten und Guerilla/Miliz nicht trennbar sind, dass die selbst geschaffenen Organe der revolutionären Aktion und des aktiven Selbstschutzes der Klassenautonomie in Verbindung zu bringen sind. Damit werden unsere organisatorischen Strukturen nicht wie in utopistischen Versuchen künstliche Produkte einer AgitProp-Idee, sondern konkrete Produkte des (internationalen) Klassenkampfes selbst.

Die Beziehung dieser Organe unter- und zueinander bleibt während des sich zuspitzenden gesellschaftlichen Verlaufs nicht gleich. Diese Beziehung ist ein durch dialektische Wandlungen und Umschläge gekennzeichneter Gesamtprozess. Strukturelle Kerne und organisatorische Keimzellen sind der günstigeren Ausgangsbedingung wegen bereits jetzt zu bilden. Da wären wir wieder bei Maos Stichwort der gegenwärtigen und in die Zukunft ausgerichteten Verantwortungsübernahme angelangt. Wir wollen aber auch überhaupt nicht verhehlen, dass wir in dem hier Formulierten eine ganze Menge ‘Theorie’ produziert haben. Wir wissen, dass theoretische Formulierungen immer Abstraktionen enthalten, nicht ein vollständiges, sondern ein vereinfachtes Bild revolutionärer Anknüpfungsoptionen darbieten. Aber eben durch diese Vereinfachung schafft uns dieses ‘theoretisch Produzierte’, Sinn und Übersicht in das Gewühl der Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu bringen, damit wir uns in diesem Labyrinth zurechtfinden können.

Eine kleine Schlussbemerkung zu dieser Frage: Wenn wir uns konstruktiv mit dem Projekt der PC p-m auseinandersetzen, dann heißt das nicht, dass wir die revolutionären Zusammenhänge, die sich weiterhin an der BR/PCC orientieren, ausklammern wollen. Im Gegenteil. Die Phase des Versuchs, eine westeuropäische Guerillafront Mitte der 80er Jahre zu etablieren, in der sich die BR/PCC als integraler Teil betrachteten, war zumindest für die revolutionäre Linke in der BRD prägend. Der Kampfabschnitt des antiimperialistischen Frontprozesses war einer der lehrreichsten hinsichtlich der praktischen Erprobung eines Wechselverhältnisses zwischen Metropolenguerilla, militantem Widerstand und Basisbewegungen. Da gibt es noch etliches an Material aufzubereiten und aufzuarbeiten. Wir hoffen, dass wir auch dazu Gelegenheit finden werden.

radikal: Wir rechnen euch hoch an, dass ihr von allen klandestinen Zusammenhängen derjenige ward, der sich im Kontext der Militanz-Debatte am intensivsten mit Kritik auseinandergesetzt hat. Teilweise hatten wir gar den Eindruck, dass ihr euch in dem einen oder anderen Text geradezu verloren habt und jeder Fußnote mit wenigstens drei eigenen begegnen wolltet, um argumentativ dagegenzuhalten. Darum ist es für uns um so erstaunlicher, dass ihr die Beiträge einer Gruppe, die sich mehrfach auf euch bezog bzw. selbst Initiativen von euch aufgenommen hatte, nahezu unberücksichtigt gelassen habt. Wir meinen damit die GenossInnen, die im Jahr 2005 (wie die Zeit vergeht!) unter dem Namen „revolutionärer zirkel“ zwei ausführliche Beiträge in die Militanz-Debatte eingebracht haben.
Der erste Text unter dem Titel ‘Diskussionsbeitrag für die revolutionäre Linke und zur Militanzdebatte’ spannt einen weiten Bogen: angefangen mit einer Zustandsbeschreibung der radikalen Linken in der BRD über eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit anarchistischen und kommunistischen Theoremen bis hin zur Erörterung eures Vorschlags, ein widerstandsebenenübergreifendes Netzwerk und eine Plattform militant-klandestiner Gruppen aufzubauen.
Der zweite Beitrag greift ganz explizit euren Anstoß zur Lektüre von Auszügen aus dem Buch ‘Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung’ von Sebastian Haunss auf. Die GenossInnen vom „revolutionären zirkel“ diskutieren darin sowohl die von Haunss erarbeiteten Themenstränge als auch wichtige von euch in die Militanzdebatte eingeführte Fragestellungen (z. B. ob Militanz im Rahmen eines widerstandsebenenübergreifenden Netzwerkes einen eigenständigen Faktor darstellen kann).
Kurzum: Warum greift ihr einerseits Texte, die wir für unbedeutend und redundant halten, fast pedantisch auf und lasst andererseits Papiere, die einen weiterführenden Charakter haben, links liegen?

mg: Bevor wir überhaupt zu euren ausführlich vorgetragenen Fragenkatalogen kommen, eine Entschuldigung unsererseits den GenossInnen vom revolutionären zirkel gegenüber. Wir lassen dabei beiseite, ob es diesen Gruppenzusammenhang überhaupt noch gibt, da nach dem Text zu Haunss keinerlei Wortmeldung mehr zu vernehmen war. Wichtiger als die Existenz oder Nicht-Existenz ist allerdings der Debattenanstoß, der vom revolutionären zirkel unternommen wurde.

Wir hatten eine Reaktion auf die zirkel-Textbeiträge bereits vor Jahren zugesagt, aber nicht eingehalten, nicht einhalten können, weil wir anderen Beiträgen irrtümlich mehr Bedeutung und Vorrang beigemessen haben als diesen recht minutiös ausgearbeiteten Papieren. Dafür genieren wir uns tatsächlich, weil wir bei mehreren Gelegenheiten darauf aufmerksam gemacht wurden, dass eine schlüssige Erwiderung auf die begründeten zirkel-Vorhaltungen von unserer Seite fehlen würde. Einige meinten (nicht ganz zu unrecht), dass uns einige Passagen der zirkel-Beiträge, im Gegensatz zu vielen anderen, einiges an argumentative Nöte bereitet hätten und wir deshalb nicht so zügig in der Lage gewesen wären, darauf eine adäquate Antwort zu finden. Mit dieser Aussage ist einiges Wahre getroffen. Wir haben im Rahmen unserer diesen letzten Stellungnahme als (mg) nicht einmal den Raum, das (unzureichend) nachzuholen, was wir vor Jahren versaubeutelt haben. Anzumerken ist auch, dass wir interne Auseinandersetzungszeit vergeudet haben, um auf vom BKA lancierte Texte im Rahmen der Militanzdebatte einzugehen, die einzig dazu bestimmt waren, Dreck zu verbreiten. Skurril, aber wahr...

Rückblickend ist besonders ärgerlich, dass wir eine inhaltliche Auseinandersetzung zum Verhältnis Anarchismus und Kommunismus bzw. mit den jeweiligen Strömungen verhindert haben. Eine ins Detail reichende Diskussion darüber und über potentielle ideologische Schnittmengen hätte dem Verlauf der Militanzdebatte mit einiger Sicherheit mehr Richtung geben können.

Gut, bzw. vor allem schlecht: Wir können im Rahmen dieses Interviews lediglich implizit einige Aspekte der Beiträge vom revolutionären Zirkel streifen, die wir mit unseren Orientierungen in Übereinstimmung bringen können, die wir für überlegenswert halten oder grundsätzlich für falsch erachten. Dabei interessiert uns vorrangig das Verhältnis zwischen Kommunismus und Anarchismus. Wir werden es in der Beantwortung dieser Frage nicht packen, auch noch auf das Buch von Haunss bzw. die diesbezüglichen zirkel-Anmerkungen einzugehen, allerdings haben wir fest vor, die von uns in die Militanzdebatte eingeführte Buchpräsentation in Bälde einmal aufzugreifen und die Textinhalte zu diskutieren.

Wir konzentrieren uns demnach in den folgenden Zeilen auf die „Grundauseinandersetzung über anarchistische und kommunistische Theoreme“. Wir gehen aber den Weg, dass wir uns die Mühe machen, nicht bei den doktrinären Differenzen zwischen Anarchismus und Kommunismus anzusetzen, sondern die Frage nach der potentiellen und tatsächlichen Schnittmenge zu stellen. Wir beschäftigen uns damit vor allem mit dem Hauptproblem, welches wir mit den zirkel-Texten haben; sie verkürzen unzulässig die Vielfalt kommunistischer (und auch anarchistischer) Strömungen und ziehen Schlussfolgerungen, die auf einem viel zu dünnen Quellenstudium basieren.

Also, wir möchten das Thema Anarchismus vs. Kommunismus von der Seite her antippen, dass nicht die (durchaus gravierenden) ideologischen Gegensätze herauszustreichen sind, sondern die tendenziellen Übereinstimmungen - insbesondere vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Endziels. Hierfür möchten wir u.a. einige Thesen des britischen Sozialphilosophen Eric Hobsbawm einfließen lassen. Doch bevor wir dazu kommen, verweisen wir darauf, dass wir mit unserem 1.Teil des Epos’ „Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus“ (Interim 601 ff.) u.a die Intention verbunden haben, darzustellen, dass es eine lange Kette von „Wegbereitern des Kommunismus“ gibt, deren Kenntnis zum Verständnis des sog. wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus wichtig ist. Hermann Duncker schreibt dazu: „Der moderne Kommunismus, der seine theoretische Grundlegung durch Marx und Engels in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erhalten hat und seitdem auch schon eine geschichtliche Entwicklung erfuhr, ist selber nur das jüngste Glied einer langen Kette kommunistischer Bewegungen und Zielsetzungen. So ist der Kommunismus der Gegenwart durch Jahrhunderte und Jahrtausende mit den Klassenkämpfen und Erlösungsgedanken der Weltgeschichte verknüpft.“ Der „wissenschaftliche Sozialismus bzw. Kommunismus“ entstand also nicht aus dem Nichts, sondern kennt eine Vielzahl von Vorläufern und Weggabelungen, d.h. er ist faktisch das „Produkt“ der Entwicklungsgeschichte egalitärer und libertärer Bewegungen. Und außerdem „hat sich von den Denkern“, so der austromarxistische Hauptideologe Max Adler, „die in die geistige Ahnenreihe des Anarchismus gehören, mit einer einzigen charakteristischen Ausnahme, keiner Anarchist genannt, weder Godwin, noch Fourier, noch Stirner; die beiden letzteren haben im Gegenteil die kapitalistische Wirtschaftsordnung als eigentliche Anarchie und sich selbst als Bekämpfer derselben bezeichnet. Die Ausnahme betrifft Proudhon, der sich bereits in seiner Schrift ‘Was ist das Eigentum?’ ausdrücklich als Anarchist einführt.“

Gut, das soll bis hierhin genügen. Lasst uns zu einigen Beispielen kommen, in der wir einen bedeutenden Prozentsatz der besagten Schnittmenge von Anarchismus und Kommunismus personalisiert finden können. Einer dieser Vertreter dürfte Peter Kropotkin sein, der als Stichwortgeber eines anarchistischen Kommunismus gilt. In „Die Eroberung des Brotes“ heißt es u.a.: „Jede Gesellschaft, welche mit dem Privateigentum gebrochen hat, wird nach unserer Meinung gezwungen sein, sich in anarchistisch-kommunistischer Form zu organisieren. Die Anarchie führt zum Kommunismus, und der Kommunismus zur Anarchie; das Eine wie das Andere ist nur der Ausdruck einer in den modernen Gesellschaften vorherrschenden Tendenz: des Strebens nach der Gleichheit.“ In einem seiner späten Werke, in „L’anarchie“, kommt er auf das Komplementäre von Anarchismus und Kommunismus explizit zu sprechen und sieht in der anarcho-kommunistischen Strömung die zentrale Perspektive: „Der größte Teil der Anarchisten hat sich heute (...) dem kommunistischen Anarchismus zugewandt. Man beginnt einzusehen, daß die einzig mögliche Form des Kommunismus innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft die Form des kommunistischen Anarchismus ist. Da er seinem Wesen nach egalitär ist, bedeutet der Kommunismus die Verneinung jeder Autorität. Andererseits wäre eine anarchistische Gesellschaft von einer gewissen Größe nicht möglich, könnte sie nicht von vornherein für alle zumindest ein Minimum eines gemeinschaftlich erzeugten Wohlstandes garantieren. Kommunismus und Anarchismus sind zwei Konzeptionen, die sich notwendigerweise ergänzen.“

Lasst uns noch auf einen weiteren bekannten Vertreter dieser Strömung innerhalb der anarchistischen Bewegung zu sprechen kommen, auf Erich Mühsam. Er erläutert in seinem Buch „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ „die Grundsätze des kommunistischen Anarchismus“, der sich sowohl von dem „autoritären, obrigkeitlich geleiteten und zentralistisch verwalteten Sozialismus“, als auch gegenüber dem „individualistischen Anarchismus“, der in der „egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staats und der Autorität erblickt und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst ruhenden Ich zurückweist“, abgrenzt: „Wir verstehen unter Kommunismus die auf Gütergemeinschaft beruhende Gesellschaftsbeziehung, die jedem nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen zu verbrauchen erlaubt (...) Die staatenlose Gemeinschaft freier Menschen, - das ist Kommunismus, die Verbundenheit Gleicher in Freiheit, das ist Anarchie!“

Mit Eric Hobsbawm können wir festhalten, dass „(es) keine Unterschiede gibt in der Frage, was Marxisten und Anarchisten letztlich erreichen wollen, nämlich einen freiheitlichen Kommunismus, in dem es keine Ausbeutung, keine Klassen und keinen Staat mehr gibt.“ Allerdings können wir bspw. auch nicht das paternalistische Motiv der bolschewistischen Fraktion von der Hand weisen, wenn Hobsbawm schreibt, dass „die Bolschewiki Anarchisten im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, die sie als Säulen der Bourgeoisie ansahen, (grundsätzlich) für fehlgeleitete Revolutionäre (hielten).“ Dennoch „(war)“, laut Hobsbawm, „die Haltung der Bolschewiki gegenüber den tatsächlich auftretenden anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Bewegungen erstaunlicherweise recht wohlwollend. Diese Haltung wurde deutlich durch drei wesentliche Faktoren bestimmt:

a) durch die Überzeugung, daß die Masse der anarcho-syndikalistischen Arbeiter Revolutionäre waren, die sowohl objektiv als auch unter den entsprechenden Umständen subjektiv potentielle Kommunisten und Verbündete des Kommunismus gegen die Sozialdemokratie waren;
b) von der unbestreitbaren Anziehungskraft, die die Oktoberrevolution auf viele Syndikalisten und auch Anarchisten in den unmittelbar auf 1917 folgenden Jahren ausübte;
c) von dem in gleicher Weise unbestrittenen wie immer rascheren Niedergang des Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus als Massenbewegung, der überall zu beobachten war, außer vielleicht in einigen wenigen alten Hochburgen.“

Das, was weitgehend unbekannt ist, ist, dass es eine Tendenz im russischen Anarchismus gab, die sog. Anarcho-Bolschewiken, die unter dem Eindruck des Verlaufs der Oktoberevolution und des anschließenden Bürger- und Interventionskrieg mit der Bolschewiki Lenins kooperierten bzw. sich der Partei der Bolschewiki direkt anschlossen. Das an dieser Stelle aber nur als Randnotiz.

Wir wollen aber auch nicht unsere leninistische Seite unseres Blanquismus wortlos übergehen. Lenin hat in seiner „libertärsten“ Schrift „Staat und Revolution“, die er am Vorabend des Oktoberaufstandes verfasste, die inhaltlichen, praktischen und organisatorischen Differenzen zwischen Marxismus und Anarchismus umrissen. Auch wenn Lenin nicht die einzelnen anarchistischen Strömungen und Zweige auseinander hält, denken wir, dass sich in diesen Kriterien Unterscheidungsmerkmale finden, die sich für eine weitergehende Diskussion eignen: „Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten besteht darin, daß 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung des Staates zum Ziel setzen, dieses Ziel für erreichbar halten erst nach der Aufhebung der Klassen durch die sozialistische Revolution, als Resultat der Errichtung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt; die Anarchisten wollen die völlige Aufhebung des Staates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für die Durchführbarkeit einer solchen Aufhebung zu begreifen. 2. Die Marxisten halten es für notwendig, daß das Proletariat nach der Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zerstört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt; die Anarchisten, die auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie schwören, stellen sich ganz unklar vor, was das Proletariat an ihre Stelle setzen und wie es die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchisten verwerfen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Proletariat, dessen revolutionäre Diktatur. 3. Die Marxisten fordern die Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution unter Ausnutzung des heutigen Staates; die Anarchisten lehnen das ab.“ Wenn wir sagen, dass sich in dem von uns vorgebrachten Lenin-Zitat diskussionswürdige Unterscheidungsmerkmale zwischen Kommunismus und Anarchismus finden lassen, so haben wir kein Problem damit, nachzuschieben, dass in diesen Aussagen sicherlich eine ganze Menge Holzschnitt drinsteckt; AnarchistInnen werden hier als monolithischer Block vereinfacht und die Schattierungen innerhalb des anarchistischen Spektrums gehen verloren. Einzuräumen ist aber ebenso, dass sich Lenin hier um einiges differenzierter zeigt, als zu früheren Zeiten, in denen er - vor dem Hintergrund des damals akuten Konflikts mit den sich organisatorisch formierenden Sozialrevolutionären - den Anarchismus noch kurz und knapp als „umgestülpten bürgerlichen Individualismus“ abqualifiziert hat.

Nikolai Bucharin, der nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg anfangs zu den „linken Kommunisten“ innerhalb der Bolschewiki zählte, setzt in der Frage des Verhältnisses dieser beiden ideologischen Linien in seinem Text „Anarchismus und wissenschaftlicher Kommunismus“ etwas anders an: „Wir beginnen mit dem ‘Endziel’, mit unserem und dem der Anarchisten. Die landläufige Vorstellung in dieser Frage geht dahin, der Kommunismus und Sozialismus setzten die Beibehaltung des Staates voraus, während ‘Anarchie’ diesen Staat beseitige. ‘Anhänger’ des Staates und ‘Gegner’ des Staates, so definiert man den ‘Gegensatz’ zwischen Marxisten und Anarchisten. Es muß festgestellt werden, daß an einer derartigen Definierung des ‘Gegensatzes’ in hohem Maße nicht nur die Anarchisten, sondern auch die Sozialdemokraten Schuld tragen. Das Geschwätz vom ‘Zukunfts-Staat’, vom ‘Volks-Staat’ hat sich in der Gedankenwelt der Sozialdemokratie breit gemacht. Einige sozialdemokratische Parteien waren sogar stets bestrebt, ihren ‘staatlichen’ Charakter besonders hervorzuheben.“

Was bleibt? Entscheidend ist für uns, dass wir nicht den patriarchalischen Disput zwischen Bakunin und Marx zur Zeit der I. Internationale in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, der bis in unsere Tage nachwirkt, als schlechtes Abziehbild reproduzieren. Zu lange ist dieser angelesene Konflikt von Generation zu Generation weiter transportiert worden. Wir negieren nicht die ideologischen Diskrepanzen, stellen diese auch nicht hinten an, sondern wir favorisieren in der von uns mitzutragenden Debatte um die (Neu-)Bestimmung antagonistischer Politik der revolutionär-proletarischen Linken eine dezidierte Positionierung eines revolutionären Marxismus, der zugleich Stellung bezieht gegen die stalinistische Degeneration des Kommunismus, gegen den Keynesianismus des sozialdemokratischen Reformismus sowie gegen eine individual-anarchistische Reduktion des egalitären und libertären Gedankens.

Um unserer Zitiererei einen Abschluß zu geben, verständigen wir uns auf eine Arbeitsthese von Daniel Guerin, die wir als Diskussionsanregung verstehen wollen: „Wie es der libertäre Geschichtsschreiber A.E. Kaminsky (...) ausgedrückt hat, ist die Synthese zwischen Anarchismus und Marxismus nicht nur notwendig, sondern auch unvermeidlich. ‘Die Geschichte’, fügt er hinzu, ‘schafft sich ihre Kompromisse selbst’. Ich möchte hinzufügen – und das ist meine eigene Meinung – daß ein libertärer Kommunist, Ergebnis einer solchen Synthese, zweifellos die tiefen Wünsche – auch wenn sie sich dessen bisher manchmal noch nicht voll bewußt sind - der fortgeschrittenen Arbeiter ausdrückt, die man heute die ‘Arbeiterlinke’ nennt, viel mehr als der degenerierte autoritäre Marxismus und der versteinerte Altanarchismus.“

Wenn wir solch eine prognostische These in den Raum werfen, dann ist das ein Ergebnis davon, dass uns kürzlich im Verlauf unserer Diskussion um das Verhältnis zwischen Anarchismen und Kommunismen voll bewusst geworden ist, dass wir gerade einmal im Startblock eines ideologischen Tauziehens Platz genommen haben. Gretchenfragen werden sich stellen: Haben wir bestimmte theoretisch-inhaltliche An- und Grundsätze zu berichtigen oder schlittern wir dann nur in eine als „undogmatisch“ kostümierte ideologische Unbefangenheit, die dem Opportunismus in jedwede Richtung Tor und Tür öffnet? Oder können wir uns mit einer spezifischen Interpretation des Verhältnisses von Orthodoxie und Marxismus arrangieren, wenn es heißt: „Orthodoxer Marxismus bedeutet“, so der gern zitierte Georg Lukacs, „(...) nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen ‘Glauben’ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines ‘heiligen’ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugung, daß im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann. Daß aber alle Versuche, sie zu überwinden oder ‘zu verbessern’ nur zur Verflachung, zur Trivialität, zum Eklektizismus geführt haben und dazu führen mußten.“

radikal: Wechseln wir erneut das Thema: Wie definiert ihr für euch ‘revolutionäre Identität’ ohne in eine kitschige Kopie aus vergangenen Epochen der Revolte abzurutschen? Was kennzeichnet eine(n) RevolutionärIn, was zeichnet ihn/sie aus? Wie viel „Härte“, wie viel „Durchhaltevermögen“ braucht er/sie? Kann oder muss man/frau sich ständig von äußerem oder innerem Druck völlig unbe-(oder ge-)rührt zeigen?
Und vor allem: gibt es so etwas wir eine ‘revolutionäre Moral’ oder ‘revolutionäre Ethik’, die sich aus einer bzw. eurer ‘revolutionären Identität’ ergibt? Und schließlich: Wie hängt das alles mit proletarischem Klassenbewußtsein zusammen?

mg: Ihr macht es euch mit euren komplex-komplizierten Fragen wirklich ziemlich einfach und dann motzt ihr wieder, weil wir hier ein Colloquium abhalten müssen. Egal, wir werden einige Stichpunktsätze notieren.

Posen und plakative Identitätsbildungen verbrauchen sich viel zu schnell, als dass sie in politischen und sozialen Zusammenhängen vorherrschend wären, die sich in der Hauptsache oder in periodischen Abständen um die Organisierung von Widerstandsformen bemühen, die sie als Mittel und Methoden des revolutionären Kampfes ansehen. Klar, Placesbos, schaumschlagende RedekünstlerInnen und FassadenträgerInnen fliegen auch in solchen Kontexten auf, früher oder später. Aber ein Organisierungsprozess von politischen Gruppenzusammenhängen, die sich als revolutionär deklarieren, der zudem sozial eingebettet und zu reproduzieren ist, konfrontiert alle mit mitunter existenziellen Situationen, die nicht mehr mit einfachen, rezitierbaren Lehrsätzen erledigt werden können. Eher erledigen die virulenten, zu lange offen gehaltenen (internen) Widersprüche, die schon längst im Kollektiv in die Nähe einer Klärung hätten geführt werden müssen, den Gruppenzusammenhang. Für die „kollektive Existenzsicherung“ ist es essentiell, Solidarität in die Beziehungen und die Struktur zu bringen.

Desperados, wie wir sie alle aus B-Movies kennen, Pistoleros, die nichts und niemand fürchten, gehören tatsächlich nur auf die verstaubte Leinwand oder in den muffigen Comedy-Keller. Solche Charaktere versprühen vor allem eine starke Melancholie, zuweilen eine Endzeitstimmung, vieles, wenn nicht alles wird auf eine Karte gesetzt. Wir sind aber weder AnhängerInnen von Sprechblasen wie „Wo gehobelt wird, fallen Späne“, schon gar nicht „gehen wir über Leichen“, um unsere vermeintliche Unerschrockenheit und unser Energisch-Sein zu dokumentieren. All das ist das Gegenteil von dem, was wir mit einer „revolutionären Identität“ verbinden. Wir haben außerordentlich viel zu verlieren, sind angehalten, taktische Überlegungen anzustellen, Pfade aus undurchsichtigen Labyrinthen zu finden und umher liegende Fallstricke frühzeitig zu erkennen, um der strategischen Zielvorstellung der grundsätzlichen Umwälzung dieser Verhältnisse ein Stück entgegen zu gehen. Eine DraufgängerInnen-Mentalität hilft da kein Deut weiter, denn wir wissen, was es heißt, GenossInnen nicht mehr an unserer Seite zu wissen.

Das heißt überhaupt nicht, dass wir nicht mit den Vokabeln Konsequenz und Konsequent-Sein etwas anzufangen wüssten. Wir haben immer unser antagonistisches Verhältnis zum Status quo und unsere Illusionslosigkeit gegenüber der Reformierbarkeit dieser herrschenden Ausbeutungs- und Eigentumsordnung benannt. Dies bedeutet für uns aber niemals Verzagtheit oder Verzweiflung, sondern führt uns zu der Erkenntnis, dass eine ganz andere Welt möglich und notwendig ist, trotz aller widrigen Umstände und aller Hemmnisse. Dieses Erkennen hilft uns dabei, das Ziel und die Ansätze seines Näherkommens nicht aus den Augen zu verlieren. Also, nichts gegen Kühn- und Forschheit; aber, aber: der kurze, schnelle und ebene Weg zum Anvisierten ist allzu oft die direkte Fahrkarte in die Sackgasse oder ins Grab; also dorthin, von wo aus wir die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen haben, um in Bewegung bleiben zu können, da regt sich dann nicht mehr sonderlich viel. Stärker als in dieser Form können wir unsere Mahnung nicht zu Papier bringen.

Damit hängt inhaltlich zusammen, das Revolutionär-Identitäre nicht am eigenen „klandestinen Militantismus“ bzw. am „mysteriösen Illegalismus“ zu zelebrieren. Georg Lukacs schreibt in dieser Hinsicht sehr richtig: „Indem nämlich illegale Kampfesmittel und Methoden eine besondere Weihe, den Akzent einer besonderen, revolutionären ‘Echtheit’ erhalten, wird der Legalität des bestehenden Staates doch eine gewisse Geltung und kein bloßes empirisches Sein zugesprochen. Denn die Empörung gegen das Gesetz als Gesetz, die Bevorzugung gewisser Handlungen wegen ihrer Illegalität bedeutet doch so viel, dass für den auf solche Weise Handelnden das Recht doch seine bindende, geltende Wesensart bewahrt hat (...) Wenn die Übertretung des Gesetzes mit Pathos bevorzugt wird, so ist es Zeichen dafür, dass das Recht – wenn auch mit verkehrten Vorzeichen – seine Gültigkeit bewahrt hat, dass es die Handlungen noch immer innerlich zu beeinflussen imstande ist, dass die wahre, die innere Emanzipation sich noch nicht vollzogen hat.“ Es geht also darum, sich aus allen konventionellen und restaurativen Fängen zu lösen, mit oder ohne verkehrten Vorzeichen.

Was ziehen wir daraus? Identitäre Politiken sind zunächst einmal Behelfe der eigenen Orientierungssuche und -findung, eine Art der ideologischen Selbst-Vergewisserung, ein „Bindemittel“. Bleibt für einen/eine selbst das eigene politische Engagement im Nebulösen und Abstrakten hängen, dann dürfte es schwer fallen, vertretbare Positionen authentisch zu formulieren, geschweige denn vermitteln zu können. Einerseits sehen wir die Notwendigkeit, sich ein ideologisches Rüstzeug anzueignen, andererseits ist die Ausbildung einer ‘revolutionären Identität’ ein Prozess, der ein solcher bleibt, da ein gewisser Grad von Elastizität und Wandelbarkeit nur anzuraten ist, um sich nicht scheinbar unwiderlegbar mit Dogmen in einem Lehrgebäude einzurichten. Bewegungsarmut führt da letztlich zur Erstarrung und zur Versimplifizierung gesellschaftspolitischer Analysen. Außerdem schwindet die Fähigkeit zur Selbst-Kritik rasant.

Wenn wir demnach mit einer Kategorie wie ‘revolutionäre Identität’ gleichwohl politisch arbeiten, dann vor dem Hintergrund einer Bewusstseinsbildung, soviel sollte anhand unserer bisherigen Bemerkungen klar geworden sein. Diese „Reform des Bewusstseins“, von der Marx bereits in seiner publizistisch-politischen Frühphase spricht, ist keine bloße idealistische Spitzfindigkeit. „(...) unter Klassenbewußtsein“, so Lukacs, „(ist) niemals ein psychologisches oder massenpsychologisches Prinzip zu denken, das also, was die Angehörigen einer bestimmten Klasse in einer bestimmten geschichtlichen Lage tatsächlich gedacht, empfunden usw. haben. Klassenbewußtsein bedeutet im Gegenteil die Gedanken, Empfindungen usw., welche die Angehörigen einer Klasse haben würden, wenn sie ihre Klassenlage, die aus ihr folgenden Interessen, sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln, wie auf den Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären.“

Das Verhältnis von Klassenkampf, Klassenlage und Klassenbewußtsein erklärt sich aus der Marxschen Lehre; die proletarische Klasse (inklusive ihrer internen Schattierungen) vollendet sich erst, indem sie sich aufhebt, indem sie über die Phase der Diktatur des Proletariats die klassenlose, staatenlose Weltgesellschaft schafft, das denkbar höchste Stadium des Kommunismus. Dabei ist dies nicht allein eine Konfrontation mit der äußeren feindlichen Umgebung des Kapitalismus und Imperialismus, sondern mehr noch eine Konfrontation nach innen, d.h. mit den verheerenden „mentalen“ Auswirkungen des kapitalistischen Profitsystems in der Klasse selbst. Die Spuren sitzen verdammt tief. Erst die sich herausbildenden Formen der Klassenautonomie, die proletarische Eigeninitiative und Selbstorganisation sind erkennbare Zeichen, dass die proletarische Klasse die inhärenten bürgerlich-kapitalistischen Manieren erfolgreich zu überwinden versteht. Soviel zu unserer ‘proletarisch-revolutionären Identität’.

Leiten wir gleich über: Wir haben schon häufiger, ohne das allerdings weiter zu explizieren, von ‘revolutionärer Ethik’ gesprochen, insbesondere vor dem Hintergrund der verantwortungsvollen Umsetzung von klandestinen Aktionen. Jede Form des laxen Umgangs verbietet sich, wenn u.a. als Option mit Brandsätzen hantiert wird. Es ist für uns elementar, dass sich unsere Handlungsmuster von bourgeoisen und faschistischen ganz reell und praktisch unterscheiden. Aus dem proletarisch-klassenspezifischen unserer ethischen Vorstellungen resultiert ein Universalismus, den wir recht anschaulich in Trotzkis Beitrag „Zwischen Imperialismus und Revolution“ mitgeteilt sehen: „Wir gestehen: Wir kennen nicht die absolute Moral (...) Die Moral ist eine Funktion der lebendigen menschlichen Gesellschaft, in ihr ist nichts Absolutes, sie verändert sich zusammen mit der Gesellschaft und dient als verallgemeinerter Ausdruck der Interessen ihrer Klassen, hauptsächlich der herrschenden. Die offizielle Moral ist ein idealer Zaum, in den die Unterdrückten eingespannt sind. Im Prozeß des Kampfes bildet die Arbeiterklasse ihre eigene, revolutionäre Moral heraus, die mit dem Sturze Gottes und der absoluten Normen beginnt. Unter Ehrlichkeit verstehen wir für uns die Übereinstimmung des Wortes und der Tat vor dem Angesicht der Arbeiterklasse, unter der Kontrolle des obersten Zieles der Bewegung und des Kampfes: der Befreiung der Menschheit von der Sklaverei auf dem Wege der sozialen Revolution.“ Auch bei Lukacs kommt das Moralische im Revolutionierungsprozess deutlich zum Tragen, wenn es hinsichtlich der „moralischen Sendung der Kommunistischen Partei“ und der ökonomistischen Verkürzung heißt: „Der Übergang aus der alten in die neue Gesellschaft bedeutet aber keine bloß ökonomische und institutionelle, sondern zugleich eine moralische Wandlung.“ Er verteidigt sich im selben Atemzug selbstredend gegen den Vorwurf des idealistischen Irrtums: „Nichts steht uns ferner, als der kleinbürgerliche Utopismus jener, die sich nur infolge einer inneren Wandlung der Menschen eine Änderung der Gesellschaft denken können. (Die Kleinbürgerlichkeit dieser Anschauung liegt nicht zuletzt darin, daß ihre Vertreter – bewußt oder unbewußt – die Wandlung der Gesellschaft dadurch in die unabsehbare Ferne der Zeitlosigkeit verschieben.) Wir betonen vielmehr, daß der Übergang aus der alten Gesellschaft in die neue eine notwendige Folge objektiv-ökonomischer Kräfte und Gesetzlichkeiten ist. Dieser Übergang ist aber – bei aller objektiven Notwendigkeit – eben der Übergang aus der Gebundenheit und der Verdinglichung in die Freiheit und Menschlichkeit.“ Also ein Vorgang des bewußtgewordenen Sinns der geschichtlichen Lage der proletarischen Klasse und ihrer moralisch-ethischen Implikationen, der über Dekaden laufen wird.

Entscheidend ist, dass es hinsichtlich eines revolutionär-proletarischen Ethikverständnisses keine Neutralität und keine Parteilosigkeit geben kann; wer/welche nicht handeln will, muss seine/ihre Untätigkeit vor seinem/ihrem Gewissen verantworten können, um mal eine ‘moralisierende’ Tonlage anzustimmen. Ein dezidiert revolutionär-proletarisches Ethikverständnis, das gewiss auf eine plakative Formel gebracht ist, bringt Karl Radek hervor: „Wir gehen friedlich zu unseren Zielen vor, wenn möglich; mit Gewalt, wenn notwendig. Die historischen Erfahrungen des Proletariats sagen ihm, daß die Gewalt notwendig sein wird; es hängt nur von der Bourgeoisie ab, diese Erfahrungen zu korrigieren.“ Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die strikte Anwendung dieses ethischen Entscheidungsmodells letztlich noch keine klare Auskunft über die moralischen Qualitäten der Alternativen in der politischen Praxis geben kann. Irgendwie auch klar.

OK. Moral, Ethik proletarisch und revolutionär – alles ‘bedeutungsschwangere’ kombinierte Begriffe mit definitorischer Vielfalt. Wir wollen abschließend zu bedenken geben, dass wir grundsätzlich die Frage zu stellen haben, ob es eine proletarische Moral bzw. Ethik vor dem Hintergrund des Ziels der ‘Selbstaufhebung’ des Proletariats überhaupt geben kann, denn die proletarische Klasse kann sich unmöglich befreien, ohne die Klassenherrschaft in Gänze abzuschaffen. Die proletarische Klassenmoral müsste demnach die ‘letzte Moral’ in der Geschichte der Menschheit sein. Davon ausgehend schließen sich weitere Fragen und Präzisierungen an, z.B., ob denn eine proletarische Klassenmoral in einer von Kapitalismus und Imperialismus geprägten Gesellschaft entstehen und sich entwickeln kann. Über die Schwierigkeiten in einer feindlichen Umgebung klassenspezifische Merkmale des Proletariats auszubilden haben wir schon gesprochen.

Und wie sieht es in der Übergangsphase der ‘Diktatur des Proletariats’ aus? In dieser an der Entstehungs- und Entwicklungsperiode des Feudalismus und Kapitalismus gemessen kurzen Zeit des Übergangs von der proletarischen Diktatur zum Eintritt in eine gefestigte sozialistische Gesellschaftsform mit einer klaren Perspektive des Kommunismus wird sich eine spezifisch proletarische Moral und Ethik kaum ausreifen können. Je vollständiger die anvisierte klassenlose und staatenlose Gesellschaft Gestalt annimmt, je stärker sich die egalitären und libertären Potentiale ausbreiten können, um so mehr wird sich alles Proletarisch-klassenspezifische in der neuen post-bourgeoisen Gesellschaftsform auflösen. Die proletarischen Klassen streifen mehr und mehr ihre Klassenmerkmale ab, d.h. sie hören auf Proletariat zu sein. Mit anderen Worten: In der Phase der ‘Diktatur des Proletariats’ wird der Klassencharakter (und damit einschließlich klassenspezifischer moralischer und ethischer Werte) nicht ausgeprägter, sondern schwächer ausfallen. Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ableiten, dass es eine voll ausgebildete proletarische Klassenmoral nicht nur nicht gibt, sondern nicht geben kann. Wir sehen auch keinen Anlass dafür, dies zu bedauern. Wir streben doch deshalb die totale Umwälzung des Status quo an, um ein für allemal der Klassenspezifika ein Ende zu machen.

Heißt das dann, dass wir nur von besonderen, temporären, sich inhaltlich wandelnden proletarischen Klassennormen sprechen können, die eine Art Bündel von Verhaltensweisen und -regeln sind? Klassennormen haben in einer Klassengesellschaft immer bestanden und werden bestehen, solange es Klassen gibt. Und das Wesen der Moral besteht nicht darin, dass sie das Pseudonym für Klassennormen ist, sondern darin, dass aus diesen Normen ein Fetisch gemacht wird. Sobald die mystische Hülle entfernt wird, bleiben die Klassennormen bestehen, aber nicht die Moral, so die Kritik hinsichtlich der Behauptung der Existenz einer ‘proletarischen Klassenmoral’. Auch der Verhaltenskodex der vom Moralisch-mystischen befreiten proletarischen Klassennormen geht in einer klassenlosen Gesellschaft in allgemeingültige soziale Normen auf – sicherlich auch hier nicht gleich, sondern erst dann, wenn die hartnäckigen klassenspezifischen Überreste überwunden sind.

Wir haben ein weiteres mal die Befürchtung, dass wir noch weit davon entfernt sind, befriedigende Ansätze einer Antwort zum Themenkomplex ‘revolutionäre Identität, revolutionäre Ethik und proletarisches Klassenbewußtsein’ geben zu können. In unseren fortgesetzten Diskussionen werden wir bestimmt auf diesen ‘Komplex’ regelmäßig zurückkommen.

radikal: Nun gut, dann wollen wir es zunächst dabei belassen. Und wir werden es uns bestimmt nicht nehmen lassen, in einem (erhofften) späteren Gespräch erneut auf diese Frage zu pochen. Bevor aber dieses historische letzte Interview mit der gerade-eben-noch-und-nun-schon-nicht-mehr (mg) zuende geht, können und wollen wir uns ein Thema nicht verkneifen: Die soziale und ökonomische Krise des kapitalistischen und imperialistischen Systems. Sie klopft derzeit lautstark an die Türen der Metropolen bzw. befindet sich mittendrin.
Um es ein bisschen verelendungstheoretisch zu betrachten: Jede Krise birgt die Chance, dass sich jene, die die Auswirkungen zu spüren bekommen, bewegen werden. Welche Richtung das annehmen wird, ist mit Spekulationen behaftet. Dennoch: wo seht ihr Gelegenheiten, um Protestformen zu einem manifesten Widerstand weiterzuentwickeln. Und welche Rolle gedenkt ihr als künftiger Gruppenzusammenhang dabei zu spielen?

mg: Vorweg wollen wir – wiederholt - den Genossen Leo Trotzki ins Spiel bringen, der in seiner oft typisch lakonischen Art und Weise meinte: „Ich sagte bereits, dass, solange der Kapitalismus lebt, er ein- und ausatmet.“ Zwar seien seinen Angaben zufolge die Prosperitätsphasen nur oberflächlich und die Krisen dagegen langwieriger und tiefer, aber (temporäre) Aufschwünge sind, sofern der Kapitalismus einen Rest an Lebensenergie verspürt, zu erwarten.

Zu uns: Wir machen uns als Krisen- und Zusammenbruchsorakel bestimmt äußerst schlecht; unsere prognostischen Fähigkeiten halten wir zudem für nicht sonderlich ausgeprägt. Karl Kautsky hat in einem seiner früheren, besseren Aufsätze geschrieben: „Um die Erwartungen der Marxisten von einer kommenden Revolution zu diskreditieren, wird uns häufig vorgeworfen, wir liebten es zu prophezeien, erwiesen uns aber als schlechte Propheten.“ In diese Falle wollen wir nicht gehen. Das schützt uns insbesondere vor Übertreibungen in die eine, sehr pessimistische, oder andere, zu viel Optimismus versprühende Richtung. Da ist von uns nur Mittelmaß zu erwarten - wenn wir uns Mühe geben.

Dem Mittelmäßigen entsprechend können wir aber dennoch einige Allgemeinplätze zum Besten geben. Ein solcher ist z.B.: Die ökonomische Krise allein, so darf konstatiert werden, führt nicht unweigerlich zum Sturz des Kapitalismus. Es sei denn, dass die durch die Krise verschärften Klassenkämpfe den politischen Umsturz des Systems mit sich bringen. Für diejenigen, die an der Aufrechterhaltung dieser Ausbeutungs- und Eigentumsordnung ein vitales Interesse hegen, birgt jede große ökonomische Turbulenz die Möglichkeit die letzte zu sein, eben weil sie zu sozialen Aktionen führen kann, die den Ausweg in die weitere Akkumulation abschneiden und die ‘Systemfrage’ in einem politischen Sinne stellen. Unterhalb der Ebene der Infragestellung des Systems stellt die Periodität der Krise praktisch nichts anderes dar, als die stete Reorganisation des Akkumulationsprozesses, auf einem neuen, niedrigeren Wert- und Preisniveau, das erneut die Kapitalverwertung garantiert.

Ein potentiell revolutionäres Bewusstsein kann sich nur im Zustand der kapitalistischen Krise herausbilden, wofür der Reformismus und Opportunismus der proletarischen Klasse(n) während der Aufstiegsphase des Kapitals hinreichende Bestätigung liefert. Ohne Zusammenbruchstendenz hat die kapitalistische Akkumulation keine revolutionären Implikationen, und die Realisierungsoption des Kommunismus würde in der Tat von der von den Verhältnissen relativ unabhängigen Bewusstseinsentwicklung abhängen. Das wäre eine pure idealistische Illusion. Also: Sicher ist nur, wofür die ganze Geschichte der Existenz der kapitalistischen Gesellschaftsform den Nachweis erbringt, dass ein die breiten ‘proletarischen Massen’ erfassendes, revolutionäres Bewusstsein kapitalistische Krisenzustände voraussetzt. Die dem Klassenbewusstsein gewidmete Aufmerksamkeit schließt damit die Erkenntnis der kapitalistischen Entwicklungstendenzen in sich ein. Soweit zu unseren krisenspezifischen Allgemeinplätzen.

Der Hintergrund eurer Frage dürfte der altneue Aspekt sein, inwiefern aus einer tendenziell fundamentalen sozio-ökonomischen Krisen(-erscheinung) interventionsfähige Strukturen des Protestes und des sich daraus herausbildenden Widerstandes werden, der die Grundfeste der kapitalistischen Ausbeutungs- und Eigentumsordnung erschüttert. D.h., ihr fragt, wie sich Protestformen als manifeste Widerstandshandlungen äußern. Zunächst einmal nehmen wir die Aussage des Genossen Georg Lukacs für uns in Anspruch, wonach „für jede Klassenkampftheorie die Praxis der wahre Maßstab (ist).“ Dies setzt bereits einiges voraus. Wir machen an dieser Stelle ein weiteres heiteres Zitatensammelsurium auf und rufen den Kollegen Karl Kautsky an, der da, bevor überhaupt eine Theorie eine praktische Umsetzung erfahren kann, mahnt: „So gut geht es uns veralteten, orthodoxen, dogmenfanatischen Marxisten nicht. Aus unserer sozialistischen Gesamtauffassung ergibt sich uns gar keine Theorie von selbst. Jene ergibt sich uns vielmehr erst aus der Gesamtheit unserer Theorien und zwar nicht von selbst, sondern nach eingehendem Studium der Dinge.“ Wenn das ‘Wahrheitskriterium’ von Politik die Praxis ist, so schließen wir an Karl Korsch an, wenn es um die Realisierungsbedingungen des ‘ganz anderen Ganzen’, um den Kommunismus geht, dann „(können) der wirkliche Inhalt und die wirklichen Formen der künftigen kommunistischen Gesellschaft nicht durch irgendwelche Analogien bestimmt werden, sondern, wie alle andere Wirklichkeit, nur empirisch, und das bedeutet hier: durch geschichtliche Entwicklung und menschlich-gesellschaftliche Tat.“

Gut, wenn wir hiermit anerkennen, dass das entscheidende Moment der Ermittlung von ‘richtig und falsch’ die probate Praxis ist und der Kampf für den Kommunismus, der sich formal und objektiv aus der zyklischen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus ergibt, nicht auf ein simples Ziehen von Analogien zu reduzieren ist, dann haben wir bereits zwei wichtige Aspekte begriffen. Ein dritter kommt hinzu, wenn wir unsere organisatorischen Strukturen korrekt zu definieren wissen.

Zunächst: Auch wenn es wahr bleibt, dass selbst der revolutionären Linken der Klassenkampf durch die wirtschaftliche Zwangslage quasi aufgezwungen wurde, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Organisierungen der revolutionären Linken von Anfang an und ihrer Idee nach einen Offensivcharakter tragen. Sie sind Organisierungen einer Offensive, die auf das Dasein des Kapitalismus und Imperialismus gerichtet sind, dies macht sozusagen ihre revolutionäre Genese aus.

Sicherlich bringt die Verschärfung der Klassengegensätze und des Klassenkampfes von oben die Gefahr mit sich, dass die Agenturen der gegnerischen Konterrevolution die Organisierungen der revolutionären Linken und der organisierten Klassenautonomie zu zertrümmern suchen. Das entspricht dem ‘Klassenauftrag’ der VerteidigerInnen der herrschenden Ausbeutungs- und Eigentumsordnung. Aber wir dürfen dem nicht mit der Anschauung begegnen, das sei ein ziemlich gleichgültiger Vorgang, solange nur die ‘unsterbliche Seele’ der revolutionären Identität gerettet werde, sondern müssen dem damit begegnen, dass wir in der revolutionären Linken die Erkenntnis aufs Tiefste verankern, dass ihre organisatorischen Zusammenhänge, und zwar vor allem ihre bestehenden, für die Konfrontation im Klassenkampf und für ihre Behauptung essentiell sind.

Eine Zerstörung der Organisierungen der revolutionären Linken kann unter den sich zuspitzenden sozio-ökonomischen Bedingungen nur eine zeitweilige, nirgends mehr eine dauernde sein. Zu viel des Optimismus? Wir glauben nein. Protest und Widerstand werden sich Artikulationsmöglichkeiten suchen und dafür werden (zwangsläufig) organisatorische Formen gebraucht, die sich reproduzieren müssen. Außerdem sind uns (reflektierte) Neuanläufe durchaus bekannt, bekannter als uns lieb ist.

Aber auch jede vorübergehende Zerstörung einer Organisierung der revolutionären Linken und der Klassenautonomie bedeutet eine schwere Schädigung und Schwächung des organisierten Klassenkampfes von unten, und die revolutionäre Linke hat alle Vorsicht, aber auch alle Energie aufzubieten, um eine derartige Zerstörung zu verhindern. Das können wir als Prämisse in Stein meißeln.

Von dieser Verständigungsbasis aus gelingt es uns einige Anknüpfungspunkte, von denen ihr in eurer Frage gesprochen habt, zu streifen. Die zweiten und dritten Auswirkungen der kapitalistischen Krise zeigen sich deutlich: der privatkapitalistisch organisierte Ruin wird sozialisiert, die staatskapitalistischen Eingriffe in die Mechanismen der ‘sozialen Marktwirtschaft’ in Form von Milliardenspenden werden der interessierten Öffentlichkeit als ‘Rettungspakete’ verkauft. Die unteren Segmente der Lohnabhängigen, vor allem Zeit- und LeiharbeiterInnen konnten bereits zu Zehntausenden ihren Spind räumen und sich in den Arbeitsagenturen und gegebenenfalls gleich in den Job-Centern an den Schalter der Nummernausgabe stellen. D.h. für uns, dass eine zentrale Auseinandersetzung für unsere Klasse in den Gängen dieser staatlich-repressiven (und zusehends privatisierten) Armutsverwaltung bzw. -regulierung stattfinden wird. Das subproletarische Milieu wird dabei noch tiefer in den Abgrund getreten und stellt faktisch nichts anderes mehr dar, als einen großen Haufen ‘unnützer EsserInnen’. Wir haben einen gangbaren Schritt aus dem Paralysiert-Sein aufzuzeigen, einen Schritt, durch den ‘die Überflüssigen’ einen Hauch von proletarischem Selbstbewusstsein ausstoßen und einen Akt praktizierter Klassenautonomie ausdrücken.

Falls es nicht mehr vollständig erinnerlich sein sollte, wiederholen wir gerne, dass wir keine AnhängerInnen davon sind, in das (sub-)proletarische Milieu von einem äußerlichen Standort kommend zu intervenieren; wir sind integraler Teil der Klasse und haben uns niemals exterritorialisiert. Wenn wir über klassenkämpferisch-sozialrevolutionäre Mittel und Methoden fabulieren, dann denken wir zu wissen, was im Sinne des proletarischen Kampfes für eine klassenlose Gesellschaft ist, und was nicht.

Einen weiteren Anknüpfungspunkt in der Formierung von Protest zu Widerstand sehen wir in dem Angriff auf die Planungsstäbe in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die sich als ‘KrisenbewältigerInnen’ präsentieren und unsere Klasse zum Experimentierfeld ihrer Programme instrumentalisieren. LobbyistInnen aus den diversen Think Tanks sind als ‘parasitäre’ Berufssparte der KrisengewinnlerInnen in einem konjunkturellen Hoch. Hier den einen oder anderen aus der Höhenluft in die Niederungen der dünnen Luft zurück zu holen bzw. auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen zu lassen, halten wir für eine attraktive Vorstellung.

Diese beiden Anknüpfungspunkte, die einen proletarischen Teilzielcharakter unserer Klassenautonomie haben, müssen allerdings eingerahmt sein vom (weltweiten) Kampf für den Kommunismus, sonst bleiben sie bindungslos. Das Klasseninteresse hat jedes Handeln zu leiten. Klar. Ein artikuliertes Klasseninteresse verliert aber oft dann seine Präzision, wenn es auf die realen Verhältnisse angewandt wird. Es verzweigt sich einerseits mit einem unmittelbaren (Partikular-)Interesse, d.h. mit augenblicklichen und Tagesinteressen von Teilen der Klasse in einem Betrieb, einer Branche, einer Region etc., und andererseits mit dem Interesse der Verwirklichung des Endziels einer egalitären und libertären Gesellschaftsform im Weltmaßstab. Gerade der letztgenannte Punkt ist wichtig, betont zu werden; proletarischer Internationalismus kann sich nur darüber vermitteln und durchsetzen.

Jetzt zu unserer Rolle im Krisenspiel. Wir sagen es freimütig heraus: Für uns kommt diese Krise mit der Potentialität der Revolte zu früh. Wir sind mitten im Konstituierungsprozess nach der Umgruppierung und sind noch nicht in dem Maße und auf dem Niveau interventionsfähig, wie wir uns das auf unserer Pinnwand projektiert haben. Das mag selbst-satirisch klingen, ist aber vor dem ernsten Hintergrund formuliert, dass wir nicht dafür taugen, als Projektionsfläche herzuhalten. Deshalb haben wir Verantwortung in allen Bereichen kollektiviert und den unfreiwilligen Status der Alleinunterhalterin abgelegt. Wir werden uns neu gesammelt und umgruppiert im Rahmen dessen, was unsere Kapazitäten aktuell hergeben, einzubringen versuchen und das eine oder andere Zeichen praktischer Art setzen, damit die staatskapitalistisch eingehegte Krise nicht eingedämmt, sondern verschärft wird.

Die proletarisch-revolutionäre Linke trug immer einen Klassenkampf aus, und das Endziel dieses Klassenkampfes, die Aufhebung der Klassenunterschiede insgesamt, war immer eindeutig als Ziel gesetzt. Und das ist auch unsere erklärte Zentralperspektive im Kontext des Kampfes für den Kommunismus!

- Ende -

Quelle: radikal 161, Sommer 2009, Seite 28-54,
http://home.arcor.de/radi161/texte/interview.html

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