Auf Biegen und Beugen
Zweiter Frühling für RAF-Fahnder: Die Bundesanwaltschaft droht ehemaligen RAF-Mitgliedern mit Beugehaft zwecks Erzwingung von Aussagen. Von Oliver Tolmein
30 Jahre nach den tödlichen Schüssen auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter, mehr als zwanzig Jahre nachdem der Prozeß gegen die Mörder geführt und diese zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, im Umfeld der Auseinandersetzung über Begnadigungen und vorgezogene Haftentlassungen sind Maßnahmen gegen die bald rentenberechtigten Ehemaligen des Staatsfeinds Nr. 1 wieder Topthema auf der politischen Agenda: Sollen Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Knut Folkerts in Beugehaft genommen werden, damit sie die Identität des Schützen oder der Schützin enthüllen, der oder die vom Motorrad aus Siegfried Buback getötet hat?
Die rechtliche Grundlage dafür liefert Paragraph 70 der Strafprozeßordnung, der die Möglichkeiten der Strafverfolgungsorgane für den Fall regelt, daß jemand ohne Zeugnisverweigerungsrecht Aussagen oder, in letzter Zeit nicht mehr so brisant, die Leistung eines Eides verweigert. Die Anwendung der Erzwingungshaft hat bereits achtmal das Bundesverfassungsgericht (BVG) beschäftigt - zuerst 1962, als ein Buchhalter des »Stern« vom Amtsgericht Hamburg in Beugehaft genommen werden sollte, weil er keine Auskunft darüber geben wollte, ob für einen Artikel über in Untersuchungshaft genommene Bankräuber Honorare oder sonstige Gelder an Polizei- oder Justizbeamte gezahlt worden waren. Das BVG gab dem Buchhalter recht, weil es in der Erzwingungshaft hier eine Verletzung der Pressefreiheit sah - die Angelegenheit hatte ein Nachspiel, in dessen Verlauf das BVG selbst in zwei weiteren Beschlüssen seine Entscheidung relativierte. Große Auseinandersetzungen über die Vorschrift gab es erst, als Anfang der achtziger Jahre der Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages zur Neuen Heimat Beugehaft gegen das aussageunwillige Vorstandsmitglied des Unternehmens, Lappas, verhängte - eine Maßnahme, die das BVG als rechtmäßig bestätigte. Im Jahr 2000 hob das BVG dagegen eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt auf, das in einem Verfahren gegen die Roten Zellen (RZ) gegen einen Zeugen Beugehaft verhängt hatte, obwohl dieser befürchtete, sich durch seine Aussage selbst belasten zu müssen. Die Verfassungsrichter attestierten dem Landgericht, es habe sich nicht mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Verhängung von Beugehaft auseinandergesetzt.
Im strafprozessualen Alltag unterhalb der Ebene des Verfassungsgerichts spielt die Erzwingungshaft eine Außenseiterrolle, ist aber keineswegs ein Exot: Ob in Drogenverfahren, Prozessen gegen die »Organisierte Kriminalität«, bei Ermittlungen gegen Stasi-Mitglieder, aber auch in ganz gewöhnlichen Mordverfahren kommt sie zum Einsatz - ob das harte Vorgehen der Justiz allerdings Erfolg hat, ist, als käme es darauf gar nicht an, nicht dokumentiert. Aufschlußreich für die Haltung auch des Obersten Bundesgerichts ist immerhin ein Beschluß des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes (BGH) von 1997, der in einem Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« einerseits feststellte, daß Erzwingungshaft nicht angewendet werden dürfe, wenn sie »aussichtslos« erscheine, der gleichzeitig aber argumentierte, eigentlich sei Erzwingungshaft nie aussichtslos: »Die Anordnung von Erzwingungshaft ist zur Erreichung des Ziels, den Zeugen zur Aufgabe seiner jede Aussage verweigernden Haltung zu bewegen, auch nicht deshalb aussichtslos, weil der anwaltlich beratene Zeuge seinen Entschluß, nicht auszusagen, bisher konsequent verfolgt hat.« Es dürfte schwerfallen zu erläutern, was in so einem Fall die Haft, die eine Aussage erzwingen soll, noch von einer Haftstrafe unterscheidet, die das Verweigern der Aussage bestraft - und die hier praktischerweise in einer Art kurzem Prozeß durchgesetzt werden kann.
Ob der BGH gegen Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Knut Folkerts unter Anlegung des gleichen gewollt hoffnungsvollen Credos, demzufolge selbst die konsequentesten Aussageverweigerer vielleicht doch einmal zu reden anfangen könnten, entscheiden wird wie vor zehn Jahren ist allerdings noch nicht ausgemacht. Das liegt zum einen daran, daß die ohnehin etwas verspätet wirkenden Bemühungen der Bundesanwaltschaft, den Mord am damaligen Generalbundesanwalt und seinem Begleit-schutz restlos aufklären zu wollen, nicht nur durch das Schweigen der ehemaligen RAF-Mit-glieder erschwert werden.
Die ohnehin recht vagen Verdachtsmomente, die sich auf Plaudereien des notorisch auf seine eigene Publicity bedachten Mediengehilfen und Zeugen vom Hörensagen Peter-Jürgen Boock stützen, sind dem Bundesamt für Verfassungsschutz offenbar schon seit langem aus anderer, nicht weniger trüber Quelle bekannt: 1982 hatte sich die im November 1977 zusammen mit Günter Sonnenberg verhaftete Verena Becker anscheinend an den deutschen Inlandsgeheimdienst gewandt und dort, auf eine baldige Entlassung hoffend, ihre Version des Attentats auf den Generalbundesanwalt zu Protokoll gegeben, für das sie nicht angeklagt worden war, obwohl es zumindest Indizien für ihre Beteiligung gegeben hatte. Die Verfassungsschützer nahmen ihre Erklärungen freundlich entgegen und halten sie seitdem konsequent unter Verschluß. Sieben Jahre später kam Becker frei, mittlerweile ist sie von der Bildfläche verschwunden - ebenso wie die Akte, aus denen ihre Aussagen, aber vielleicht auch die besonderen Umstände ihres Zustandekommens deutlich werden könnten. Das Kölner Amt weigert sich, nicht weniger konsequent als die drei Beugehaftkandidaten, zur Aufklärung beizutragen und seine Akten, und wäre es nur in Amtshilfe den Ermittlern aus Karlsruhe, zu öffnen. Weder ein erneutes Treffen der Verfassungsschützer mit Bundesanwälten Anfang 2008 noch Forderungen aus den Reihen der Bundespolitik nach Transparenz konnten daran bislang etwas ändern.
Weitere Unklarheiten über die künftige Haltung des BGHs ergeben sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Monate, die sich mit der Strafverfolgung linker, linkester und linksradikalster Gruppen befaßt. Da scheint in den letzten Monaten etwas in Bewegung gekommen zu sein. In zwei Entscheidungen des letzten Jahres (vom 28.11.07 und 20.12.07) hat jeweils der für Staatsschutzsachen zuständige 3. Strafsenat des BGHs der Bundesanwaltschaft in der Anwendung des Paragraphen 129a StGB, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beziehungsweise deren Unterstützung und das Werben für sie unter Strafe stellt, deutliche Grenzen gezogen. Im ersten Verfahren haben die Bundesrichter dafür gesorgt, daß ein angebliches Mitglied der »militanten Gruppe« aus der Untersuchungshaft entlassen werden mußte. Die »militante Gruppe« stellt nach Auffassung des 3. Strafsenats, dem der neue Präsident des Bundesgerichtshofes, Klaus Tolksdorf, vorsitzt, keine »terroristische Vereinigung« dar, weil die ihr zugerechneten 36 Anschläge auf Gebäude und Kraftfahrzeuge staatlicher und nichtstaatlicher Stellen (von der Bundeswehr bis zum Türkischen Industriellen- und Unternehmerverband) »weder für sich noch in ihrer Gesamtheit nach Frequenz und Folgen geeignet (waren), gemessen an dem von der Organisation letztlich verfolgten Endziel, eine erhebliche Schädigung der politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen der Bundesrepublik Deutschland zu bewirken. Eine nennenswerte Beeinträchtigung der Tätigkeit der betroffenen staatlichen und privaten Stellen ist weder eingetreten, noch war sie zu erwarten; die Gesamtschadenssumme beläuft sich zudem nur auf etwa 1.000.000 Euro.« Daß Taten einen Staat oder eine internationale Organisation schädigen können, ist aber eine neue Voraussetzung der 2003 von der damaligen rotgrünen Bundesregierung auf EU-Anforderungen hin überarbeiteten Vorschrift.
Im Dezember dann hob der gleiche Senat einen von der Bundesanwaltschaft gegen Globalisierungsgegner erwirkten Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluß auf, der unter anderem zur Durchsuchung der Roten Flora in Hamburg geführt hatte, weil der Senat keine Strafverfolgungskompetenz der Generalbun-desanwältin erkennen mochte: »Für die Entscheidung ist letztlich ohne Bedeutung geblieben, ob sich - woran allerdings nachhaltige Zweifel bestehen - die beschuldigten Globalisierungsgegner tatsächlich zu einer Vereinigung im strafrechtlichen Sinne zusammengeschlossen haben. Die Zuständigkeit der Strafverfolgungsorgane des Bundes scheidet nämlich jedenfalls aus rechtlichen Gründen aus. Eine von den Beschuldigten etwa gebildete Vereinigung kann - als Folge einer die Strafbarkeit beschränkenden Änderung der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmung (§ 129 a Abs. 2 Nr. 2 StGB) im Jahre 2003 - nicht als terroristische Vereinigung eingeordnet werden.«
Während die Bundesanwaltschaft derzeit bemüht ist, ihre Bedeutung und zentrale Verfolgungskompetenz durch Verfahren herauszustreichen, die weit in die Vergangenheit reichen, die aber auch in der Gegenwart die eigene Zuständigkeit möglichst weit auszudehnen versuchen, tritt der BGH für eine zurückhaltendere, die Staatsschutzvorschriften eng auslegende Linie ein - allerdings auch erst in den jeweiligen Beschwerdeverfahren: Der in der aktuellen Situation zuständige Ermittlungsrichter am BGH, dessen Beschlüsse dann auf eine Beschwerde hin vom 3. Strafsenat aufgehoben wurden, hatte der Bundesanwaltschaft schließlich gegeben, was sie haben wollte. Durchsuchungen und Inhaftierungen konnten deswegen erst einmal ins Werk gesetzt werden. Auch das dürfte der Bundesanwaltschaft helfen, die anschließende juristische Niederlage zu verschmerzen - zumindest solange sie nicht dazu führt, daß künftig die Anträge auf Durchführung solcher Maßnahmen nicht mehr so leicht genehmigt werden.
Wie der BGH jetzt hinsichtlich der beantragten und ebenfalls vom Ermittlungsrichter bewilligten, aber noch nicht vollzogenen Beugehaft gegen Brigitte Mohnhaupt, Knut Fol-kerts und Christian Klar entscheiden wird, hat mit den anderen erwähnten Verfahren nur mittelbar zu tun: Daran, daß die RAF eine »terroristische Vereinigung« im Sinne des Paragraphen 129a StGB war, gibt es auch für den 3. Strafsenat des BGH keine Zweifel - und Beugehaft setzt überdies keine Verbindung zu einem 129a-StGB-Verfahren voraus. Dennoch hat die Entscheidung als Indikator für die Stimmungslage der politischen Justiz einige Bedeutung: Wird es weiterhin mit der RAF eine Gruppe geben, gegen die unerbittlich, quasi-feindstrafrechtlich vorgegangen wird oder setzt sich auch hier allmählich die Normalität eines Justizssystems durch, das sich auch ansonsten keineswegs besonders liberal und bemüht darum zeigt, gesellschaftliche Konflikte zu deeskalieren.
Die Antwort auf die Frage, was im deutschen Frühjahr und Herbst 1977 genau geschehen ist, wer auf wen geschossen hat und wie genau die einzelnen Attentate, Entführungsversuche und Entführungen ineinandergriffen- so viel läßt sich heute bestimmt sagen - bleibt von diesen Auseinandersetzungen unberührt. Die Justiz hat sich an der konkreten Aufklärung, die die Hinterbliebenen verständlicher weise einfordern, nie besonders interessiert gezeigt - und die Täter geben, auch das belegt die Vergangenheit, Antworten nicht unter dem Druck eines Strafverfahrens. Für die Aufklärung, die hier gefordert ist, müssen also andere Wege gefunden werden.