Wenn Worte gefährlich werden
Intellektuelle genießen in Deutschland traditionell selten hohes Ansehen. Wer mit seinen Erkenntnissen und seiner Reputation in gesellschaftliche Kontroversen zieht, gilt schnell als parteiisch oder unseriös. Im Sicherheitsstaat eines Wolfgang Schäuble mutiert der Intellektuelle nun gar zum potenziellen Terroristen. Engagierte Wissenschaft gerät unter Verdacht. Das muss jedenfalls annehmen, wer das jüngste Vorgehen der Bundesanwaltschaft gegen sieben mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) betrachtet.
Vier Männer ließ die Karlsruher Behörde Anfang August verhaften und nach Paragraf 129a unter Anklage stellen, darunter den Berliner Stadtsoziologen Andrej H. Ihm unterstellen die Ermittlungsbehörden eine Art geistige Urheberschaft an den Aktionen der "militanten gruppe". Die nach eigenem Bekunden sozialrevolutionäre Gruppierung hat sich schriftlich für einige Brandstiftungen im Großraum Berlin verantwortlich erklärt, unter anderem an Polizeifahrzeugen. Andrej H., sagt die Bundesanwaltschaft, sei "intellektuell in der Lage" die "vergleichsweise anspruchsvollen" Bekennerschreiben der mg zu verfassen. Zudem forsche er zu Themen, die in den Texten der Gruppe ebenfalls erwähnt würden. Und ein wissenschaftlicher Aufsatz des Soziologen von 1998 enthalte "Schlagwörter und Phrasen", wie sie auch die mg verwende.
Die Ermittler nennen den Begriff "Gentrification", mit dem in der Stadtforschung der Wandel in der Einwohnerschaft von urbanen Quartieren beschrieben wird. Abgeleitet von "gentry", dem niederen Adel, ist je nach Lesart die Aufwertung oder Verbürgerlichung eines Viertels gemeint - und damit verbunden die Abwanderung der ursprünglichen Bewohner. Andrej H. hat diesem Phänomen nicht nur seine Doktorarbeit gewidmet, sondern es als Problem erkannt und zu verhindern gesucht. Bereits Anfang der Neunziger engagierte er sich bei "Wir bleiben alle". Die Initiative wollte den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg für seine damaligen Bewohner erhalten und die Luxussanierung des Viertels verhindern. Doch bald trieben nicht zuletzt steigende Mieten zahlreiche Ostberliner aus ihrem ehemaligen Kiez, die Bevölkerung wurde innerhalb weniger Jahre nahezu komplett ausgetauscht. Andrej H. analysierte das in wissenschaftlichen Aufsätzen wie in Seminaren an der Humboldt Universität und blieb aktiv, zuletzt etwa bei der Berliner Mietergemeinschaft.
Irgendwann muss dies auch den Sicherheitsbehörden aufgefallen sein, denn offenbar wurde der Wissenschaftler observiert. So protokollierten die Beamten zwei Begegnungen des Soziologen mit Florian L. in einem Café. Da beide bestrebt waren, ihre Privatsphäre zu schützen, folgern die Ermittler, die Treffen seien konspirativ - und damit verdächtig - gewesen. Was dort besprochen wurde, wissen sie im Übrigen nicht. Nachdem Florian L. und zwei weitere Männer Ende Juli verhaftet wurden, als sie geparkte Bundeswehrfahrzeuge anzünden wollten, nahm man auch Andrej H. in Gewahrsam. Ihre Überzeugung, damit die "militante gruppe" ausgehoben zu haben, stützt die Bundesanwaltschaft auf die vermeintlichen konspirativen Treffen.
Andrej H. und der Politikwissenschaftler Matthias B. - ebenso wie zwei weitere der sieben Beschuldigten auf freiem Fuß - gelten aber hauptsächlich deswegen als verdächtig, weil sie linke Intellektuelle sind. Aus ihrer Feder sollen die Strategiepapiere und Texte der mg stammen. Als Indizien dienen die Interessen und Kompetenzen der Forscher. Ihr Zugang zu Bibliotheken, ihre Analysefähigkeit und ihre Sachkenntnis gereichen ihnen in der Argumentation der Behörden genauso zum Vorwurf wie ihr Vermögen, Texte zu schreiben. All dies zeichnet Zehntausende von Wissenschaftlern und Publizisten in Deutschland aus; einige Tausend dürfen überdies als gesellschaftlich engagiert gelten. In letzter Konsequenz heißt das: Die alltägliche Arbeitsweise von Akademikern und Autoren - verbunden mit einer dezidiert politischen Haltung und der zufälligen Bekanntschaft mit Menschen, die mutmaßlich eine Straftat begangen haben - kann die eigene Existenz ruinieren.
Derart pauschale Anschuldigungen münden nur deshalb in ein Verfahren, weil das Ausnahmerecht der siebziger Jahre noch immer Gültigkeit besitzt. Das gilt insbesondere für die schwerste Waffe innerhalb des "Lex RAF", den Paragrafen 129a des Strafgesetzbuches. Er ermöglicht einen Schuldspruch auch dann, wenn eine Person keine Straftat begangen hat - außer der, einer "terroristischen Vereinigung" anzugehören, sie zu unterstützen oder für sie zu werben. Damit wird die Unschuldsvermutung umgekehrt: Werden Aktionen in Namen einer Gruppe verantwortet, gilt dies zugleich als individuelles Geständnis. Zugleich verlangt der Paragraf verschärfte Haftbedingungen. Die vier derzeit Inhaftierten verbringen 23 Stunden am Tag in Einzelhaft und dürfen im Monat eine Stunde Besuch empfangen. Jeglicher Kontakt zu ihren Anwälten wird überwacht.
Von einem "nicht rechtstaatlichen" Verfahren spricht die Verteidigung. Die Stadtforscher innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie befürchten, sozialwissenschaftliche Tätigkeit werde "kriminalisiert", die zitierten Begründungen aus dem Haftbefehl seien "eine Beleidigung für wissenschaftlich Tätige".