Tatvorwurf: Forschung

Wissenschaftler wehren sich in einem offenen Brief gegen die Verhaftung des Berliner Soziologen Andrej H.. Sie sehen sich dem Generalverdacht ausgesetzt, Terroristen zu sein. Von Kai Biermann

Entsetzen ist wohl das richtige Wort, um die Reaktion zu beschreiben, die die Verhaftung von Anfrej H. in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgelöst hat. Der Berliner Soziologe wurde am 1. August unter dem Verdacht inhaftiert, Mitglied und Vordenker der „Militanten Gruppe – MG“ zu sein. Gegen die ermittelt die Bundesanwaltschaft, weil sie die MG für eine terroristische Vereinigung nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches hält.

Jetzt haben 61 Wissenschaftler, darunter viele namhafte wie Wilhelm Heitmeyer oder Bruno Flierl, einen offenen Brief an Generalbundesanwältin Monika Harms geschrieben (um den ganzen Brief mit einer Liste der unterzeichnenden Wissenschaftler herunter zu laden, klicken sie hier): „Die Art von Gewaltbefürwortung und –ausübung, wie sie von der ‚militanten gruppe’ praktiziert wird, lehnen wir strikt ab. Zugleich verwahren wir uns aber entschieden gegen die Konstruktion der intellektuellen Täterschaft, wie sie von der Bundesanwaltschaft vorgenommen wird.“

Erstunterzeichner ist der Soziologe Hartmut Häußermann, der Doktorvater von Andrej H. Er findet es einfach nur „beängstigend, dass ihm seine wissenschaftliche Arbeit zur Last gelegt wird“.

Es sind nicht die Vorwürfe an sich, die zu der Verwirrung und zu dem Protest führen, sondern die Art, wie sie von der Generalbundesanwältin formuliert wurden. H. wird vorgeworfen, sich zweimal „konspirativ“ mit einem Mann getroffen zu haben, der Ende Juli mit zwei anderen versuchte, Lastwagen der Bundeswehr anzustecken und der seitdem ebenfalls wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft sitzt. Außerdem soll er Bekennerbriefe und andere Schreiben der MG verfasst haben. So zumindest die Anschuldigungen in den bekannt gewordenen Passagen des Haftbefehls.

Die Professoren schreiben dazu: „Der Bundesanwaltschaft liegen keine Erkenntnisse über den Inhalt der Treffen von Dr. Andrej H. mit dem mutmaßlichen Brandstifter vor. Diese schließt allein aus dem Umstand der beiden Treffen, dass sie allesamt Mitglieder der „militanten gruppe“ sein müssen; nach der Bundesanwaltschaft ist von einer Mitgliedschaft von Dr. Andrej H. in einer terroristischen Vereinigung auszugehen, weil er sich mit Themen beschäftigt, die sich auch in Schreiben der mg wieder finden; eine wissenschaftliche Abhandlung von Dr. Andrej H. von 1998 enthalte „Schlagwörter und Phrasen“, die in Texten der „militanten Gruppe“ gleichfalls verwendet werden (u.a. den in der Stadtforschung gebräuchlichen Begriff der ‚Gentrification’, der die Umstrukturierung von Stadtteilen beschreibt); einem beschuldigten promovierten Politologen stünden „als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen“; er und die weiteren wissenschaftlich Tätigen verfügten über die „intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich sind.“

Für die Unterzeichner des Schreibens, das am 14. August an die Bundesanwaltschaft gesandt wurde, ist das ein Skandal: „Solche Argumente lassen jede wissenschaftliche Tätigkeit als potenziell kriminell erscheinen. Die Begründungen der Bundesanwaltschaft stellen eine direkte Bedrohung für alle dar, die kritische Wissenschaft, Publizistik und Kunst betreiben und für diese mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit einstehen. Kritische Forschung, auch in Verbindung mit sozialem und politischem Engagement, darf nicht zum terroristischen Tatbestand erklärt werden.“

Auch andere fühlen sich durch die Art der Verhaftung bedroht. „Diese Argumentation ist in empörender Weise absurd und spricht allen rechtsstaatlichen Grundsätzen Hohn. Kein Wissenschaftler ist davor geschützt, dass ‚militante Gruppen’ sich aus seinen Texten bedienen. Jedem Wissenschaftler stehen Bibliotheken zur Verfügung, ebenso wie jedem Inhaber eines Bibliotheksausweises. Wer sich in seiner Stadt diskutierend auch im linken Milieu bewegt, kann im Zweifel immer vorgeworfen werden, dass er dabei auch in Kontakt zu ‚Militanten’ gekommen ist. Potenziell steht damit jede Kommunikation mit ‚Radikalen’ unter dem Generalverdacht des Terrorismus.“

Die Worte entstammen ebenfalls einem offenen Brief an Generalbundesanwältin Harms. Geschrieben haben ihn das Mieterforum Ruhr e.V., der MieterInnenverein Witten und Umgebung e.V., der Mieterverein Dortmund e.V. sowie Habitat Netz e.V. und International Network for Urban Research and Action INURA Rhein-Ruhr.

Weiter heißt es dort: „Müssen wir befürchten, dass sich nunmehr alle Stadtforscher und Aktivisten, die sich konsequent und auf hohem intellektuellen Niveau kritisch zur neoliberalen Stadtentwicklung, Privatisierung und Hartz IV äußern, sich dabei als Teil sozialer Bewegung begreifen und ihre Analysen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, im potenziellen Visier der Fahnder befinden?“

Dass die „kritische Wissenschaft unter Generalverdacht“ gestellt werde, fürchtet auch der Wissenschaftliche Beirat des Netzwerks Attac, der sich schon kurz nach der Verhaftung an Harms gewandt und eine Freilassung von H. gefordert hatte. Durch die Vorwürfe werde „kritische Gesellschaftsanalyse nicht nur kriminalisiert, sondern unmittelbar dem Terrorismusverdacht ausgesetzt“, schrieben die Forscher. „Die bekannt gewordenen Begründungen aus dem Haftbefehl sind eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand und würden – wenn sie von der Gesellschaft akzeptiert werden – die Grundlagen jeder kritischen Öffentlichkeit in der freien Gesellschaft zerstören.“

Für drei weitere der Bundesanwaltschaft Verdächtige, die nicht verhaftet wurden, deren Wohnungen aber die Polizei am 31. Juli durchsuchte, ist das Verfahren „Gesinnungsschnüffelei“. Sie schreiben: „Wer wissenschaftliche und journalistische Publikationen zu bestimmten Themen verfasst und Bibliotheken nutzt, macht sich verdächtig. Wer Kontakt zu Menschen hat, die die BAW für verdächtig hält, macht sich auch verdächtig. Wer versucht, sein Recht auf Privatsphäre und Anonymität aktiv zu schützen, macht sich durch die Ausübung dieses Rechtes ebenfalls verdächtig. Kommen bei einem Personenkreis alle drei Verdachtsmomente zusammen, muss es sich in dieser Logik um eine terroristische Vereinigung handeln.“

Der Vorsitzende der Berliner Grünenfraktion hat sich ebenfalls in einem Brief an Harms und auch an H. gewandt. Volker Ratzmann lud darin H. ein, Ende August an einer Fraktionsklausur seiner Partei teilzunehmen und einen Vortrag zum Thema Privatisierung kommunaler Wohnungsunternehmen zu halten. Ratzmann schrieb: „Wir gehen davon aus, dass bis zu diesem Zeitpunkt der gegen Sie verhängte Haftbefehl aufgehoben und das abenteuerliche Konstrukt, mit dem die Bundesanwaltschaft Sie verfolgt, in sich zusammen gefallen ist.“

Wirklich klar ist nicht, was genau Andrej H. vorgeworfen wird und welche Indizien gegen ihn gesammelt wurden. Die Ermittler sind nur mäßig auskunftsbereit. Liest man die Anschuldigungen, bekommt man den Eindruck, dass es dem ermittelnden Staatsanwalt gar nicht so leicht fiel, genügend zu finden. Zumindest aber reichte es dem zuständigen Ermittlungsrichter Ulrich Hebenstreit, der den Haftbefehl unterschrieben hatte. „Ich finde die Vorwürfe so unhaltbar, mir ist gar nicht klar, wie man überhaupt so einen Haftbefehl ausstellen konnte“, sagt Christina Clemm, die Anwältin von H.

Die Ermittlungsakten selbst konnte sie noch nicht sehen, jedoch sei ihr versprochen worden, dass dies noch in dieser Woche geschehen werde. Sie wird viel zu lesen haben, es soll sich um insgesamt 40 Aktenordner handeln. Auch wenn sie noch keinen Einblick hatte, Clemm ist sich sicher, dass es für eine Anklage nicht reichen wird. „Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, wie man die zimmern will.“

Ob H. aber nach der Haftprüfung freikommt, ist fraglich. „Das Problem ist, dass der gleiche Richter dafür zuständig ist wie für den Haftbefehl“, sagt Wolfgang Kaleck, Vorsitzender des Republikanischen Anwaltsvereins und Beistand der drei weiteren Verdächtigen. „Ich weiß nicht, ob er die Größe hat, von seinem Urteil noch zurück zu treten.“