24c3: Guten Rutsch ins Jahr 1984
Der Kongress des Chaos Computer Clubs besprach in diversen Veranstaltungen die Tendenzen des Überwachungsstaates. Rund 500 Leute einer Mini-Demo wünschten den Anwesenden auf dem Alexanderplatz in Berlin ironisch ein schönes neues Jahr 1984.
Das neueste Überwachungsszenario aus Brüssel präsentierten Erik Joseffson und Ricardo Cristof Emmert-Fontes in ihrem Vortrag über die europäische Initiative zur Speicherung von Passagier-Namen, die der Strafverfolgung dienen soll. Die europäische Kommission hat Anfang November im Auftrag des Europäischen Rates einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss präsentiert, das der Europa-Koordinator für die Electronic Frontier Foundation (EFF), Erik Joseffson, in seinem Vortrag heftig in Zweifel zog. Er sagte, dass die Passagierdaten (unter anderem gebuchte Routen, Fluggesellschaften, Autovermietungen) aufgrund der zur Speicherung benutzten alten IBM-Systeme gar nicht gelöscht werden könnten. Joseffson hob auch hervor, wie das technische Unverständnis der Gesetzgeber eine verheerende Gesetzeslage schafft.
Angesichts des bloßen Vorschlag-Status für den europäischen Passenger-Name-Record fragte Linux-Magazin Online Ricardo Remmert-Fontes am Rande des Kongresses, ob hier nicht über ungelegte Eier Alarm geschlagen werde. Der Bürgerrechtler verneinte entschieden: "Nein, eben nicht. Das ist genau das Problem, das wir zur Zeit haben: Es wird erst zu spät darüber geredet." Er begründete die Notwendigkeit einer Diskussion mit der Intransparenz und Zweifelhaftigkeit des europäischen Gesetzgebungsverfahrens: "Plötzlich ist dann so ein Gesetz da. Die Vorratsdatenspeicherung zum Beispiel ist jetzt erst in aller Munde, obwohl das in Brüssel schon seit Jahren Thema ist." Das europäische Arbeitspapier ist auf den Seiten der Europäischen Komission als PDF (200 KByte) auf deutsch verfügbar, ebenso die Vortragsfolien von Joseffson und Emmert-Fontes auf der Vortragsankündigung. Alle Vorträge werden außerdem vom CCC live gestreamt und online zur Verfügung gestellt.
In dem Vortrag berichtete Emmert-Fontes auch über den neuesten Stand zur Massen-Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung. Die Vorratsdatenspeicherung tritt ab 1. Januar 2008 in Kraft (wir berichteten). Am 31. Dezember werden zunächst sieben Einzelpersonen eine gemeinsame Beschwerde einreichen. Wenn diese Beschwerde vom Bundesverfassungsgericht angenommen wird, wird die Massen-Beschwerde Anfang nächsten Jahres nachgereicht. Ungefähr 30.000 Beschwerdeführer sind zusammengekommen, die ihre Vollmacht auf Papier eingereicht haben und damit wirksam Beschwerdeführer geworden sind. Die Verzögerung der Massen-Beschwerde ist eine Vorsichtsmaßnahme, hat aber auch praktische Gründe: Die Organisationen kommen mit der Dateneingabe der Beschwerdeführer nicht hinterher, bekannte Emmert-Fontes gegenüber Linux-Magazin Online.
Das mangelnde Vertrauen in die Gesetzgebungskompetenz sowohl auf Bundes- als auch auf EU-Ebene ist das verbindende Element zu der Kritik an Anti-Terror-Gesetzen, die an sich nichts mit Rechnertechnik zu tun haben. Neben Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner und Hacker-Paragraphen schaffte es auch der Paragraph 129a (Bildung einer terroristischer Vereinigung) in das traditionelle Hacker-Jeopardy. Bei Jeopardy wird eine Antwort gezeigt, wofür der Kandidat die Frage finden muss. Für die Überwachungstendenzen gab es dieses Jahr auf dem Kongress eine eigene Rubrik mit dem Namen "SnW" (Schöne neue Welt), in der eine Antwort zum Beispiel lautete: "Dieser Paragraph macht alle Mitglieder des CCC zu Kriminellen."
Der Paragraph 129a war auch Gegenstand eines Vortrags, der die persönliche Geschichte von Anne Roth und Andrej Holm erzählte. Deren Familie wurde aufgrund des Beschuldigung wegen Mitgliedschaft bei der MIlitanten Gruppe überwacht. Die Geschichte ist zusammen mit Links auf die Medienberichterstattung in Anne Roths Blog zu finden.
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und der Förderverein für freie informationelle Infrastruktur (FFII) hatten eine Demonstration auf dem Alexanderplatz angemeldet. Große Papppfeile mit den Schriftzügen "Blogger", "Extremist" oder "Viagra" wanderten über den Köpfen der rund 500 Teilnehmer und deuteten abwärts auf die Umstehenden, die unter Beobachtung der Berliner Polizei einmal den Alexanderplatz umrundeteten. Skandiert wurde "Wir wollen keinen Überwachungsstaat" und "Freiheit statt Angst", zum Abschluss wünschten die Versammelten der Allgemeinheit einen "guten Rutsch in das Jahr 1984".
Der Kongressbesucher Aram sorgte mit seinem Chat-Projekt für Aufmerksamkeit. Hierbei überträgt ein Beamer Botschaften auf eine weiße Leinwand in Sprechblasenform, wobei Beamer und Leinwand auf einer von einer Person tragbaren mechanischen Konstruktion zwei Meter über den Köpfen befestigt sind. Die Botschaften tippt ein zweiter Beteiligter in eine vor seinem Bauch befestigte Funktastatur, die den Text an einen dem Beamer verbundenen Laptop des Leinwandträgers übermittelt. Wenn zwei oder mehr dieser Installationen getragen werden, ist ein Dialog möglich, daher der Name des Projekts. Der Medienkünstler Aram sagte schmunzelnd zu Linux-Magazin Online: "Das läuft auf Windows, man hat mich hier schon ausgelacht."