Bilanz ein halbes Jahr danach. Der G8-Gipfel und die Justiz

Ein halbes Jahr nach dem G8-Gipfel beschäftigt dieser weiter die Justiz: Ob Razzien vor dem Gipfel, Krawalle in Rostock oder Klagen gegen Polizei-Käfige - verurteilt wurden in den rund 1500 Verfahren bisher nur wenige Beschuldigte. Kritiker sehen das als Beweis für polizeiliche Willkür.

Von Fiete Stegers

Landfriedensbruch, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung, Sachbeschädigung, Beleidigung, Brandstiftung oder Verstöße gegen das Versammlungsgesetz - die Liste der Anschuldigungen gegen G8-Gegner war lang. Aber nur in rund einem Zehntel der Verfahren, die die zuständige Staatsanwaltschaft Rostock bisher im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel einleitete, wurden die Beschuldigten am Ende verurteilt oder gegen sie ein Strafbefehl ausgesprochen. "Einen justiziellen Offenbarungseid erster Ordnung", nennen es Rostocker Globalisierungskritiker.

1474 Ermittlungsverfahren hatte die Staatsanwaltschaft Rostock bis Mitte November gegen Demonstranten eingeleitet und die meisten davon auch bereits abgeschlossen. Gegen rund 1000 Beschuldigte wurden die Verfahren eingestellt, bevor es zu einer Anklage vor Gericht kam - in rund der Hälfte dieser Fälle deshalb, weil den Beschuldigten nichts nachgewiesen werden konnte. In den übrigen Fällen handelte es lediglich um Ordnungswidrigkeiten, oder die Staatsanwaltschaft ging nur von geringer Schuld aus.

Freigesprochen wurde beispielsweise ein 19-jähriger aus Göttingen: Der Freizeit-Rugbyspieler hatte einen Gummi-Zahnschutz bei sich getragen, weshalb er von der Polizei als potenzieller Gewalttäter mit "Schutzbewaffnung" eingestuft wurde. Ähnlich habe die Polizei in vielen Fällen gehandelt, so der Vorwurf der Hamburger Rechtsanwältin Britta Eder, die mehrere G8-Gegner vertritt und im Vorstand des Republikanischen Anwaltsvereins aktiv ist.

Anklage oder Strafbefehl nur in 147 Fällen

Anklage erhoben oder ein Strafbefehl ausgesprochen wurde in 147 Fällen. Rechtskräftig verurteilt wurden bis Mitte November 44 Personen, fast alle davon zu Geldstrafen. Mehrere Angeklagte wurden wegen Steinwürfen zu mehrmonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt.

Der Rostocker Oberstaatsanwalt Peter Lückemann deutet die Zahlen anders: "Insgesamt übersteigt die Sanktionsquote von mehr als 30 Prozent sogar den bundesweiten Durchschnitt, so dass die verbleibende Einstellungsquote gerade nicht auf besonders viele von vornherein nicht haltbare Vorwürfe der Polizei schließen lässt." In seine Quote rechnet der Jurist allerdings auch Verfahrenseinstellungen gegen Geldauflagen und -bußen mit ein.

Kritiker: Polizei handelte nach Gutdünken

Während des Gipfels kam es Kritikern wie Anwältin Eder zufolge zu haltlosen Beschuldigungen und massenhaftem rechtswidrigen Verhalten der Polizei gegenüber Demonstranten: "Die Beamten machen erst einmal, was sie wollen, und sagen den Demonstranten: 'Sie können ja dagegen Beschwerde einlegen.'" Das haben etwa 14 Globalisierungskritiker mit Unterstützung durch Eder und den Republikanischen Anwaltsverein getan. Sie werfen der Polizei willkürliche und menschenunwürdige Inhaftierung in durchgehend beleuchteten und videoüberwachten Großkäfigen vor. Die Kläger gehören zu einer Gruppe von 193 Personen, die in einem Waldstück von der Polizei festgenommen wurden, nachdem in der Nähe eine brennende Barrikade errichtet worden war.

Die Rostocker Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben 64 Verfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet, meistens wegen Körperverletzung im Amt und Freiheitsberaubung. Angeklagt wurde bisher ein Polizist aus Bayern. In allen anderen Fällen seien "die Strafanzeigen unbegründet oder die Straftaten nicht nachzuweisen" gewesen, so die Staatsanwaltschaft.

Abhörmaßnahmen gegen G8-Gegner

Rechtsanwältin Eder vertritt auch einen der Betroffenen, die bereits vor dem G8-Gipfel mit der Polizei in Kontakt kamen: Der Mann zählte zu den Verdächtigen bei der großen Razzia in der linken Szene im Mai. Bei der Durchsuchungsaktion im Auftrag der Generalbundesanwältin (GBA) wurde bei Eders Mandant offenbar auch eine Wanze installiert: Ein Behördenschreiben informierte ihn gut sechs Monate später über die Abhörmaßnahmen.

Wurden noch weitere verdächtige G8-Gegner belauscht? "Dazu können wir nichts mitteilen", sagt Frank Wallenta, Sprecher der GBA. "Aber es gibt ja Fristen." Ohne Ausnahmegenehmigung müssen die Ermittler die Belauschten spätestens sechs Monate nach Ende der Aktion darüber benachrichtigen.

Für Aufsehen hatte bei den Razzien auch die Entnahme von Geruchsproben von Verdächtigen gesorgt. Diese seien inzwischen längst vernichtet, versichert GBA-Sprecher Wallenta. Das sei "ein bis zwei Woche" nach der Entnahme so üblich, wenn sich keine weiteren Hinweise durch die Proben ergäben.

Nichts sagen kann Wallenta dazu, ob sich denn inzwischen durch Durchsuchungen und Abhöraktionen der Verdacht gegen die 18 Gipfelgegner erhärtet hat, gegen die wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§129a Strafgesetzbuch) ermittelt wird. Es seien bei der Razzia "in großem Umfang" Speichermedien sichergestellt und die Daten kopiert worden. Diese müssten noch ausgewertet werden.

"Wir haben inzwischen Teilakteneinsicht von der Anklage bekommen - 33 Aktenordner", sagt Rechtsanwältin Eder. Aber die Grundlage, aufgrund der die Durchsuchungen vom Ermittlungsrichter erlaubt wurden, sei für sie daraus immer noch nicht ersichtlich. Sie hält nicht nur deshalb den Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung für fragwürdig.

Was sagt der Bundesgerichtshof?

Zusätzliche Brisanz erhält diese Einstufung deshalb, weil der Bundesgerichtshof sie jüngst in einem anderen Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft - gegen die linksextremistische "Militante Gruppe" - auch für nicht gerechtfertigt sah. Sollte der BGH im Fall der Razzien womöglich ähnlich entscheiden, handele es sich "immer noch um Staatsschutzvergehen", betont GBA-Sprecher Wallenta. Für das Ermittlungsverfahren mache dies aber keinen Unterschied, sondern nur bei einer späteren Verurteilung. Rechtsanwältin Eder bezweifelt hingegen, dass ohne Terror-Einstufung der Verdacht ausgereicht hätte, um die Generalbundesanwältin einzuschalten und den Lauschangriff zu rechtfertigen.