Tatbestand Soziologie
Selten waren sich Wissenschaftler diesseits und jenseits des Atlantik so einig wie im Fall des Berliner Stadtsoziologen Andrej H.. H. war vor zwei Wochen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet worden und sitzt seitdem in der JVA Moabit in Einzelhaft.
In der Begründung der Bundesanwaltschaft heißt es unter anderem: Eine von H. "veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung enthält Schlagwörter und Phrasen, die in Texten der 'militanten gruppe' ebenfalls verwendet werden." Gegen die "militante gruppe" (mg), auf deren Konto zahlreiche Brandanschläge gehen, ermittelt die Bundesanwaltschaft schon lange - bislang ohne Erfolg.
Namentlich der Vorwurf einer intellektuellen Urheberschaft ist es, der in der Wissenschaftsszene für Unruhe sorgt. In einer Erklärung von Teilnehmern der Jahrestagung der American Sociology Association in New York heißt es: "Wir verwahren uns aufs Schärfste gegen den unglaublichen Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten." Zu den Erstunterzeichnern dieses an Generalbundesanwältin Monika Harms gerichteten Schreibens gehört die Prominenz der US-Stadtforschung, unter ihnen Saskia Sassen, Richard Sennett, Peter Marcuse und Mike Davis. Unterschrieben haben auch Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin sowie Elmar Altvater und Margit Mayer von der FU Berlin.
Doch nicht nur die Teilnehmer der New Yorker Tagung sind in Sorge, wohin die Ausweitung des Tatbestands einer terroristischen Vereinigung führen kann. Auch an der Berliner Humboldt-Universität hat sich um den Stadtsoziologen Hartmut Häußermann eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern versammelt, die die sofortige Einstellung der Ermittlungen gegen H. fordert. Argumente wie die der Bundesanwaltschaft, heißt es in der Erklärung, die neben Häußermann von Wilhelm Heitmeyer, Claus Offe, Michael Bodemann, Wolfgang Kaschuba und Wolfgang Engler unterschrieben wurde, "lassen jede wissenschaftliche Tätigkeit als potentiell kriminell erscheinen".
Tatsächlich entblödet sich die Bundesanwaltschaft nicht, gegen einen weiteren Verdächtigen mit der Begründung zu ermitteln, ihm stünden "als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen".
Sollte diese Begründung Schule machen, muss künftig jedes Soziologieseminar im Moabiter Knast stattfinden. Besser aber wäre es, die Bundesanwälte würden noch einmal ein paar Semester an die Uni gehen.