Der Terror aus der Bibliothek

Wissenschaftlich arbeiten ist wieder gefährlich und wird, ehe man sich versieht, mit Freiheitsentzug bestraft. Das befürchten Wissenschaftler der Humboldt-Universität, vorneweg der bekannte Stadtsoziologe Hartmut Häußermann, der zusammen mit rund sechzig Stadtplanern, -soziologen und -theoretikern aus verschiedenen Städten in einem offenen Brief an die Bundesanwaltschaft gegen die Inhaftierung ihres Berliner Kollegen Andrej H. protestiert. Andrej H., Lehrbeauftragter für Stadt- und Regionalsoziologie an der HU, wird verdächtigt, eine terroristische Vereinigung namens "Militante Gruppe" unterstützt zu haben, die in Berlin und Brandenburg zahlreiche Autos angezündet haben soll. Von Harald Jähner

Die Wissenschaftler sind alarmiert, weil sich die gegen Andrej H. sprechenden Indizien hauptsächlich auf seine wissenschaftliche Arbeit beziehen. Zwar soll sich Andrej H. zweimal mit einem mutmaßlichen Mitglied der "Militanten Gruppe" getroffen haben, ohne dass die Staatsanwaltschaft weiß, was dort besprochen wurde. Die übrigen Verdachtsmomente liegen aber in der Forschungsarbeit begründet. In den wissenschaftlichen Texten des promovierten Soziologen fänden sich laut Bundesanwaltschaft "Schlagwörter und Phrasen", die in den Texten der "militanten Gruppe" gleichfalls verwendet würden, darunter der in der Stadtforschung gebräuchliche Begriff der "Gentrification". Gemeint ist damit die schrittweise Veränderung ganzer Stadtteile durch den Zuzug von Studentenszene und Kunstboheme, denen im zweiten Schritt gutverdienende etablierten Familien folgen, wodurch die ärmeren Schichten nach und nach verdrängt werden - ein sozialer Entmischungsprozess, der im Prenzlauer Berg bestens zu studieren ist.

Andrej H. veröffentlichte zuletzt das Buch "Die Restrukturierung des Raumes - Machtverhältnisse in der Stadterneuerung im Ostberlin der 90er-Jahre." Er arbeitet intensiv an einem europäischen Netzwerk von Stadtforschern namens "The urban experience". Die Wissenschaftler der Humboldt-Universität vermuten besorgt, dass ihn gerade diese Tätigkeit in den Augen der Bundesanwaltschaft verdächtig macht. Deren Ermittler argumentieren nämlich, Andrej H. stünden "als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen". Verdächtig mache ihn auch seine Intelligenz. Er verfüge über die "intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich sind". Vielleicht ist es wirklich sicherer, doof zu sein.