Türkisches Exempel

"Guantánamo in Germany." So lautete der Vorwurf internationaler Wissenschaftler, als ein Berliner Soziologe kürzlich unter Terrorverdacht verhaftet wurde. Was war geschehen? Der Verdächtige ist nach Ansicht der Bundesanwaltschaft Mitglied der "militanten gruppe". Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs sah das auch so und erließ einen Haftbefehl. Nach drei Wochen setzte er den Beschuldigten gegen Auflagen auf freien Fuß, und ein Senat des Bundesgerichtshofs hob den Haftbefehl später ganz auf.

Genau da liegt der Unterschied zwischen Rechtswillkür und Rechtsstaatlichkeit: in der unabhängigen, richterlichen Kontrolle einer staatlichen Freiheitsentziehung. Besonders streng ist sie zu beachten, solange noch kein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Die Untersuchungshaft hat den Zweck, den Anspruch der Gemeinschaft auf Aufklärung einer Tat und die zügige Bestrafung des Täters durchzusetzen. Dabei gilt schon nach der Europäischen Menschenrechtskonvention: Jeder, der einer Straftat angeklagt ist, gilt "bis zum gesetzlichen Beweis" seiner Schuld als unschuldig. Er muss unverzüglich einem Richter vorgeführt werden und hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist - oder auf Entlassung aus der Haft. Notwendig ist ein dringender Tatverdacht, der aber für sich genommen eine Fortdauer der Haft nicht rechtfertigen kann. Auch bei der Beurteilung der Fluchtgefahr ist nicht allein die Höhe der zu erwartenden Strafe entscheidend. Je länger die Untersuchungshaft dauert, desto besser muss sie begründet sein.

Deshalb verdient der Fall Marco W. alle Aufmerksamkeit. Gegen den Minderjährigen ist in der Türkei ein schwerwiegender Vorwurf erhoben worden. Und da er dort Ausländer ist, konnte bei ihm auch Fluchtgefahr angenommen werden. Doch der Fortgang des Verfahrens lässt an der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung zweifeln. Seit einem halben Jahr sind Ermittlungsfortschritte nicht zu erkennen. Dennoch versteift sich das türkische Gericht darauf, die Aussage der britischen Hauptbelastungszeugin abzuwarten. Damit aber stellt es die Dauer der Untersuchungshaft in das Belieben der Kläger. Offenbar soll ein Exempel statuiert werden: Zum Beweis ihrer Unabhängigkeit will sich die türkische Justiz nicht von außen beeinflussen lassen.

Und hat sie sich nicht auch europäische Verfahrensordnungen bei der Reform ihres Rechtssystems zum Vorbild genommen? Hier zeigt sich, dass der Fall auch ein Exempel anderer Art ist: Man kann Regelungen dem Buchstaben nach übernehmen, ohne sie mit rechtsstaatlichem Geist zu füllen. Der Europäischen Union sollte das eine Lehre sein. Den "acquis" zu übernehmen, den Bestand des europäischen Gemeinschaftsrechts, ist eine Sache; eine andere ist es, europäische Grundregeln auch einzuhalten. Bestimmte Fundamentalnormen, wie die der Menschenrechtskonvention, gelten schon seit mehr als fünf Jahrzehnten auch für die Türkei. Ein Blick in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg zu zahlreichen türkischen Verstößen sagt mehr über die Beitrittsreife des Landes als viele Verlautbarungen aus Ankara und Brüssel.

Darüber hinaus ist der Fall Marco W. ein weiteres Beispiel dafür, dass ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa bisher nur ein Ziel ist. Zwar kann nahezu jeder für wenige Euro in wenigen Stunden überall auf dem Kontinent sein. Und er mag auch erwarten können, dass die Hotelstandards an seinem Urlaubsort den hiesigen entsprechen, und das hierzulande einklagen. Aber für die Durchsetzung von Freiheitsrechten gilt das eben nicht - und zwar nicht nur im Verhältnis zur Türkei.

Die Debatte über den Europäischen Haftbefehl und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu haben zahlreiche Hinweise auf grundlegende Unterschiede im EU-Rechtsraum geliefert. Einen Ruf nach Rumänien als Professor würde er nicht annehmen, sagte etwa der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung mit Blick auf rechtsstaatliche Defizite. Aber auch unter den alten EU-Staaten gibt es deutliche Unterschiede. So unterbanden die Karlsruher Richter die Auslieferung eines Serben von Deutschland nach Italien. Gegen ihn war dort in Abwesenheit ein Strafurteil ergangen, obwohl er über das Verfahren nicht unterrichtet war und auch nachträglich keine Möglichkeit hatte, sich wirksam zu verteidigen. Zwar haben die deutschen Gerichte die Rechtmäßigkeit eines ausländischen Urteils in einem solchen Fall in der Regel nicht zu prüfen. Doch hier sah das Verfassungsgericht den Serben zum bloßen Gegenstand eines staatlichen Verfahrens gemacht. Und das war mit den "unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen" der deutschen öffentlichen Ordnung unvereinbar.

Der Fall des Marco W. erinnert an solche Unterschiede. Wer ins Ausland reist, muss bedenken, dass er sich damit auch von der ihm vertrauten Ordnung entfernt. Das mag sogar ein Ziel des Urlaubs sein. Doch sehr schnell kann die andere Ordnung fremder werden, als einem lieb ist - auch in der Nachbarschaft Europas.

Text: F.A.Z., 01.11.2007, Nr. 254 / Seite 1, Leitartikel von Reinhard Müller