Vom Leben als Terrorist
„Die in den bisherigen Ermittlungen aufgedeckten Indizien sprechen nicht hinreichend deutlich für eine mitgliedschaftliche Einbindung des Beschuldigten in die ‚militante gruppe’, sondern lassen sich ebenso gut in anderer Weise interpretieren.“ Dieser Satz des Bundesgerichtshofs, der fast wie ein Freispruch klingt, ist der Grund dafür, dass Anne H. gerade gute Laune hat. Denn mit dieser Begründung hoben die Richter am vergangenen Mittwoch den Haftbefehl auf, der bis dahin für ihren Lebensgefährten Andrej H. galt. Wirklich erleichtert ist sie allerdings nicht, bedeutet es doch, dass der Staat, der vor kurzem in ihr Leben trat, sich noch weiter für sie interessiert.
„Was uns passiert ist kann ausreichen, um echte psychische Probleme zu bekommen“, sagt Anne. Sie sitzt in einem Café in Berlin-Prenzlauer Berg und wirkt vergleichsweise gelassen. Doch wenn sie erzählt, glaubt man ihr schnell, dass die Gelassenheit nur der Versuch ist, irgendwie weiterzumachen und nicht verrückt zu werden.
Andrej H. war bis vor wenigen Wochen in erster Linie Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität und Familienvater. Seit dem 31. Juli ist er ein mutmaßlicher Terrorist. An diesem Tag verhaftete die Polizei in Brandenburg an der Havel drei Männer bei dem Versuch, Lastwagen der Bundeswehr in Brand zu stecken. Das BKA glaubt, mit ihnen endlich einen Teil der „militanten gruppe (mg)“ gefunden zu haben – eine klandestine linksradikale Vereinigung, die gerne aus Protest Dinge ansteckt und seit Jahren gesucht wird.
Andrejs Problem ist, dass er in der linken Szene Berlins aktiv ist, einen der drei Verhafteten kannte und dass Passagen aus den Bekennerschreiben der mg so klangen wie Texte, die er zu seinem Forschungsgebiet veröffentlicht hat, der Stadtsoziologie.
Die Bundesanwaltschaft hält ihn für so etwas wie den geistigen Kopf der Gruppe, auch wenn sie es so nicht sagt. Gleichzeitig ist sie der Ansicht, dass es sich bei der mg um Terroristen handelt. Daher ermittelt sie nach dem Paragrafen 129a gegen Andrej H. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Es gibt kaum eine schärfere Waffe im deutschen Strafrecht als den Paragrafen 129a. Er gestattet so gut wie jede Maßnahme, die ein Rechtsstaat gegen seine Bürger einsetzen kann: Hausdurchsuchung, U-Haft, Reiseverbot und nahezu lückenlose Überwachung von Familie, Freunden, Bekannten, Kollegen. Telefon, Wohnung, Arbeit – alles darf ausgespäht, durchsucht und durch Spitzel unterwandert werden, wenn jemandem vorgeworfen wird, Terrorist zu sein.
Aus Sicht eines Staates ist das auch dringend geboten, bedeutet Terrorismus für ihn und seine Bürger doch eine ernste Bedrohung. Der Fall Andrej H. zeigt aber, wie schwierig es ist, zu entscheiden, ab wann der Stempel "Terror" zulässig ist. Denn wenn die Mittel besonders mächtig sind, ist eine Abwägung ihres Einsatzes besonders wichtig.
„Ich glaube, dass meine Kinder mich davor gerettet haben, zusammenzubrechen“, erzählt Anne H. „Ich musste ja, als das BKA bei uns in der Wohnung stand und Andrej gefesselt auf dem Sofa saß, funktionieren. Was tut man, wenn man in so einer Situation die Anweisung bekommt, seine Kinder anzuziehen, mit Frühstück zu versorgen und aus der Wohnung zu schaffen? Man befolgt sie.“
Der Morgen, den Anne H. beschreibt, bedeutete das Ende ihres bisherigen Lebens. Fast 15 Stunden lang durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamts die gemeinsame Wohnung, nahmen mehrere Computer, Papiere und ihren Lebensgefährten mit. Drei Wochen saß er anschließend im Gefängnis in Berlin-Moabit in Untersuchungshaft.
In diesen drei Wochen lernte Anne H. viel über ihr neues Leben. Angefangen von Kleinigkeiten: ob man einem Häftling Zeitungen schicken darf und wie er krankenversichert ist beispielsweise. Bis hin zu den großen Dingen: „Sie werden jetzt immer dabei sein“, sagte ihr ihre Anwältin Christina Clemm. Sie, das sind die Polizisten des Bundeskriminalamts. Und dass sie das Mobiltelefon besser nicht mehr ausschalte und immer mitnehmen solle, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, etwas verbergen zu wollen, lernte Anne H. auch.
„Natürlich will man einerseits nicht überwacht werden“, sagt sie. „Andererseits wünscht man es sich fast und denkt, vielleicht wäre es besser, sie würden wirklich alles mitkriegen – damit sie uns nicht vorwerfen können, nicht überwachbar gewesen zu sein.“ Denn das, erzählt sie, sei schon geschehen. In den Ermittlungsakten steht, es sei nicht auszuschließen, dass Andrej H. an einem bestimmten Brandanschlag beteiligt war. Schließlich habe man nicht dokumentieren können, ob er an diesem Tag das Haus verließ oder nicht. „Die Kamera konnte es nicht aufnehmen, weil zu viele Blätter an den Bäumen waren.“
Es ist die ständige Angst, diese Selbstüberprüfung, ob irgendeine banale Handlung im Sinne der Anklage gedeutet werden könnte, was mürbe macht. „Da bekommt man Zwirbel im Hirn“, sagte Anne H., „da wird man doch paranoid.“
Der Paragraf 129a, der die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt, gilt unter Kritikern als sogenannter Ermittlungsparagraf. Verfahren mit diesem Vorwurf als Begründung machen es der Polizei möglich, in ihr verschlossene Szenen einzudringen. Zu Verurteilungen kommt es selten, fast immer aber zu Hausdurchsuchungen und Überwachungen. Aus Sicht des Staates ist der 129a eine effektive Möglichkeit zu erfahren, was jemand plant und wen er trifft - egal, ob sich der Vorwurf am Ende aufrecht erhalten lässt oder nicht.
Anne H. nennt es ein Leben im Schaufenster: „Zu wissen, dass wenn ich im Schlafzimmer die Gardine aufziehe, gegenüber eine Kamera ist, die ich nicht sehen kann, und die mich im Bademantel aufnimmt.“
„Die bisherigen Ermittlungen belegen zwar die Einbindung des Beschuldigten in die linksextremistische Berliner Szene“, schreibt der Bundesgerichtshof in seiner Begründung zur Freilassung H’s. Eine „große Wahrscheinlichkeit“ aber, dass er Straftaten beging oder Mitglied einer Terrorgruppe ist, bestehe nicht. Die Überwachung aber, die bereits länger als ein Jahr dauert und lange vor der Verhaftung begann, geht weiter. Die Bundesanwaltschaft hat ihre Ermittlungen noch nicht beendet. Einen Prozesstermin gibt es bisher nicht.
Am Telefon, erzählt Anne H., könne sie inzwischen relativ unbefangen reden. „Dann hören sie eben, dass ich sauer bin, weil Andrej den Einkauf vergessen hat. Wenn sie uns ein Jahr lang belauscht haben, kennen sie uns sowieso relativ gut und wissen, dass wir wie alle Paare manchmal streiten.“ Sie hätten das Telefon auch schon genutzt, um dem BKA das eine oder andere mitzuteilen. „Wenn sie unsere Handys aktivieren, gibt es Rückkopplungen im Fernseher, dann krisselt es, was ziemlich nervig ist, wenn man fernsehen will.“ Also habe sie ihre Mutter angerufen und gesagt, dass sie nicht mit ihr, sondern mit dem BKA reden wolle, und dass sie bitte das Funken einstellen mögen, damit sie in Ruhe ‚Tatort’ schauen könne. Sonst werde sie das Handy ausschalten. „Es hat dann aufgehört. Das fand ich schon sehr surreal.“
Doch diese scheinbare Normalität, das kurze Verdrängen der Situation, gelinge ihr nur, weil sie die Überwacher nicht sehe. Anne H. weiß, dass es letztlich nur eine Illusion ist, dass sie sich nicht wird daran gewöhnen können. „Beim Besuch im Gefängnis war es wie Theaterspielen. Da sieht man, dass jemand daneben sitzt und mitschreibt, was wir reden.“
Vor kurzem fing Anne H. an, ihre Erlebnisse im Weblog annalist.noblogs.org festzuhalten. „Ich dachte, wenn ich das nicht aufschreibe, glaubt mir das in einem Jahr niemand mehr.“ Außerdem helfe es ihr dabei, mit der Angst und den Druck fertig zu werden. „Es tut gut, zu sehen, dass so viele Menschen nicht glauben, dass Andrej ein Terrorist ist.“ Und ihrem Verlobten könne es auch nutzen: „Sowohl Staatsanwalt als auch Ermittlungsrichter haben uns deutlich zu verstehen gegeben, dass die öffentlichen Reaktionen sie richtig genervt haben.“
Doch die Öffentlichkeit nervt nicht nur die Ermittler. Auch Anne H. ist nicht begeistert, dass ein solches Verfahren haufenweise Aufmerksamkeit erzeugt. Für andere Ermittlungen interessiert sich kaum jemand, Terrorverdächtige jedoch erregen schnell Aufsehen. „Wir sind vorher ganz normale Menschen gewesen, die niemand kannte. Nun in dieser Art in der Öffentlichkeit zu stehen, ist zumindest gewöhnungsbedürftig.“