Andrej H. ist frei - die Überwachung bleibt
Damit entschied sich der BGH gegen Generalbundesanwältin Monika Harms, die gehofft hatte, das BGH würde H. wieder in Haft nehmen lassen. Für den Beschuldigten und seine Verteidiger ist dies allerdings nur ein Teilerfolg, denn das BGH erklärte in der Pressemitteilung auch, dass durchaus ein "Anfangsverdacht" bestünde, weshalb die Ermittlungen gegen ihn rechtens seien - und somit wohl inklusive der Überwachungsmaßnahmen auch weiter geführt werden.
Des BKAs schärfste Waffe: Google
Mitte letzten Jahres hatten die Ermittler des BKA anscheinend genug davon, in den Ermittlungen gegen die seit einigen Jahren immer wieder mal Autos der Bundeswehr oder der Polizei anzündenden "millitante(n) gruppen (mg)" im völligen Dunkeln zu tappen. Sie beschlossen zu der schärfsten und gefürchtetsten Waffe zu greifen, die ein Ermittler einsetzen kann: Google. Flugs isolierten sie in den Bekennerschreiben der (mg) neun Worte, die offenbar nur Terroristen in ihrem Wortschatz haben: Darunter nach Informationen der Frankfurter Rundschau Worte wie "Reproduktion", "implodieren", "politische Praxis", "drakonisch", "marxistisch-leninistisch" sowie die soziologischen Alltagsbegriffe "Gentrifikation" und "Prekarisierung".
Und siehe da: Die Wunderwaffe Google rechtfertigte ihren Einsatz, denn schnell stießen die Ermittler auf einen Text eines Politologen aus Leipzig, den dieser im Jahr 1998 in der linken Zeitschrift Telegraph veröffentlichte, in dem es um die Entwicklung des Kosovo ging. Dieser Politologe wiederum kennt den politisch aktiven Andrej H.
Grund genug für das BKA, Andrej H. einer einjährigen totalen Überwachung zu unterziehen. Die Hauseingänge des Miethauses, in dem er und seine Familie wohnen, wurden rund um die Uhr per Video überwacht, Telefone abgehört, H. und Familie persönlich observiert.
Konspirativer Umgang mit Mobiltelefonen
Als dann im Sommer dieses Jahres drei junge Männer bei dem Versuch in Brandenburg einen Lastwagen der Bundeswehr anzuzünden festgenommen wurden, war für die Ermittler der Fall klar: Mit einem dieser Drei hatte sich Andrej H. fünf Monate zuvor getroffen. Aus Sicht des BKAs begangen sie dabei eine schwere Sünde: Die beiden machten ihre Mobiltelefone aus und vereitelten damit eine weitere Observierung. Von der wussten sie zwar zu dem Zeitpunkt nichts, für die Generalbundesanwältin allerdings ist dies ein "konspiratives" Verhalten und damit Beweis genug. Andrej H. wurde verhaftet. Knapp einen Monat später dann aber aufgrund einer Entscheidung eines BGH Ermittlungsrichters vorläufig auf freien Fuß gesetzt - Haftverschonung nennt sich das. Dagegen klagte die Bundesanwaltschaft (BAW) - und verlor gestern. Nicht nur war die Haftverschonung rechtens, der ganze Haftbefehl ist nicht aufrecht zu halten.
Technische Pannen und emotionale Folgen - Die totale Überwachung
Weil aber die BAW nicht nur aus Angst vor dem totalen Gesichtsverlust so schnell nicht von ihrem Terroristenverdacht gegen H. abweichen wird, ist damit zu rechnen, dass die totale Observation weiter geht. Welche Ausmaße das annimmt, lässt sich gut auf dem Blog der Lebensgefährtin Andrej H.s nachlesen. Von den Pannen und Peinlichkeiten seitens des BKAs erfährt man ebenso, wie von der emotionalen Belastung, die sich einstellt, wenn man jedes Wort und jeden Schritt daraufhin überprüft, ob die Lauscher und Zuseher daraus eventuell einen Beweis konstruieren könnten - so fern das Blog erreichbar ist, nicht selten braucht es sehr lange, um geladen zu werden.
So erfährt man dort zum Beispiel, wie es war, als wenige Tage, nachdem Andrej H. vorläufig aus der Haft entlassen wurde, die Ermittler wieder vor der Tür standen - um "Beweismaterial zu sichern". In einem Telefonat mit H. kurz zuvor hatte dessen Mutter davon gesprochen, sie wolle sich mal "den Inhalt des schwarzen Beutels" ansehen. Darin befanden sich die Akten der Staatsanwaltschaft, die H. nach seiner vorläufigen Haftentlassung ausgehändigt bekam. Wer sich so konspirativ am Telefon ausdrückt, muss natürlich damit rechnen, dass das sonntägliche Kaffee-und-Kuchen-Treffen mit Großeltern und Kindern vom BKA gesprengt wird, die anrücken, um ihre eigenen Akten sicher zu stellen. Auch die Bestrebungen der BAW H. nicht aus der U-Haft zu entlassen, gehen auf ein Telefonat mit seiner Mutter zurück. Lange vor der Verhaftung hatte er mit ihr über ein Stellenangebot aus den Niederlanden und die Probleme, die sich aus einer Annahme des Angebots ergeben würden, gesprochen. Für Frau Harms ein klarer Fall: Wer am Telefon davon spricht, sich vorstellen zu können für einen gewissen Zeitraum zu pendeln, beweist, dass im Falle eines Terrorverdachts Flucht- und Verdunklungsgefahr besteht.
Nicht immer aber funktioniert die Überwachung so einwandfrei, so berichtet die Lebensgefährtin. Kürzlich klingelte bei H.s Eltern das Telefon und auf dem Display stand der Name und die Handynummer ihres Sohnes. Als sie abnahmen, mussten sie feststellen, dass dieser sie nicht angerufen hatte, sondern gerade in einer Sitzung mit dem Vorsitzenden der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer, saß, um mit ihm und anderen über die Gründung eines Arbeitskreises "Stadt" der Berliner Linkspartei zu reden. Und so führt diese offensichtliche Fehlschaltung des via Handy mithörenden BKAs dazu, dass auch seine Eltern unbemerkt von Andrej H. dem Treffen beiwohnen können.
Peinliche Panne oder absichtliches Zeichen aus Gründen der Einschüchterung, fragt sich H.s Lebensgefährtin - eine Frage, die möglicherweise ein Resultat einer natürlich einsetzenden Paranoia ist, die entsteht, wenn die einen verfolgenden Männer sich beim abendlichen Spaziergang intensiv mit an Laternen geklebten Zetteln beschäftigen, sobald man stehen bleibt oder sich beim Wochenendeinkauf im Supermarkt für jedes Regal interessieren, in das man selbst gegriffen hat.
Ein Gefühl der Beklemmung lässt sich nicht verleugnen, wenn man liest, wie es sich unter der dauernden Überwachung lebt. Und es führt zu der Frage - wenn das Ausschalten eines Mobiltelefons eine konspirative Handlung ist, sind dann Menschen, die ein solches gar nicht besitzen, alles per se Terroristen?