"Im Bötzowviertel"
von Annett Gröschner
Vor zwei Wochen traf ich meine frühere Nachbarin auf der Straße. Frau Knappe ist vor 85 Jahren im Bötzowviertel im Prenzlauer Berg geboren und hat sich seitdem keinen Zentimeter weit wegbewegt. Vor sieben Jahren wollte eine Sanierungsstelle sie in ein anderes Viertel umsetzen, aber Frau Knappe beharrte darauf, dass nichts auf der Welt sie in das Proletarierviertel jenseits der Greifswalder bringen würde. Ich habe damals nachsichtig gelächelt, weil ich der Meinung war, ob nun Kollwitzplatz oder Arnswalder Platz, es sähe sowieso überall gleich aus, aber irgendwie hat Frau Knappe Recht gehabt mit ihrer Behauptung, dass das hier nun mal das bürgerlichste Viertel vom Prenzlauer Berg sei, und darauf lege sie Wert.
Seit einiger Zeit wird das Bötzowviertel von Leuten überrannt, die Eigentumswohnungen aus der Portokasse der Eltern bezahlen oder die Mietpreise verderben, indem sie jede Summe zahlen, nur um den Luxus zu genießen, hier wohnen zu können. Das Bötzowviertel ist so innerhalb von wenigen Jahren zum ausgeprägtesten Ghetto der Berliner Innenstadt geworden, selbst in Lichtenberg ist die Zusammensetzung der Bevölkerung aufregender.
Jede Omi, die noch hier wohnt, müsste eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden, Frau Knappe sowieso. Sie ist wahrscheinlich am längsten von allen hier.
Eigentlich heißt diese Art von Verdrängung "Gentrifizierung". Gemeint ist die Aufwertung eines Wohnumfelds durch Komplettsanierung, Begrünung und Verhübschung des Straßenraums, die immer mit der Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung einhergeht. Etwas parteiischer meint dies schlicht und einfach, die Armen werden verdrängt.
Seit dem Sommer läuft man nun leider Gefahr, bei Benutzung des Begriffs vom BKA als Terrorist verhaftet zu werden. Ein Stadtsoziologe aus unserer Gegend musste das mit mehreren Wochen Moabit (Gefängnis) bezahlen und der Vorwurf, der Kopf einer terroristischen Vereinigung zu sein, schwebt nach wie vor wie ein Damoklesschwert über ihm. Die Beamten hatten das Wort gegoogelt und waren auf ihn gekommen. Der Stamm des Wortes "Gentrifizierung" leitet sich vom englischen "gentry", niederer Adel, ab, und genauso benehmen sich die Leute auch. Letzte Woche wurde im Viertel ein Geschäft eröffnet, das Bionahrung für Hunde anbietet. Angeblich gibt es Bedarf dafür. Der niedere Adel zeichnete sich schon immer durch eine größere Dekadenz aus als der höhere.
Viel anstrengender als ihre Ökohunde sind aber immer noch die Neuankömmlinge selbst. Sie haben nämlich ein inzwischen auch staatlich sanktioniertes Projekt - gefördert vom Bundesfamilienministerium - auf dass der niedere Adel wieder Kinder bekommt und die Sicherung unseres Fortbestands nicht Migranteneltern in Kreuzberg obliegt. Wenn es denn in dem fortgeschrittenen Alter noch geklappt hat, bilden sie mit ihren Kinderwagen, die teurer waren als ein gebrauchter Kleinwagen, Klumpen auf dem Gehsteig, die man zu Haufendörfern formen könnte. Es sind Frauen und Männer um die 40, die mit Babystimmen sprechen und so tun, als hätten sie den Heiland persönlich auf die Welt gebracht.
Nebenbei gesagt, in den achtziger Jahren hat es hier viel mehr Kinder gegeben, aber damals war die Kinderaufzucht noch die normalste Sache von der Welt, und die Blagen wurden nicht zu Baby-Yoga-, Baby-Englisch- oder Baby-Mandarinkursen geschickt.
Während Frau Knappe und ich Bötzow, Ecke Hufeland stehen, muss ich sie davor bewahren, unter diverse Kinderwagenräder zu kommen. "Es hat ja auch was Gutes, wenn man nicht mehr richtig sehen kann, sieht man seine Runzeln im Spiegel nicht." So redet Frau Knappe, und ich wünsche ihr noch ein sehr langes Leben. So lange, bis die Gentrys alle wieder weg sind.
Neulich hing neben einer Anzeige für 50 Quadratmeter Dachgeschosswohnung für 800 Euro Miete im Monat ein schmuckloser Zettel: "Ehering gefunden". Das lässt hoffen. Sollen sie doch alle ihre Eheringe von den Dachterrassen werfen, Hauptsache, sie lassen die Blumentöpfe heil.
Die einzige Möglichkeit, diesem zusammengeklumptem Gebärwahnsinn aus dem Wege zu gehen, ist, seinen Tagesablauf komplett umzustellen. Morgens um neun und nachmittags von 15 bis 18 Uhr sind die Straßen des Viertels zu meiden. Also sitze ich nachts mit den letzten Mohikanern des Viertels in dem einzigen Etablissement, das noch nicht von Baby- Kinderkarre- und Café-Latte-Wahn verseucht ist und auf den schönen Namen Babel hört, und wir trinken und rauchen bis zum Morgengrauen, wenn in den Dachgeschossen die kleinen Könige zu krähen anfangen.