Die subjektivste Behörde der Welt
Es soll Staatsanwälte geben, die unbeirrt glauben und treuherzig jedermann versichern, die Staatsanwaltschaft sei "die objektivste Behörde der Welt". Denn sie sei verpflichtet, nicht nur belastende, sondern auch entlastende Indizien zusammenzutragen und zu prüfen. Die Verpflichtung lässt sich nicht bestreiten, bezweifeln aber lässt sich die Bereitschaft der Behörde, ihr stets hinreichend nachzukommen. Und der Umgang der Bundesanwaltschaft mit dem von ihr als Terrorist verdächtigten Soziologen Andrej H. legt sogar die Vermutung nahe, hier habe die subjektivste Behörde der Welt sich selbst ein Denkmal gesetzt. Das ist ihr glänzend gelungen. Der Bundesgerichtshof hat ihr das gestern eindrücklich bestätigt und den Haftbefehl gegen H. aufgehoben.
Die Bundesanwaltschaft verdächtigt H., Mitglied der "militanten gruppe" (mg) zu sein, die sich seit 2001 zu 24 Brandanschlägen bekannt habe. Wie begründet die Behörde den Verdacht? Sie hat herausgefunden, dass H. der linksextremistischen Berliner Szene zuzurechnen sei, dass er an den letzten Ausgaben der Untergrund-Szene-Zeitschrift "radikal" mitgewirkt habe, dass terminologische Übereinstimmungen zwischen Schreiben der "militanten gruppe" (mg) und den Schriften von H. zu erkennen seien, dass der Soziologe sich konspirativ mit einem von drei Männern getroffen habe, die verdächtig seien, als Mitglieder der "mg" am 31. Juli 2007 einen Brandanschlag auf Lkw der Bundeswehr versucht zu haben.
Sofern sich H. mit einem der Verdächtigen getroffen hat - ist er dann selbst dringend verdächtig, an dem versuchten Brandanschlag beteiligt gewesen zu sein? Sofern das Treffen den Eindruck der Konspiration erweckte - genügt für diesen Eindruck, wie offenbar der Bundesanwaltschaft, der Verzicht der Teilnehmer auf das Mitführen von Handys? Sofern terminologische Übereinstimmungen der Schreiben der "militanten gruppe" und der Schriften von H. vorhanden sind - wie sollten sie nicht? Die Forschungsschwerpunkte des Lehrbeauftragten an der Humboldt-Universität sind Stadterneuerung und Gentrifizierung. Die "mg" kämpft gegen Begleiterscheinungen der Stadterneuerung und gegen die Folgen der Gentrifizierung, also der sogenannten Veredelung des Wohnumfelds, die nicht selten die Verdrängung der alteingesessenen Einwohner bedeutet. Wenn der Stadtsoziologe den Begriff Gentrifizierung verwendet und die "militante gruppe" ihn verwendet - begründet das gegen H. den dringenden Tatverdacht der Mitgliedschaft? Wäre es so, dann müssten die Bundesanwälte sich fortwährend des Verdachts erwehren, die letzten Mitglieder der Roten Armee Fraktion zu sein, denn niemand verwendet dieses Kürzel häufiger als sie.
Andrej H. mag verdächtig sein, dringend tatverdächtig ist er nicht. Untersuchungshaft aber setzt - neben der Flucht- und Verdunkelungsgefahr - einen dringenden Tatverdacht voraus. Der Bundesgerichtshof hat ihn gestern mit den Worten verneint, die bisher "aufgedeckten Indizien sprechen nicht hinreichend deutlich für eine mitgliedschaftliche Einbindung des Beschuldigten in die ,militante gruppe', sondern lassen sich ebenso gut in anderer Weise interpretieren". Darauf hätte die Bundesanwaltschaft als "objektivste Behörde der Welt" auch selber kommen können? Vermutlich nicht. Zur Rolle der Staatsanwaltschaft bemerkte der berühmte Strafrechtler Franz von Liszt 1906: "Durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- und Belastungsmomente zu prüfen, könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt." Alle anderen sollten es besser wissen.