Haftbefehl gegen Andrej H. implodiert

Karlsruhe. Der Bundesgerichtshof hat den Haftbefehl gegen den Berliner Soziologen Andrej H. aufgehoben. Damit ist der 36-Jährige nicht mehr dringend tatverdächtig, Mitglied der linksextremistischen "militanten gruppe" zu sein. Der Staatsschutzsenat lehnte den Antrag von Generalbundesanwältin Monika Harms ab, den Wissenschaftler der Humboldt-Universität wieder in Untersuchungshaft zu nehmen. VON URSULA KNAPP UND JÖRG SCHINDLER

Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft sagte der Frankfurter Rundschau: "Wir sind bisher zusammen mit dem Ermittlungsrichter vom dringenden Verdacht der Mitgliedschaft ausgegangen." Dass der BGH nun anders entschieden habe, werde man nicht kommentieren.

Allerdings laufe das Ermittlungsverfahren gegen Andrej H. "zu Recht" weiter, hieß es in dem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss des Bundesgerichtshofs. Denn es könne umgekehrt auch nicht ausgeschlossen werden, dass H. der militanten gruppe (mg) angehöre.

Die Organisation hatte sich seit 2001 zu gut zwei Dutzend Brandanschlägen, vor allem im Raum Berlin/Brandenburg, bekannt. Nach langer Observation wurden am 31. Juli 2007 drei Männer aus Berlin bei dem Versuch festgenommen, Lastwagen der Bundeswehr in Brandenburg/Havel in Brand zu stecken. Sie sitzen seither wegen versuchter Brandstiftung und des dringenden Tatverdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Untersuchungshaft. 

Andrej H. wurde kurz darauf festgenommen, weil er zu einem der drei Männer konspirative Kontakte gehabt haben soll. Der Ermittlungsrichter des BGH erließ am 1. August auch Haftbefehl gegen ihn und verhängte Untersuchungshaft. Drei Wochen später erhielt er den Haftbefehl gegen Andrej H. zwar aufrecht, setzte ihn aber gegen regelmäßige Meldepflichten außer Vollzug. Dagegen legte die Generalbundesanwältin Beschwerde beim 3. Strafsenat des BGH ein, der zugleich Staatsschutzsenat ist. In der Zwischenzeit hatten sich etliche Wissenschaftler aus dem In- und Ausland mit Andrej H. solidarisiert.

Nach FR-Informationen basierte der Ursprungs-Verdacht gegen H. sowie drei weitere Wissenschaftler und Publizisten unter anderem darauf, dass sie in Publikationen Wörter wie "implodieren" oder "drakonisch" verwandt hatten. Ähnliche Begriffe soll die militante gruppe in mehreren Bekennerschreiben verwandt haben. Ein BKA-Gutachten konnte später jedoch keine signifikanten Übereinstimmungen in der Wortwahl feststellen.

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs belegen die bisherigen Ermittlungen lediglich, dass Andrej H. in die linksextremistische Berliner Szene eingebunden ist und an Veröffentlichungen der Untergrundzeitschrift "radikal" mitwirkte. Da ein Haftbefehl aber voraussetze, dass eine Verurteilung mit großer Wahrscheinlichkeit eintrete, müsse der Haftbefehl zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgehoben werden; eine solche hohe Wahrscheinlichkeit bestehe zurzeit nicht.

Die Indizien könnten auch anders interpretiert werden als dadurch, dass Andrej H. Mitglied der mg sei. Der Bundesgerichtshof hält es offenbar auch für möglich, dass Andrej H. Unterstützer der mg ist, was eine wesentlich geringere Straftat als eine Mitgliedschaft darstellt.

Über die Grundsatzfrage, ob die militante gruppe überhaupt als terroristische Vereinigung einzustufen ist, entschied der Bundesgerichtshof nicht. Seit der Änderung des Terrorismus-Paragrafen 129a im Jahr 2001 sind Brandanschläge einer Organisation allein noch nicht hinreichend für eine terroristische Vereinigung.

Vielmehr müssen die Taten darauf zielen, die "sozialen Grundstrukturen eines Staates … zu beseitigen oder erheblich zu beeinflussen." Ob diese Voraussetzungen bei der mg vorliegen, wird wohl erst in den laufenden Strafverfahren gegen die anderen Inhaftierten entschieden.

H.s Verteidiger, der Berliner Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann, wertete das Bundesgerichtshof-Urteil als Etappensieg. Die Richter hätten klar gemacht, dass nicht jeder, der sich konspirativ verhalte, verdächtig sei. Das sei eine "Ohrfeige für die Bundesanwaltschaft". Ratzmann forderte, das Verfahren gegen seinen Mandanten sowie die drei noch immer Inhaftierten einzustellen.


Der Fall

Der Stadtforscher Andrej H., Jahrgang 1970, ist Lehrbeauftragter der Humboldt-Universität in Berlin. Er wurde am 1. August 2007 als mutmaßliches Mitglied der militanten gruppe (mg) festgenommen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Der Terrorverdacht basiert hauptsächlich auf einem Artikel des Soziologen, der 1998 in der linken Zeitschrift Telegraph erschien. Weil bestimmte in dem Artikel verwendete Wörter auch in mg-Bekennerschreiben auftauchen, glauben die Ermittler, dass Andrej H. deren Verfasser ist. Dabei geht es nach FR-Informationen im Wesentlichen um neun Wörter, etwa "Reproduktion", "implodieren", "marxistisch-leninistisch" und "politische Praxis".