Ein Phantom wird greifbar
Seit sechs Jahren ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ein Phantom, eine terroristische Vereinigung, die sich selbst „militante gruppe (mg)“ nennt - bis Dienstag dieser Woche ohne nennenswertes Ergebnis. Zwar hatte es im November 2003 schon einmal Berichte gegeben, das Bundeskriminalamt (BKA) kenne vier Mitglieder der Gruppe. Bestätigt aber wurden diese nie, und die damals in der Presse genannten wehrten sich juristisch gegen die Behauptung.
Nun also hat man zumindest drei Männer aus Berlin auf frischer Tat ertappt und glaubt sich sicher, dass sie Teil der ominösen Truppe sind. Ein Vierter soll „konspirative Kontakte“ zu ihnen unterhalten haben und gilt der Bundesanwaltschaft ebenfalls verdächtig, Mitglied der mg zu sein. Gegen Florian L. (35 Jahre alt), Oliver R. (35 Jahre alt), Axel H. (46 Jahre alt) und Andrej H. (36 Jahre alt), sämtlich Berliner, wurde daher Haftbefehl beantragt: „Unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.“
Die ersten drei hatten angeblich am 31. Juli in Brandenburg/Havel versucht, Lastwagen der Bundeswehr anzuzünden. Die Polizei muss von dem Plan gewusst haben. Zumindest waren Polizisten so rechtzeitig dort, dass sie die drei festnehmen und die Brandsätze „entfernen konnten“, bevor die Lkws etwas abbekamen. Nummer vier erhielt seinen Haftbefehl dann aufgrund seiner Verbindung zu den anderen - was auf eine längere Beobachtung schließen lässt.
Dass sie wohl Mitglieder der mg gefasst hat, schließt die Bundesanwaltschaft daraus, dass es „hinsichtlich des Anschlagsziels, der Tatzeit und der konkreten Tatausführung eine Vielzahl von Parallelen zu Anschlägen der terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit“ gebe.
Aufgefallen ist die Gruppe im Jahr 2001 das erste Mal. Damals verschickte sie Drohbriefe an den Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, Otto Graf Lambsdorff, und an die Repräsentanten der „Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft“, Wolfgang Gibowski und Manfred Gentz. Den Briefen lagen scharfe Kleinkaliberpatronen bei. Überschrieben waren sie mit den Worten „Auch Kugeln markieren einen Schlussstrich“. Die Begründung dafür: die geplanten zehn Milliarden Mark Entschädigung für die Zwangsarbeiter seien nicht ausreichend.
Kurz darauf verübten Unbekannte im Namen der mg einen ersten Brandanschlag – bis heute das Markenzeichen der Gruppe. Als erstes traf es ein Auto bei einer Daimler-Benz-Niederlassung in Berlin. Später wechselten die Ziele. Am beliebtesten waren Autos der Bundespolizei und der Ordnungsämter. Denn, wie es in Bekennerbriefen hieß, sei erstere „das zentrale ausführende Verfolgungs- und Abschiebeorgan von MigrantInnen und Flüchtlingen in der BRD“. Letztere wurden zum Ziel, weil sie „Repressionsorgane und Durchpeitscher der Null-Toleranz-Ideologie“ seien.
Auch auf Gebäudefassaden hatten Brandstifter der mg es mehrfach abgesehen. Beispielsweise auf die vom Sozialgericht im Berliner Bezirk Mitte, oder auf die des Polizeipräsidiums in Berlin-Tempelhof. Aber es traf auch ein von Polizisten bewohntes Mehrfamilienhaus in Wolfen-Thalheim, ein Bürohaus des Verbandes türkischer Industrieller und Unternehmer und ein Renault-Autohaus in Berlin.
Die Begründungen dafür wirken verworren, beziehen sich aber alle auf kämpfende kommunistische Gruppen und Strömungen der jüngeren Vergangenheit. So reicht die Sympathie der Täter von der marxistisch-leninistischen Terrorgruppe DHKC in der Türkei, über die wahrscheinlich zerschlagene kommunistische Grapo in Spanien, bis zu einer Gruppe in Italien, die sich neue Rote Brigaden nennt (BR-PCC).
Insgesamt zehn Mal hinterließen die Brandstifter Bekennerschreiben, die mit „militante gruppe“ unterschrieben waren, oder schickten solche an verschiedene Zeitungen. Vermutet wird jedoch, dass insgesamt mehr als 20 Anschläge auf das Konto der Gruppe gehen.
Leicht zu fassen waren sie deshalb jedoch nicht. Bedienen sie sich doch einer Taktik, die schon die „Revolutionären Zellen“ und die "Rote Zora" lange erfolgreich vor Strafverfolgung schützte: die des sogenannten Feierabendterrorismus. Die Ermittler vermuteten seit Jahren, dass die Gruppe nicht aus der Illegalität heraus agierte, sondern ein ganz normales Leben führte und sich eher nebenbei den Brandanschlägen widmete. Die Festnahmen scheinen das zu bestätigen. So soll Oliver R. in Berlin ein Antiquariat betreiben, ein anderer der Verhafteten soll Krankenpfleger sein, ein dritter promovierter Soziologe.
Mir ihren Anschlägen will die mg erklärtermaßen kommunistische Bewegungen initiieren und gegenwärtige Strukturen zugunsten einer kommunistischen Weltordnung beseitigen, wie das BKA schreibt. Erreicht haben sie damit lediglich, dass in Teilen der linken Szene eine neue Debatte um Militanz geführt wird – am Leben gehalten vor allem durch die Texte der mg selbst. In der Öffentlichkeit wurde sie kaum wahrgenommen. So gering war die Wirkung, dass es erhebliche öffentliche Empörung auslöste, als die Bundesanwaltschaft im Vorfeld des G8-Gipfels von Heiligendamm Wohnungen mit der Begründung durchsuchte, man wolle Strukturen der „militanten gruppe“ aufklären.
Der Verteidiger von drei der Verhafteten, der Anwalt Wolfgang Kaleck, hält den Vorwurf des Terrorismus denn auch für überzogen und spekulativ. Es sei völlig verfehlt, das fehlgeschlagene Anzünden dreier Fahrzeuge ohne Gefährdung von Menschen als Terrorismus zu bezeichnen, sagte er der Berliner Zeitung.
Der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, sagte laut dpa: „Es ist richtig, nicht auf einem Auge blind zu sein.“ Es gebe immer wieder ausgebrannte Autos in Berlin. „Das darf nicht sein. Das ist kein Kavaliersdelikt.“ Nach seiner Einschätzung sei die Bedrohung durch Links- und Rechtsextremismus in Deutschland etwa gleich groß. Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy sah das nicht ganz so: „Wir haben nach wie vor die größere Herausforderung im Bereich des Rechtsextremismus“, sagte er. Die starke Mobilisierung des Linksextremismus im Umfeld des G8-Gipfels sei eine „spezifische Situation“ gewesen. Doch man wolle sich nach der Sommerpause im Innenausschuss trotzdem speziell mit diesem Thema beschäftigen.