LKA-Überwacher unter Blog-Überwachung
« Vor fast genau zwei Monaten brach das Berliner LKA morgens um sieben in unsere Wohnung ein, schmiss meinen Liebsten auf den Boden, stürmte unser Schlafzimmer und die Zimmer unserer Kinder mit gezogenen Waffen und seitdem steht unser Leben Kopf.» Die Partnerin des terrorverdächtigen Stadtsoziologen Andrej H. führt seit kurzem ein Weblog. Unter dem Pseudonym Annalist (Chronistin) schildert sie den Alltag ihrer Familie, die rund um die Uhr überwacht wird.
Die Familie wird von Zivilpolizisten verfolgt, von eigens installierten Videokameras observiert, die Telefone werden abgehört. Der Beschuldigte und seine Angehörigen haben keine Möglichkeit, ihr Privatleben zu schützen, ohne sich verdächtig zu machen und die Haftverschonung zu gefährden. Annalist meint: «Insofern werde ich also einen Teufel tun, mich in irgendeiner Weise konspirativ zu verhalten, was im übrigen bei derart umfassenden Überwachungsmaßnahmen ja auch gar nicht so einfach ist. »
Die Jagd auf eine angebliche terroristische Vereinigung namens «Militante Gruppe» ist inzwischen mehrfach mit dem Reizthema der staatlichen Überwachung des Internet verknüpft. Ins Blickfeld der Ermittler geriet H. vermutlich einzig deshalb, weil die Polizei im Netz nach Schlagwörtern aus Bekennerschreiben fahndete. Später speicherte das BKA die IP-Nummern sämtlicher Besucher der BKA-Seite zur Militanten Gruppe (Google Cache) und versuchte, diese Besucher namentlich zu identifizieren.
Dass Annalist von der Kontrolle ihres eigenen Chat- und Mailverkehrs ausgeht, versteht sich da schon von selbst. Sie dokumentiert die Überwachung beim Wochenendeinkauf ebenso wie die kleinen Dreistigkeiten, die bis zur sexuellen Belästigung zu reichen scheinen: «Mich würde durchaus interessieren, welche Erkenntnis die Behörden sich davon versprechen, wenn sie telefonisch nachfragen, wie einer der Beschuldigten denn so küsst. »
In seiner Verbindung von tagesaktueller Zeitgeschichte und individuellem Alltag erinnert Annalists Blog an den Bagdad Blogger Salam Pax. Nach einem Beitrag bei Fefe wurde es schnell bekannt. kschoenberger sieht darin «eine durchaus innovative politische Strategie sich gegen staatliche Drangsalierung und Terrorisierung und die damit verbundene Durchdringung des eigenen Alltags öffentlich zu Wehr zu setzen.» Außerdem bringe die «Offenlegung persönlicher alltäglicher Handlungen und Details (...) die ganzen Konstruktionen der Verfolgungsbehörden zumindest diskursiv zum implodieren.»
maloXP stößt ins gleiche Horn: «Der Frage, inwieweit das bloße Schreiben über den eigenen Alltag in einem Blog bereits Dissidenz sein kann, darf nun auch hierzulande nachgegangen werden.» Kralli meint sarkastisch: «Dich kann das nicht treffen? Du triffst dich nicht mit bösen Leuten und hast immer dein Handy dabei? Weißt du denn, was ich so mache, wenn wir uns nicht sehen? Und ob ich mein Handy auch öfter nicht dabei hab?»
Der Anwalt Udo Vetter vermerkt lakonisch: «Das ist sehr mutig.» Unter seinem knappen Posting entspinnt sich eine ausgiebige Diskussion zum Thema. bo (Kommentar 20) versucht zu ergründen, warum die Überwachungsmaßnahmen so offen stattfinden: «Zumindest wegen Fluchtgefahr fährt der Mann zur Zeit NICHT ein. Und genau da könnte eine Erklärung dafür liegen, warum vielleicht jemand mit aller Macht versuchen könnte, den Beschuldigten und seine Angehörigen zu terrorisieren und unter Druck zu setzen und - na ja, ein wenig 'zu treiben'.»
genevainformation (Kommentar 31) spielt auf die Dynamik von Weblogs an: «Berichte über die Nebenwirkungen von polizeilichen Maßnahmen gab es wohl schon immer. Aber früher wurden die in kleinen Druckereien auf billiges Papier gedruckt und vom Normalmenschen aufgrund der typischerweise großen Anzahl komplizierter Worte nicht wahrgenommen.»
Was mögen die zur Überwachung abgestellten Beamten empfinden, wenn sie nach Feierabend im Blog von Annalist blättern? Der Mann, der im Supermarkt die Regale inspizieren muss; der Kollege, der so ausdauernd den Laternenpfahl anstarrt: Haben sie nicht das Bedürfnis, ihre Sicht der Dinge darzustellen? Das eine oder andere Detail zu korrigieren? Anders gefragt: Wann bloggen endlich die Polizisten? Wie das geht? Einfach die Kollegen fragen.
Anhang
Mit k lamentiert auf dem Schwipsblog über die psychischen Gefahren von Google Maps: «'ach schau mal, hier warichschjon, nein viel schliommer: hier waren WIR damals' (schluck, schnief, trauer...) alles total rekonstruierbar. (da sind wir immer eis holen geghangen, da war unser haus, da is das hausd deiner tzante, das war unser strand, in dem kinon waren wir - es war so neu eröffnet, dass es noch ganz neu da drinnen gerochen hat, wie in euinem neuwagen. genau so - verdammt!» +++ Anmut und Demut tanzt im Sitzen : «Auf Tocotronickonzerten gibt es jetzt auch Bestuhlung. (...) Im Publikum finden sich Grauhaarige und Schwangere. What Angekommensein is all about.» +++ Der Wörterberg bekommt seine Steuerkarte: «Nach der herrschenden Lehre war der Staat gehalten, mit dem Überbringen seiner Briefe jene Firma zu beauftragen, die den geringsten Betrag dafür verlangte. Es durfte den Staat bei der Auswahl der Firma nicht interessieren, dass die Angestellten nachher einen Zuschuss verlangen müssten, um sich zu unterhalten.»
Für das Web editiert von Bov Bjerg.