Aktuelle Situation in den Berliner Knästen
Wir stehen heute hier, weil wir konkrete Anliegen haben. Unsere Genossen Oliver, Axel und Florian sitzen hinter diesen Mauern. Ihr persönliches Schicksal bewegt uns nicht nur heute. Wir fühlen mit ihnen und sie wissen, dass wir hier sind. Das gibt ihnen, aber auch uns Kraft.
Aber haben wir da nicht was vergessen? Sitzen da nicht noch mehr eingepfercht, entmündigt und isoliert von der Gesellschaft? So knapp 1000 oder waren es vielleicht 2000?
Sind wir nicht direkt betroffen, sollten wir ihre Behandlung durch den Justizapparat zumindest politisch einordnen und kritisieren wo es eben geht. Beispielsweise heute.
In Großbeeren wird bis 2012 ein privatisierter Knast gebaut, weil die Berliner Haftanstalten überfüllt sind. Die Gefängnispopulation wächst bundesweit, ohne dass die Kriminalität steigt. Die Ursache dafür finden wir in den Gerichtssälen. Nicht nur gegen politische AktivistInnen, sondern allgemein ist die Rechtsprechung sehr viel härter geworden. Die Zahl der Inhaftierten mit lebenslänglicher Haftstrafe hat sich seit 1990 verdoppelt. Je härter die Urteile und länger die Strafen, desto mehr Haftplätze sind belegt. In Berlin wird bei weniger als 10% die 2/3 Regelung angewandt. Hinzu kommen die Sicherungsverwahrungen, also jene, die nach Absitzen ihrer Strafe weiterhin ohne Aussicht auf Freiheit in Haft bleiben müssen. Die Zahl hat sich seit 2004 verdoppelt.
Die spürbarste Konsequenz sind überfüllte Hafträume. Das Personal wird nicht aufgestockt und muss sich um mehr Gefangene kümmern. Hinter Gittern bauen sich so Spannungen auf, die sich irgendwann in einem großen Knall auflösen - und dann sind alle völlig überrascht.
Im Januar hatten wir den ersten Toten in der JVA-Moabit für dieses Jahr. So was wollen wir heute nicht hören – real ist es leider trotzdem.
Im Februar bestimmte der sog. Medikamenten-Skandal die Medien. Schließer hatten Medikamente die für Gefangenen bestimmt waren unterschlagen und weiterverkauft. Im gleichen Monat wurde das neue Haftkrankenhaus in Plötzensee öffentlichkeitswirksam überstürzt eingeweiht und musste sofort wieder wegen hygienischer Mängel geschlossen werden. Währenddessen starb der Gefangene Eberhard Reichert, weil er seine Medikamente nicht erhalten hat. Das Robert-Koch-Institut legte nach und gab an, dass pro Jahr mindestens 50 Tuberkulosefälle in den Haftanstalten gibt. Die Häufung der Noteinsätze in der JVA-Tegel in den ersten Monaten diesen Jahres fand die Justizsenatorin Giesela von der Aue zufällig. Bis Anfang März zählen wir vier Tote in den Berliner Knästen. Der Staatssekretär Christoph Flügge wurde der Öffentlichkeit für den sich ausweitenden Gesundheitsskandal zum Fraß vorgeworfen. An den Zuständen hat sich nicht viel geändert.
Dauerthema ab April war der Jugendstrafvollzug. Die Justizsenatorin hatte ein neues Vollzugsgesetzt auf den Weg gebracht, in dem Isolationshaft und weniger Post für die Jugendlichen möglich wird. Oberstaatsanwalt Roman Reusch nimmt das Thema brav auf und prahlt damit Untersuchungshaft als Erziehungsmittel einzusetzen. Dafür musste er seinen Schreibtisch räumen. Innensenator Körting hat ähnliches schon 2005 gefordert und ist immer noch im Amt.
Das Sommerloch füllte das liederliche Treiben der Jugendlichen in der JVA Plötzensee. Der tägliche Bedarf an Genussmitteln wurde angeblich durch ein ausgeklügeltes Schmuggelsystem durch die Gitterstäbe abgewickelt. Während die Medien und die Oppositionsparteien im Abgeordnetenhaus voll drauf abgehen, findet der Rest Berlins wenig verwerfliches daran. Parteipolitisches Kalkül zwingt selbst die Grünen dazu dreifache Gitter für JVA-Plötze zu fordern, nur um die SPD-Justizsenatorin als unfähig darzustellen. Dabei ist die nächste Wahl noch etwas hin.
Im Juli hatten einige Gefangenen in der JVA-Tegel angekündigt gegen die Doppelbelegung in Ein-Mann-Zellen vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Während Anstaltsleiter Nitschke ihnen riet die "Füße still zu halten" machte die sensationsgeile Presse das ganz groß auf. „Meuterei geplant“, war da zu lesen. Hätten wir gern. Leider war das nur eine Zeitungsente. Dafür aber mit handfesten Einschnitten für die Gefangenen. Die CDU forderte sogleich Maßnahmen gegen die angekündigte Meuterei einzuleiten. Die Justizsenatorin antwortete mit einem Gutachten der Unternehmungsberatung Kienbaum, in der Sicherheit und Personalabbau gleichzeitig zu haben ist. Wir zitieren einen Satz: "Durch ein Vorziehen des Einschlusses von 22 Uhr auf 18 Uhr könnten 1644 Arbeitsstunden im Spätdienst gespart werden.“
Im August gab es Beschwerden weil vergammelte Lebensmittel in der JVA-Tegel ausgeteilt wurden. Außerdem kritisieren Gefangenen in den JVAs die Privatisierung der Telefonanlagen. Die Firma Telio soll sämtliche Telefongespräche der Haftanstalten abhören und auch noch das vielfache der handelsüblichen Kosten erheben.
Es gibt den zehnten Toten in diesem Jahr. Auch hier soll es sich um einen Suizid gehandelt haben. Wieder steht die medizinische und psychologische Betreuung auf dem öffentlichen Prüfstand. 88 Prozent der aus der JVA Tegel entlassenen Häftlinge leiden unter psychischen Erkrankungen, fand ein Aachner Institut heraus.
Einen Monat später dann die Gegenoffensive. Weil ein paar Leute nach unnötig langer Untersuchungshaft entlassen werden mussten, gibt es überproportionale Empörung, kleine Anfragen, Petitionen und Rücktrittsersuche gegen die Justizsenatorin.
Kurzum, wer Zeitung und den Pressedienst des Abgeordnetenhauses liest, weiß dass es abgeht, auch ohne dass Oliver, Axel und Florian sitzen.
Je mehr Freunde und Genossen wir hinter diesen Mauern zugerufen haben, desto größer wurde nicht nur unsere Wut sondern auch unser Wissen über diesen komplizierten Apparat. Unsere kleine Aufzählung macht deutlich, dass wir keiner unsensiblen Maschinerie gegenüberstehen. Machterhalt, Ehrverlust und Konkurrenzdruck sind die Triebfedern der politischen Verantwortlichen. Wenn wir es schaffen in dem Diskurs um die Situation in den Haftanstalten Gewicht zu erlangen, sind Verbesserungen nicht nur für unsere Genossen sondern auch für alle anderen Gefangenen drin. Den Gefangenen eine Stimme geben heißt auch sich mit deren Angehörigen zusammenzutun und gemeinsam gegen die menschenfeindliche Straflust des Staates zu agieren.
Nicht zuletzt springt auch noch was für uns bei raus: Je kompetenter wir im Umgang mit staatlicher Repression werden, desto weniger hart trifft sie uns in Zukunft. Unsere Verunsicherung hält sich dann in Grenzen, wenn wir plötzlich den roten Haftbefehl in den Händen halten. Alles schon gehabt. Lasst euch was neues einfallen, um uns von unserem Widerstand, von unserem Leben und von unseren Illusionen abzuhalten.
Mehr zur Situation in den Haftanstalten auf freechristian.gulli.to