Alles Terrorismus. Bündnis für die Einstellung des Verfahrens nach Paragraph 129a lud zu Podiumsveranstaltung in Berlin.
Kein Richter dieses Staates werde bei einer so mageren Ermittlungslage einen Haftbefehl erlassen, war Christina Clemm am 1. August zuversichtlich. Doch sie irrte. Clemm vertritt als Rechtsanwältin den Berliner Soziologen Andrej H., der wegen angeblicher »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« nach Paragraph 129a des Strafgesetzbuchs am 31. Juli verhaftet worden war. Sein Vergehen: Er hatte Wochen zuvor mit einem der drei Männer verkehrt, die versucht haben sollen, im Namen einer Organisation namens »militante gruppe« (mg) drei unbemannte LKW der Bundeswehr in Brand zu setzen. Außerdem, so die Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA), tauchten in seinen Publikationen »Schlagworte und Phrasen« auf, die sich in den Bekennerschreiben der mg wiederfänden. Vollends abenteuerlich wird es, wenn das BKA argumentiert, H. und drei weitere Personen, gegen die ermittelt wird, hätten als Hochschulmitarbeiter »Zugang zu Bibliotheken« und verfügten daher über die nötigen Hilfsmittel, um die relativ anspruchsvollen Bekennerschreiben der mg zu verfassen.
Mehrere
hundert Besucher folgten am Sonntag vormittag einer Einladung des
Bündnisses für die Einstellung des §129a-Verfahrens in die Berliner
Volksbühne, wo Clemm und andere über den aktuellen Stand informierten
und sich um eine politische Einschätzung bemühten. Zugleich muß die
Podiumsveranstaltung unter dem Motto »Ist jetzt alles Terrorismus?« als
Solidaritätskundgebung verstanden werden – schließlich sitzen Florian
L., Axel H. und Oliver R. immer noch unter Sonderhaftbedingungen im
Gefängnis, wo sie 23 Stunden am Tag isoliert sind. Andrej H. ist
inzwischen auf Betreiben seiner Anwälte wieder frei, allerdings nur im
Rahmen einer »Haftverschonung« – sein Ermittlungsverfahren läuft
weiter. Zudem sei die Bundesanwaltschaft »weiter bemüht«, ihn wieder
»in Untersuchungshaft zu bekommen und ihm etwas anzuhängen«, so Clemm.
Rolf
Gössner, Rechtsanwalt und Präsident der Internationalen Liga für
Menschenrechte, bezeichnete den 129a als »Ermittlungs- und
Ausforschungsparagraphen«, den die Behörden als »Dietrich« verwenden
könnten, um in verdächtigte Gruppen einzudringen. Über 90 Prozent der
Verfahren würden früher oder später eingestellt, so Gössner, doch dann
hätten sie ihren Zweck bereits erfüllt. Derzeit gebe es Vorstöße, die
Antiterrorgesetzgebung noch auszubauen; einige Länderminister wollten
etwa auch die Sympathiewerbung für als terroristisch geltende
Vereinigungen wieder unter Strafe stellen. Wenn man dann beispielsweise
den Klimawandel als größte globale Bedrohung bezeichnete und die Gier
internationaler Konzerne anprangere, könne das als Sympathiebekundung
für Osama bin Laden ausgelegt werden, der Anfang September ähnliches
gesagt hatte. So sei die »wundersame Terroristenvermehrung« nach der
ersten Welle der Antiterrorgesetzgebung zu erklären – in den 80er
Jahren waren auf ihrer Grundlage in Deutschland mehr als 3000 Verfahren
mit mehr als 10000 »Verdächtigen« angestrengt worden.
Der
Physiker und Philosoph Fritz Storim, der selbst von Ermittlungen auf
der Grundlage von Paragraph 129a betroffen ist, warnte davor, das Thema
»auf die leichte Schulter« zu nehmen, weil die Konstrukte, mit denen
etwa gegen Andrej H. ermittelt werde, so lächerlich wirkten. Es sei
eine »große persönliche Belastung«, wenn sämtliche Bewegungen und
Telekommunikation überwacht würden, es kein Bankgeheimnis und keinen
Datenschutz für die Betreffenden mehr gebe und jeder Versuch, ein wenig
Privatsphäre zu wahren, als »konspiratives Verhalten« ausgelegt werde.
Als
»Mittel, um Oppositionsbewegungen zu kriminalisieren«, sah auch Roland
Roth vom Komitee für Grundrechte und Demokratie den 129a. Seine
Geschichte und die seiner Vorläufer in der Gesetzgebung bestätigten
dies. Dabei gehe es vor allem um linke Opposition: Auf 98 Verfahren
gegen linke Gruppen kämen etwa zwei gegen rechte.