Er wusste zuviel - und schrieb es auch noch auf

Bundesanwaltschaft lässt Stadtsoziologen verhaften

Als ich Anfang August online bei JUNGER WELT (jW) und SPIEGEL vorbeischaute, fiel mir zuerst dieser uralte Kalauer aus einer Western-Parodie ein:

Gunman Jack: "Hey, Stranger, wieviel ist 2 + 2 ?"
Fremder: "??? -- vier!"
Gunman Jack zieht den 28er -- peng, peng!
Gunman Jim: "Damned! Warum hast du ihn abgeknallt?"
Gunman Jack: "Er wußte zu viel!"

So ähnlich erging es nämlich dem Berliner Stadtentwicklungs-Forscher ANDREJ H.. Der wurde zwar (noch) nicht gleich abgeknallt, aber in Untersuchungshaft gesteckt - weil er sich angeblich im Frühjahr diesen Jahres mit einer Person getroffen habe, der jetzt ein versuchter Brandanschlag auf Lastwagen der Bundeswehr in Brandenburg und Mitgliedschaft in der "MILITANTE(N) GRUPPE (mg)" vorgeworfen werde. ANDREJ H. sei zudem "Vordenker" dieser Gruppe.

Neben ANDREJ H. steht auch der mit ihm zum Thema Stadtgeographie zusammen arbeitende Sozialwissenschaftler MATHIAS B. unter Verdacht. Dazu in SPIEGEL-ONLINE:

Als Verdachtsmomente gegen B. führen die Karlsruher Strafverfolger nach Angaben der Verteidiger unter anderem an, dass ein 1998 von ihm veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel "Schlagwörter und Phrasen" enthalte, "die in Texten der 'militanten(n) Gruppe (mg)' gleichfalls verwendet werden". Die Häufigkeit der Übereinstimmung sei "auffallend und nicht durch thematische Überschneidungen erklärlich". Außerdem sei er als promovierter Politologe "intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen Texte der 'militante(n) Gruppe (mg)' zu verfassen. [...]"

Wissenschaftliches Arbeiten kommt den Ermittlern offenbar schon als solches verdächtig vor. Einem der Sozialwissenschaftler wird vorgeworfen, ihm stünden "Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der "militanten Gruppe" erforderlichen Recherchen durchzuführen", zitieren die Verteidiger aus der Argumentation der Bundesanwaltschaft.

Der Verteidiger von ANDREJ H. folgert in der jW:

[...]Pol Pot lebt: Wer schreiben kann und sich zu bestimmten Themen äußert, scheint schon mal dringend verdächtig zu sein. Und die sogenannte Militante Gruppe schreibt ja viel. Die sollen sich beispielsweise zum Thema Stadtentwicklung geäußert haben. Nun hat auch unter den Beschuldigten jemand mit dem Thema zu tun. Solche Übereinstimmungen in Beiträgen haben ausgereicht, um Leute im Ermittlungsverfahren nach Paragraph 129a als Beschuldigte zu führen und den ganzen Apparat der Überwachung auf sie anzusetzen.

Weder auf der SPIEGEL-Website noch aus der jW war zu erfahren, ob beim besagten ANDREJ H. (Name ist der Redaktion bekannt) vielleicht den Linksterrorismus-Verdacht noch erhärtete, dass er aktiv in der Berliner Mietergemeinschaft mitarbeitet, weil er aus seinen urban-soziologischen Forschungsergebnissen solche Schlüsse zieht wie

"Das Hauptproblem für Alg II-Bezieher ist momentan die Wohnungssuche, nicht so sehr die Gefahr des Zwangsumzugs. Große Teile Ostberlins und zentrale Wohnlagen werden Erwerbslosen durch zu hohe Mietpreise vorenthalten. Eine sozial- und wohnungspolitische Zeitbombe ist die Privatisierung von mittlerweile 200.000 Wohnungen in Berlin." (auf einem Symposium unter dem Dach der Kirche im Frühjahr 2007)

Eine Erwerbslosenaktivistin aus Berlin schrieb uns:

Andrej H. ist anerkannter Stadt- und Regionalsoziologe, aktives Mitglied der Berliner Mietergemeinschaft und schreibt im Mieterecho. In der letzten Ausgabe hatte er sich zum neuen Berliner Mietspiegel geäußert. Am 26.6.2007 hatte er beim DGB-Arbeitskreis der Erwerbslosen Berlin einen Vortrag zum Zusammenhang von Mietspiegelentwicklung und den Ausführungsbestimmungen zum Wohnen von Alg II-BezieherInnen und anderen Bedürftigen gehalten. Das wollte er eigentlich Anfang August auf dem "Roten Abend" wiederholen und ich wollte im 2. Teil das Buch der Kampagne gegen Zwangsumzüge "Wohnst du noch oder haust du schon?" vorstellen.

Die Veranstaltung musste leider ohne ANDREJ H. stattfinden, denn der befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Staatsgewahrsam...

Wenn die Hüter der Freibeuterisch-Demagogischen Grundbesitz-Ordnung schon so wild um sich schlagen, wird auch verständlicher, warum Schäuble so verbissen für seine "Online-Durchsuchung" kämpft. Denn das würde ja auch wirtschaften helfen in solchen

Fällen wie der aktuellen "Geheimnisverrats-Affäre" aus dem BND-Untersuchungsausschuss. Und auch, warum das Bildungssystem ist, wie es ist (und - gottseibeiuns - auch so zu bleiben hat!): Nicht auszudenken, wenn noch mehr Leute "intellektuell in der Lage" wären, "anspruchsvolle Texte ... zu verfassen"!

Und was lehrt uns das? Legen wir uns schon mal vorsorglich einen (möglichst durchsichtigen!) Beutel mit Zahnbürste und Unterwäsche griffbereit, damit alles freiheitlichdemokratisch-grundordentlich und unter Beachtung von Art. 1 GG abläuft, wenn das Sondereinsatzkommando demnächst mal unsere Tür sprengt?!...

Bis dahin machen wir aber weiter unsere Arbeit, nämlich möglichst vielen Menschen durch Zusammenfassung und Aufarbeitung von Informationen Denk- und Handlungsansätze zu geben. Auf dass künftig nur noch etwas schlichtere Gemüter wie diejenigen terrorverdachtsfrei bleiben, die sich die Konstrukte gegen ANDREJ H. und seine Kollegen ausgedacht haben.

wr & quer

Aus quer, Zeitschrift für Erwerbslose, August 2007, (Heft 2/2007)