"Wir haben überreagiert"

Gerhart-Rudolf Baum, Ex-Innenminister und linker Liberaler, über seinen Kampf gegen die RAF und die schwierige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Interview: Damir Fras und Holger Schmale

Herr Baum, die Debatte um die RAF wird heute emotionaler geführt als noch vor einem Jahrzehnt. Woran liegt das?

Die Frage habe ich mir auch oft gestellt. Diese Zeit ist offenbar wie eine offene Wunde. Die Inszenierung der Taten, die Magie der Bilder, wirken bis heute nach. Außerdem stelle ich fest, dass viele junge Leute heute wissen wollen, was damals eigentlich geschehen ist. Und schließlich werden die alten Schlachten noch einmal geschlagen: Rechts gegen Links. Die parteipolitischen Auseinandersetzungen, die damals heftigst waren, wirken immer noch nach. Das gilt auch für die Meinungsverschiedenheiten über die 68er-Bewegung, über diese wichtigste Reformphase der Republik. Man hört doch schon wieder die Vorwürfe gegen Linke und Liberale: Die Terroristen waren euer Gewächs, und ihr seid heute wie damals nicht in der Lage, den Terrorismus zu bekämpfen.

Damals konnte man den Eindruck gewinnen, der Staat sei in seinen Grundfesten erschüttert. Dabei handelte es sich nur um zwei Dutzend um sich schießender Bürgerkinder. Hat der Staat nicht völlig überzogen reagiert?

Ich verstehe bis heute nicht, dass immer noch Leute wie zum Beispiel Helmut Schmidts damaliger Berater und Sprecher Klaus Bölling sagen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung sei gefährdet gewesen. Die war keine Sekunde gefährdet. 30 Desperados haben nicht unsere damals schon sehr gefestigte Demokratie gefährdet. Wir waren aber in hohem Maße schockiert von diesem neuen Tätertyp, der mit politischer Motivation kriminelle Taten verübt und herausragende Repräsentanten von Staat und Gesellschaft ermordet hat. Wir waren in einer gewissen Schockstarre und daraus ergaben sich Überreaktionen der Politiker, der Gesellschaft. Ich nehme mich nicht aus. Die Stimmung war von Angst und Hysterie gekennzeichnet, obwohl der sogenannte Mann auf der Straße keine Angst zu haben brauchte.

Hatten Sie persönlich Angst, um sich und Ihre Familie.

Eigentlich nicht. Die Sicherheitsstufe 1 war damals etwas Gewaltiges, an das man sich aber gewöhnte.

Acht Leibwächter ....

.... und ein Panzerwagen vorne, ein Panzer-Mercedes hinten, einer in der Mitte und dazu noch zwei Motorräder. Das war mein tägliches Leben. Aber die Angst, selbst getroffen zu werden, habe ich wohl erfolgreich verdrängt.

Haben sich Regierung und Repräsentanten des Staates damals stärker als heute abgeschottet?

Absolut. Die Bedrohung war viel unmittelbarer. Wir wussten doch zum Beispiel, dass Schleyer einer der bedrohtesten Männer der Republik war. Kurz vor dem Attentat ist das noch im Bundestag in einem Ausschuss erörtert worden. Die Sicherheitsvorkehrungen waren groß, aber leider nicht wirkungsvoll.

Es gab zuletzt Berichte, dass die RAF auch überlegt hatte, Willy Brandt ins Visier zu nehmen. Was wäre eigentlich gewesen, wenn Brandt ein Opfer geworden wäre. Hätte sich der Krisenstab dann anders verhalten?

Das weiß ich nicht. Gute Frage. Ich bin unsicher. Es könnte sein, dass wir uns anders verhalten hätten. Ich kann aber keine präzise Antwort geben.

Hat sich die Arbeit des Krisenstabes verändert, als nicht mehr nur Schleyer in Geiselhaft war, sondern auch noch 86 Menschen in der Lufthansa-Maschine "Landshut"?

Das hat schon eine Klimaveränderung gebracht. Zum ersten Mal war das "Volk" betroffen - so wie heute durch den islamistischen Terrorismus.

Welche Bedeutung hat diese Zuspitzung der Ereignisse im Herbst 1977 für die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus in Deutschland?

Wir sollten nicht nur über 1977 reden. Wir dürfen nicht verengen, die RAF-Zeit hat viel früher begonnen und hat viel länger gedauert. Ich wehre mich auch gegen Event-Inszenierungen, das Nachspielen dramatischer Ereignisse. Das grenzt für mich zu sehr an "Tatort"-Filme. Das Herausforderndste für uns war sicher die Geiselnahme von Schleyer und die Ermordung seiner Begleiter, aber die RAF-Geschichte lässt sich nicht auf das Jahr 1977 reduzieren und nicht auf diese Tat im Jahr 1977.

Die sozial-liberale Regierung der 70er-Jahre verstand sich als Reformregierung in der Tradition Willy Brandts. Die RAF pflegte einen gewissen anti-faschistischen Habitus, der aus der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vätergeneration stammte. Fühlte sich die sozial-liberale Regierung ganz besonders angegriffen, weil sie doch eigentlich auch diesem Geist verpflichtet war, dem Bruch mit der Adenauer-Zeit?

Es ist schon merkwürdig. Man hätte sich einen Terrorismus in der Zeit einer konservativen Regierung eher vorstellen können. Die sozialliberale Regierung hat seit 1969 durchgreifende Reformen an Staat und Gesellschaft nach Willy Brandts Motto "Mehr Demokratie wagen" durchgeführt. Die RAF war die Schattenseite des Lichts der damaligen Aufbruchstimmung, oder ein Zerfallsprodukt der Protestbewegung. Das ist klar. Die intensive Demokratisierung der Gesellschaft ist ohne die RAF jederzeit vorstellbar. Doch die RAF ist ohne den damaligen Zeitgeist nicht vorstellbar. Wir dürfen nicht vergessen, wie es dazu gekommen ist.

Die Studentenbewegung von 68 war ein wichtiger Impuls...

... aber nicht der einzige. Ich wehre mich gegen die pauschale Diskreditierung der 68er-Zeit, wie sie heute in Mode ist. Wir dürfen auch die Adenauer-Zeit dabei nicht vergessen und sie vor allem nicht verniedlichen. Sie war geprägt von sehr starken autoritären Strukturen an Universitäten, an Schulen, in Betrieben. Die wurden aufgelöst. So wurden die Rechte der Frauen der Verfassungswirklichkeit angenähert. Die neue Ostpolitik wurde in die Wege geleitet.

Gab es zu wenig Reformen, und hat das die RAF begünstigt?

Nein, ich sehe es anders. Die RAF hat der Reformbewegung geschadet. Sie hat sie diskreditiert. Sie hat den Staat hässlich gemacht. Ich habe damals immer gesagt: Die RAF bringt es fertig, den Staat so hässlich zu machen, wie er nie sein wollte. Die Realität näherte sich dem Feindbild der RAF an, weil der Staat so überreagiert hat. Die RAF bekämpfte, ohne zu differenzieren, das verhasste System.

Es gibt die These, dass erst diese Überreaktionen dazu geführt haben, dass es eine zweite und eine dritte Generation der RAF gegeben hat.

Das war verheerend und fing schon mit der Erschießung von Benno Ohnesorg durch einen Polizeibeamten im Jahr 1967 an. Die Empörung machte sich nicht nur wegen des Schusses Luft, sondern auch wegen der Tatsache, wie dieser Staat und diese Gesellschaft damit umgingen. Es gab Haftbedingungen, die ein Problem waren. Ulrike Meinhof etwa war monatelang in einem toten Trakt des Kölner Gefängnisses isoliert. Das musste doch psychische Folgen haben. Die Auswirkungen dieses Vorgehens des Staates sind damals unterschätzt worden.

Terrorismus im Stile der RAF ist hauptsächlich in den Kriegsverliererländern Deutschland, Italien und Japan aufgetreten. Haben Sie diesen Zusammenhang damals erkannt?

Wir haben das gesehen. Ich habe mich auch sehr intensiv mit dem italienischen Terrorismus befasst. Es gibt vielleicht gewisse Parallelen, aber die RAF war ein typisch deutsches Phänomen - dieser moralische Rigorismus, gemischt mit geradezu religiösem Fanatismus. Ich sehe da den Deutschen, der bis zum bitteren Ende aufs Ganze geht, bis zur Selbstzerstörung.

Kurz nach Ihrem Amtsantritt als Bundesinnenminister haben Sie mit einem Tabu gebrochen und sich mit dem Ex-Terroristen Horst Mahler zu einem Streitgespräch getroffen. Haben Sie Bundeskanzler Helmut Schmidt über dieses außergewöhnliche Vorhaben informiert?

Ich glaube schon. Ich weiß, dass Helmut Schmidt nicht mit allem einverstanden war, was ich gemacht habe. Aber die Zusammenarbeit innerhalb des Kabinetts war sehr fair. Schmidt hat mir nie Schwierigkeiten gemacht und mich respektiert und verteidigt.

Einen Teil der harschen Anti-Terror-Gesetze haben Sie nach Amtsantritt wieder gelockert. Hätten Sie mehr machen müssen?

Der Gesetzgeber musste reagieren, es gab vorher kein Instrumentarium, das auf diesen neuen Tätertyp eingestellt gewesen wäre. Aber klar ist auch: Es war eine Ausnahmesituation, und es waren Ausnahmegesetze, die zum Teil überstürzt erlassen wurden, wie das Kontaktsperregesetz.

Die Bundesregierung hat auch die Rechte der Verteidiger eingeschränkt.

Ja. Man dachte an die Verteidiger, die Komplizen waren. Davon gab es nicht wenige. Aber man hätte niemals die Verteidigungsmöglichkeiten der Angeklagten allgemein einschränken dürfen, wie es geschehen ist.

Das wirkt bis heute nach.

Leider ist das so. Da hätte man nacharbeiten müssen. Und auch beim Paragrafen 129a, der die Bildung einer terroristischen Vereinigung zum Thema hat. Diese Vorschrift war ein absolutes Novum. Bis dahin hatte das Strafrecht das Einzeldelikt im Auge. Von da an war auch die Organisation ein Bezugspunkt. Das geht aus meiner Sicht zu weit, wenn man sich die heutige Auslegung betrachtet. Denken Sie nur an das Vorgehen gegen die G-8-Kritiker vor Heiligendamm, denken Sie an den unter Terrorismusverdacht stehenden Wissenschaftler in Berlin. Das Strafrecht hat da eine gewaltige Keule zur Hand. Ich habe immer wieder gefordert, die Wirksamkeit dieser Gesetze zu überprüfen. Aber weder die Regierung Kohl, noch die rot-grüne Regierung haben das gemacht.

Noch einmal: Hätten Sie damals mehr machen müssen?

Wir haben das Kontaktsperregesetz entschärft und die Fahndungsmaßnahmen der Polizei überprüft, damit nicht mehr so viele Unschuldige ins Raster der Polizei gelangten. Wir haben eine Menge gemacht, aber es war zu wenig.

Warum war das so? Hatten Sie Sorge, politisch ins Aus zu rutschen?

Nein, das Aus wäre für mich gekommen, wenn kurz nach den Liberalisierungsmaßnahmen ein schwerwiegender Anschlag passiert wäre. Dann wäre ich weg gewesen. Ich will Ihre Frage so beantworten: Es gab Zwänge, und ich war nicht alleine im Kabinett. Immerhin wurde aber auf die Anschläge der RAF in den 80er-Jahren dann nicht mehr so hysterisch und unreflektiert reagiert wie einige Jahre zuvor.

Die Sicherheitsgesetze wurden aber nie wieder auf den Stand der frühen 70er Jahre zurückgebracht.

Das stimmt. Stattdessen wurde sogar die Serie von Ausnahmegesetzen fortgesetzt. Schon vor den Anschlägen vom 11. September gab es die Diskussion über die sogenannte organisierte Kriminalität. Heraus kam der Lauschangriff, der zum Glück vom Verfassungsgericht wieder weitgehend aufgehoben wurde. Dann kamen der 11. September und Schilys Sicherheitspaket. Jetzt haben wir Schäuble und seine skandalösen Pläne für Online-Durchsuchungen oder den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.

Ihr Treffen mit Horst Mahler im Jahr 1978 sollte ein Signal in die Sympathisanten-Szene hinein sein, von der RAF abzulassen. Hatten Sie Erfolg?

Ich sage: Ja. Wenn ich mir die Reaktionen von damals ansehe, dann habe ich schon etwas erreicht. Viele Menschen haben mich unterstützt. Die Opposition allerdings ist heiß gelaufen und hat im Bundestag einen Misstrauensantrag gegen mich gestellt. Ich finde, ich habe richtig gehandelt. Ich rede nicht von einem Horst Mahler, wie er heute ist. Der ist ja völlig abgedriftet. Wir reden von einem Horst Mahler, der einer der entscheidenden Ideologen der RAF war und ihre Anfangsphase wesentlich geprägt hat. Er war eine führende Figur, der sehr hart bestraft wurde, seine Strafe verbüßte und sich dann distanzierte.

Was war Ihr Ansatzpunkt?

Für mich war es wichtig, diesen Prozess der Distanzierung deutlich zu machen. Die Idee war: Wir stellen unser beider Lebensläufe gegeneinander. Auch ich wollte die Gesellschaft verändern. Auch ich habe zum Beispiel den Radikalenerlass und den Vietnam-Krieg kritisiert. Aber ich habe anders reagiert als Mahler. Ich habe an die Reformfähigkeit des Systems geglaubt.

War der Erfolg messbar?

Nein, aber man empfing Signale, dass nach dem Gespräch im Umfeld des Terrorismus eine gewisse Nachdenklichkeit einzog.

Aber die RAF hat weiter gebombt.

Die unmittelbare Wirkung auf die RAF war nicht das Ziel des Gesprächs. Das wäre hoffnungslos gewesen. Menschen, die bereit sind zu morden, kann man nicht erreichen. Ich wollte Leute erreichen, die auf dem Sprung zur RAF waren und sie davon abhalten. Ich wollte Leute erreichen, die zur Umkehr bereit waren. Ich wollte Brücken bauen. Es ging aber nie darum, einer Amnestie für Mörder das Wort zu reden. Ich hatte nie die Illusion, diese Mörder mental erreichen zu können.

In diesem Frühjahr gab es eine heftige Debatte um die vorzeitige Haftentlassung von Christian Klar. Hatten Sie ein Déja-vu-Erlebnis, als Sie sich zum Beispiel die Bild-Zeitung angesehen haben?

Ja. Denken Sie an die Schlagzeile über Brigitte Mohnhaupt: "Gefährlichste Terroristin auf freiem Fuß!" Damit wird doch suggeriert, dass von der RAF wieder eine Gefahr ausgeht und dass die Frau wieder zur Täterin wird. Das wird mit der heutigen Angst vor Terror vermischt. Diese Art der Debatte hat mir gezeigt: Der Boulevard hat nichts gelernt. Die Bild-Zeitung sollte sich ein Beispiel an ihrem früheren Chefredakteur Peter Boenisch nehmen, der am Ende seines Lebens seine widerlichen Kommentare aus der RAF-Zeit bereut hat. Es gibt ein Buch von Heinrich Böll, in dem er sich mit den einzelnen Kommentaren aus der Bild-Zeitung auseinander setzt: Die waren schrecklich. Die waren menschenverachtend.

Die zuspitzende Berichterstattung gab es in den Fällen Klar und Mohnhaupt. Als vor einigen Wochen die frühere RAF-Terroristin Eva Haule vorzeitig frei kam, blieb es still. Woran liegt das?

Vielleicht, weil es in den letzten Monaten einen intensiven Diskussionsprozess gegeben hat. Da wurde vielleicht doch manchem deutlich: Lebenslange Haft heißt in der Regel nicht Haft bis zum Lebensende. Und auch zu lebenslanger Haft verurteilte Terroristen können vorzeitig zur Bewährung entlassen werden. Ich hoffe, dass meine Erklärung die richtige ist und es doch einen gewissen Lernprozess gegeben hat. Anfang des Jahres saß ich in einer sehr schlecht vorbereiteten Sendung von Sabine Christiansen, und dem Publikum wurde tatsächlich die Frage gestellt: Dürfen Terroristen vorzeitig entlassen werden. Was für eine blödsinnige Frage! Mir ging es immer nur darum, dass sie genau so behandelt werden wie andere zu lebenslanger Haft verurteilte Straftäter. Die große Mehrheit hat das nicht eingesehen. Das ist sehr bedauerlich.

Es gibt auch die These, dass es um Eva Haule so still blieb, weil unter ihren Opfern keine Prominenten waren.

Ich weiß nicht. Ich finde generell, die Instrumentalisierung der Opfer sollte ein Ende haben. Die Bild-Zeitung und andere Medien benutzen diese Menschen für ihre Schlagzeilen. Da geht es doch nicht um Anteilnahme.

In der Debatte um Klar ist Ihnen und anderen vorgeworfen worden, Sie hätten keine Sensibilität für die Opfer.

Der Vorwurf ist falsch. Wenn Sie so wollen, bin auch ich Kind einer Opfergeneration. Ich habe Großvater und Vater in den beiden Kriegen verloren, ich bin vaterlos aufgewachsen. Ich habe als Kind die Bombennacht von Dresden erleben müssen und viele Freunde und Verwandte verloren. Wir sind eine Nachkriegsgeneration, die weiß, was es heißt, Opfer in der Familie zu haben.

Hätte der Bundespräsident Klar begnadigen sollen?

Ich weiß nicht, wie Klar das Gnadengesuch begründet hat. Ich weiß nicht, was er mit dem Bundespräsidenten besprochen hat. Ich habe auch nie eine Begnadigung gefordert, sondern lediglich erklärt, dass Begnadigungen zum Instrumentarium und zur Stärke eines Rechtsstaats gehören. Das gilt auch für Klar. Ich habe dem Bundespräsidenten die Entscheidung nicht vorzugeben. Ich kritisiere nur, dass das Verfahren so lange gedauert hat. Die Kriterien für eine Begnadigung waren für Kundige schon lange sichtbar.

Und daran änderte auch die Veröffentlichung kruder Thesen aus Klars Feder mitten in dem Begnadigungsverfahren nichts?

Das war ja ein Intermezzo der besonderen Art, dass einem Strafgefangenem das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen wurde. Auch solche Äußerungen muss die Gesellschaft ertragen.

Woran liegt es, dass die Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte nicht gelingt?

Vielleicht haben wir immer noch nicht genau begriffen, wie es sein konnte, dass Menschen zu Terroristen wurden. Dass sie unumkehrbar in die Illegalität gesprungen sind. Was gab es da an Wut und Verzweiflung und später an kühler Berechnung? Die RAF-Zeit war ein Schock, der bis heute nachwirkt und für Streit sorgt. Wir schaffen es ja bis heute nicht einmal, eine kommentierte und einordnende Ausstellung über die RAF als politisches Phänomen zu machen. In Berlin hat es dann immerhin eine interessante Kunstausstellung gegeben. Die Kunst ist frei.

Zur offenen Wunde gehört auch, dass einige Taten, die der späten RAF zugeschrieben werden, nicht aufgeklärt wurden. Wie erklären Sie sich das?

Die Täter haben aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt. Das waren Feierabend-Terroristen, die nicht komplett untergetaucht sind. Am Morgen nach der Tat sind sie wahrscheinlich wieder ganz normal zur Arbeit gegangen. Wenn nicht einer von den Tätern auf dem Totenbett redet, werden sie wahrscheinlich nicht mehr identifiziert werden können.

Halten Sie Zweifel an der Charakterisierung dieser Täter als dritte Generation der RAF für legitim?

Nein. Die Urmotivation ist identisch mit jener aus der ersten und zweiten Generation, auch wenn es nicht mehr um die Befreiung von einsitzenden Gesinnungsgenossen ging.

Heute werden wir von einer anderen Form des Terrorismus bedroht. Lassen sich aus dem Kampf gegen die RAF Lehren ziehen?

Unbedingt. Wir dürfen nicht mehr so ängstlich sein, wie wir es damals waren. Es ist falsch, den Menschen vorzumachen, der Staat könnte sie umfassend vor einem Risiko schützen, dem sie heute sehr viel mehr als damals ausgesetzt sind. Wir dürfen uns nicht hinwegtragen lassen von irrationalen Gedanken. Wir müssen die Festigkeit bewahren, die uns unsere Verfassung vorgibt. Auch angesichts der Bedrohung darf nicht an den Grundfesten dieser Verfassung gerüttelt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen über den Lauschangriff, die Rasterfahndung und das Luftsicherheitsgesetz vorgegeben, dass auch der Kampf gegen die terroristische Kriminalität seine Grenzen im Rahmen des Grundgesetzes hat. Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel, sonst wären wir ganz schnell bei der Folter.

Erleben wir aber nicht im Gegenteil, dass der Präventionsgedanke in unserem Staat immer mehr um sich greift?

Ja. Der Sicherheitsstaat ist unersättlich. Der Ausnahmezustand darf nicht zur Regel werden. Es wächst eine Tendenz, Elemente der Kriegsführung in die Kriminalitätsbekämpfung einzuführen. Wir begeben uns damit auf das Feld des Krieges. Das ist eine ganz fatale Entwicklung für die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Wenn die Politik immer nur neue Sicherheitsideen produziert und die Entscheidung dann dem Verfassungsgericht überlässt, dann beweist die Politik ihre Hilflosigkeit und dankt ab. Hoffentlich passiert das nicht im Falle der Online-Durchsuchung, gegen die ich Verfassungsbeschwerde erhoben habe.

Die Politik wird entgegnen, sie mache das alles, um Anschläge zu verhindern.

Da soll die Politik doch mal lieber das machen, was wirklich nötig wäre. Sie könnte zum Beispiel die Polizei endlich mit einem digitalen Funksystem ausstatten, das flächendeckend in ganz Deutschland funktioniert. Das wird schon seit vielen Jahren gefordert. Aber seit Jahren wird die Einführung moderner Informationstechnologie für die Polizei verschleppt. Und das behindert wirksame Kriminalitätsbekämpfung. Es ist ein Treppenwitz, dass Polen mit EU-Geld diesen Digitalfunk einführt und bei uns wegen des Streits zwischen Bund und Ländern nichts vorangeht. Wenn man schon über so weitreichende Sicherheitsgesetze debattiert, dann muss man vorher auch dort die Hausarbeiten machen, wo es ohne Einschränkung der Freiheitsrechte einen hohen Sicherheitsgewinn gibt.

Das kostet aber viel Geld.

Ich weiß, dass so etwas schwierig ist. Es ist leichter, ein Gesetz zu verschärfen als dem Finanzminister Geld für die Polizei zu entlocken. Die Sicherheitsfanatiker würden dem Menschen bei seiner Geburt am liebsten einen Chip einpflanzen, damit man ihn immer überwachen kann. Man könnte ihm ja sagen, er werde sich nie mehr im Wald verlaufen. Vielleicht glaubt es der eine oder andere.