Ein Klima der Angst
Mehr als drei Wochen war der Berliner Sozialwissenschaftler Andrej H. inhaftiert (Angeblicher Schlag gegen Militante Gruppe), bis sich die Staatsanwaltschaft eines Anderen besann. Mitte dieser Woche kam der 36-Jährige frei - auf Kaution und mit strengen Auflagen. Oberstaatsanwalt Frank Wallenta vergaß gegenüber der Presse zuvor nicht zu betonen, dass der Haftbefehl gegen Andrej H. aber nicht aufgehoben ist. Der Familienvater und wissenschaftliche Mitarbeiter der Berliner Humboldt-Universität stehe weiter unter "dringendem Verdacht", Mitglied einer terroristischen Organisation mit dem Namen "Militante Gruppe" zu sein.
Andrej H., der sich unter anderem im globalisierungskritischen Netzwerk Attac engagiert hatte, war am 31. Juli zusammen mit drei weiteren Männern festgenommen worden. Die übrigen Verdächtigen befinden sich nach wie vor in Haft. Allen vieren wird nach Paragraph 129a die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zur Last gelegt. Beweise gibt es für diesen Vorwurf nach bisherigen Informationen nicht. Angeführt wurden lediglich Indizien, die zudem aufeinander aufbauten.
Weil dem Sozialwissenschaftler Andrej H. unter anderem bescheinigt wurde, die "intellektuelle Fähigkeiten" zum Verfassen von Bekennerschreiben einer angeblich aktiven "Militanten Gruppe" zu besitzen, hatten Dutzende Universitätskollegen aus aller Welt gegen seine Inhaftierung protestiert:
- Offener Brief an die Generalbundesanwältin von deutschen Wissenschaftlern
- Offener Brief an die Generalbundesanwaltschaft von internationalen Wissenschaftlern)
- Mitteilung der American Sociological Association
- Erklärung zur Verteidigung
Das polizeiliche Vorgehen gegen sozial- und globalisierungskritische Aktivisten in Deutschland hat damit eine neue, internationale Dimension erreicht.
Ein Schlag nach dem anderen
Fast zeitgleich zur Aussetzung des Haftbefehls für Andrej H. - auch ein Ergebnis der internationalen Proteste - wurde ein weiterer Schlag gegen politische Strukturen bekannt. Wie die Öffentlichkeit erst am vergangenen Dienstag erfuhr, hatte die Polizei bereits am 16. August die Wohnung eines Atomkraftgegners in Bonn durchsucht und seine EDV-Ausrüstung beschlagnahmt. Wie bei dem Vorgehen gegen angebliche Mitglieder einer "Militanten Gruppe" wurde auch diese Aktion abenteuerlich begründet. Der betroffene Aktivist stehe unter Verdacht, zu Straftaten aufgerufen zu haben, hieß es. Er habe während der Proteste gegen das Gipfeltreffen der G-8 im Juni in Heiligendamm über die Internetseite antiatombonn.de einen Leitfaden zur Teilnahme an Protesten veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft sah darin einen "Aufruf zu Straftaten". Dabei war die Zielperson nur mittelbar für den politischen Inhalt verantwortlich; vorrangige Aufgabe des Mannes war die technische Administration der Seite. Ignoriert wurde auch, dass der organisierte Protest während des Gipfels explizit gewaltfrei war.
Die beiden Polizeiaktionen gegen politische Aktivisten der Linken stehen nicht isoliert da. Sie sind Teil einer Serie repressiver Maßnahmen des Staatsapparates gegen seine Kritiker. Schon im Mai war es - kurz vor den lange geplanten Protesten gegen den G-8-Gipfel an der Ostseeküste - zu Durchsuchungen im gesamten Bundesgebiet gekommen (Erinnerung an Genua). Gegen diese Maßnahmen hatten damals Tausende Menschen bundesweit protestiert. Vermutet wurde, dass potentielle Demonstranten von einer Teilnahme an den politischen Aktionen gegen das Treffen der Staats- und Regierungschef abgeschreckt werden sollten.
Von ähnlichen Überlegungen gehen politische Beobachter auch nach den jüngsten Vorfällen aus. Es sei bei der Polizeiaktion in Bonn offenbar darum gegangen, "die G-8-Protestszene auszuspähen und zu kriminalisieren", sagte Werner Rätz, Mitglied der Bonner Attac-Gruppe und des bundesweiten Attac-Koordinierungskreises.
Die Willkür, mit der einzelne Personen und Gruppierungen Repressionen ausgesetzt werden, soll offenbar ein Klima der Angst schaffen, um politisch engagierte Menschen mundtot zu machen.
Werner Rätz, Attac
Ähnlich äußerte sich Wolfgang Kaleck, der Vorsitzende des Juristenverbandes Republikanischer Anwältinnen- und Anwaltsverein. Die Vorwürfe der Bonner Staatsanwaltschaft seien besonders "angesichts des tatsächlichen Verlaufs der Massenblockaden während des G-8-Gipfels absurd und eine massive Verletzung der Demonstrationsfreiheit". Gewalt sei während der Proteste nur von der Polizei ausgegangen.
Vorwürfe in allen Fällen konstruiert
Man könnte die Replik von Rätz und Kaleck als Überreaktion abtun, gäbe es nicht objektive Verfälschungen und konstruierte Vorwürfe der Staatanwaltschaften. So wird dem Opfer der Bonner Razzia vorgeworfen, mit der Veröffentlichung des Leitfadens für Demonstranten zum "gewaltsamen Wegdrücken" von Polizeisperren während des G-8-Gipfels aufgerufen zu haben. Vergleicht man die Formulierung mit dem betreffenden Dokument, wird die Fälschung offenbar. Dort nämlich heißt es:
Unser Ziel ist zu blockieren, d.h. wir werden Polizeiabsperrungen überwinden, sie wegdrücken, sie umgehen oder geschickt durch sie hindurchfließen. Wir lassen uns nicht stoppen, bleiben nicht stehen und steigen nicht auf mögliche Eskalationsstrategien der Polizei ein.
Aus dem Dokument "goes G8: Bewegen, blockieren, bleiben"
Von "gewaltsamem" Vorgehen ist in dem Leitfaden keine Rede, ganz im Gegenteil: Man lasse sich "Motive und Aktionsformen unseres entschiedenen und gewaltfreien Widerstands gegen Atomkraft wie G8 nicht absprechen", heißt es deutlich hervorgehoben im Text.
Wie bei der Bonner Polizeiaktion stehen auch die staatsanwaltschaftlichen Argumente im Fall der mutmaßlichen Mitglieder einer so genannten Militanten Gruppe auf wackeligen Füßen. Weil Andrej H. etwa in seinen wissenschaftlichen Arbeiten die gleiche Terminologie benutzt haben soll ("Gentrification" und "Prekarisierung") wie die Bekennerschreiben einer "Militanten Gruppe", gerieten er, seine Freunde, Bekannte und Familienmitglieder ins Fadenkreuz der Terrorfahnder. Schon die Hausdurchsuchungen bei Kritikern des G8-Gipfels wurden unter anderem mit Suchbegriffen bei der Internetrecherche begründet (Vorsicht bei der Internetrecherche?).
Hinterfragen ließe sich sogar die Existenz einer "Militanten Gruppe" selbst. Nach Angaben des Staatsschutzes soll sie seit 2001 für zahlreiche Anschläge verantwortlich sein. Erwähnung findet sie darüber hinaus in den jährlich erscheinenden Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. In der linken Szene gilt die Gruppe hingegen als Phantom. Mehrmals griff sie allerdings in Militanzdebatten der radikalen Linken ein. In der Zeitschrift "Interim" plädierte eine "Militante Gruppe" in den vergangenen Jahren mehrfach dafür, eine Debatte um "die Mittel des bewaffneten Kampfes" zu führen - und provozierte damit kritische Reaktionen. Ob es die Gruppe gibt, ist nicht zu beurteilen. Die Glaubwürdigkeit von Staatsschutz und Staatsanwaltschaft lässt sich daher allein an den Untersuchungsergebnissen bewerten. Wenn sie nach über einjähriger eingehender Überwachung der nun Beschuldigten aber keine handfesten Beweise haben, sondern nur eine mühsam konstruierte Indizienkette, sieht es um diese Glaubwürdigkeit nicht gut aus.
Auch deswegen regt sich international Widerstand gegen die politische Repression. Von den USA bis nach Polen fanden in den vergangenen Wochen Proteste statt. Ein Protestschreiben an die Generalbundesanwältin Monika Harms wurde unter anderem von ehemaligen polnischen Oppositionellen wie dem Solidarnosc-Berater Tadeusz Kowalik unterzeichnet. "Der deutsche Paragraph 129a", sagte dazu Kamil Majchrzak, Redakteur der polnischen Ausgabe der Monatszeitschrift Le Monde diplomatique, "steht symbolisch für polizeiliche Maßnahmen in ganz Europa". Offenbar werde versucht, neben dem Gewaltmonopol ein Politikmonopol des Staates aufzubauen.