Neue Broschüre: Strategien der Antirep-Arbeit
In letzter Zeit sind zwei Broschüren zu Antirepressions-Arbeit erschienen. Zum einen eine Bilanz der Soli-Arbeit des Einstellungsbündnisses zum Berliner mg-Verfahren; zum anderen eine Broschüre der Roten Hilfe Internationale zum Prozeß gegen die Politisch-Militärische Kommunistische Partei (PCP-M) in Italien.
Die Broschüre des Einstellungsbündnisses umfaßt 86 Seiten, ist eher narrativ gehalten und legt auch interne Differenzen, Frustrationen, Enttäuschungen und Verunsicherungen (S. 20, 22, 24, 74) offen. Die RHI-Broschüre aus Brüssel und Zürich läßt dagegen eher den „marxistisch-leninistischen“ Verlautbarungsstil wieder aufleben; auch dort lassen sich aber unter der etwas spröden Schale Erkenntnisse bergen, die der weiteren Diskussion lohnen.
Beide Broschüren beschäftigen sich u.a. – auf je unterschiedliche Weise – mit der Frage: Was ist die Funktion eines (politischen) Strafprozesses? Und welche Möglichkeiten bestehen darin für die Angeklagten, ihre politischen Positionen zur Geltung zu bringen?
Die Berliner Broschüre folgt zunächst weitgehend der Chronologie der Ereignisse. Das erste Kapitel „Über Fallen und Freuden der Soliarbeit“ (9-30) startet mit einem Abschnitt „Wie alles begann ...“, behandelt dann die verschiedenen Etappen der Soliarbeit bis hin zum Prozeß, geht des weiteren auf ein Papier „Solidarität ist unteilbar“ zur militanten gruppe (mg) ein, das während des Prozesses veröffentlicht wurde(1), und endet schließlich mit einem Abschnitt „Auseinandersetzung mit Knast“.
Das zweite Kapitel zur „Öffentlichkeits- und Pressearbeit“ (31-45) ist weniger chronologisch und stärker systematisch angelegt und endet mit einem Abschnitt „Lob und Kritik“ zur Arbeit des Einstellungsbündnisses.
Das dritte Kapitel behandelt die „Soliarbeit rund um den Prozess“ (46-64). Ein Vorwort (7-8), ein Kapitel zu den Ermittlungsmethoden von Polizei und Verfassungsschutz (65-72), ein Resümee (73-76) sowie ein Anhang mit einer Chronologie und einer Liste mit links zu Texten im internet zu dem Verfahren runden die Broschüre ab.
Das Büchlein des Einstellungsbündnisses stellt sich dabei zwei Ansprüche: Erstens, auch Dissens darzustellen, und zweitens, dies aber nicht in Form einer „‚Abrechnung mit Personen, die mal Teil des Bündnisses waren und gegangen sind“, zu machen (8). Mir scheint, in diesem Zusammenhang läßt sich – im Gegensatz zum gängigen Szene-Vorurteil zum Verhältnis von Einheit, Handlungsfähigkeit und Diskussionsbereitschaft – die wichtigste Lehre aus der Arbeit des Einstellungsbündnisses ziehen: Vom breitesten Bündnis bis zur kleinsten Kleingruppe oder Politsekte gilt „Einheit“ als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Und, ja, Leute, die vom gleichen Punkt in Richtung entgegengesetzter Ziele loslaufen, werden auch keine gemeinsame Wegstrecke haben, also nicht gemeinsam handlungsfähig sein.
Ein Problem hinsichtlich der postulierten Einheit und Handlungsfähigkeit ergibt sich aber, wenn mit deren Postulierung auch schon ein bestimmtes Ziel und ein bestimmter Weg vorgegeben und im Namen von Handlungsfähigkeit der kontroversen politischen Diskussion entzogen werden: Einheit, die nicht von Überzeugung getragen ist, ist – wenn überhaupt – kaum mehr Wert als Spaltung. Und Ziele und Wege, die ungeprüft – d.h. ohne kontroverse Diskussion – festgelegt werden, erweisen sich schnell als die falschen.
Hier nun zeigt die Arbeit des Einstellungsbündnisses, daß Diskussionsbereitschaft der erforderliche Handlungs- und Bündnisfähigkeit nicht entgegenstehen müssen:
– Statt Festlegung eines Minimalkonsens, dem dann alle Beteiligten – bei bloßer Alternative des Wegbleibens, der Nicht-Beteiligung oder des Ausschlusses – unterworfen werden, wurde für die Webseite des Einstellungsbündnisses früh festgelegt: „Alles kommt auf die Webseite, jede Solidarität wird dokumentiert, sowohl das Plakat ‚Es gibt zu viele Bundeswehrfahrzeuge’ als auch Erklärungen wie die von Andrejs Doktorvater Hartmut Häusermann, der sich von der mg distanzierte.“ (18)
– Im Bündnis wurde immer wieder – z.B. zwischen mehr bürgerInnenrechtlichen und mehr antimilitaristischen Schwerpunktsetzungen (43) darum gerungen, was jeweils aktuell richtige Handlungen sind (13, 32 f., 37), ohne dadurch über einen – für Szene-Verhältnisse lange Zeitraum von vier Jahren (von den Festnahmen im Sommer 2007 bis heute) – der Lähmung (Handlungsunfähigkeit) anheimzufallen (42: Diskussionen gerade als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit im Konsens).
– Und auch Kritik von außerhalb des Bündnisses wurde teils in der weiteren Arbeit aufgegriffen, teils beantwortet oder zumindest dokumentiert (16 f., 44 f., 82, 86), sodaß auch im Dissens bzw. von außen immer ein produktiver Bezug auf einander möglich blieb (36, 41-43).
– Und auch diejenigen, die sich im Laufe der Zeit aus der Bündnisarbeit zurückgezogen haben, waren an der Diskussion der vorliegenden Auswertungsbroschüre beteiligt (7).
Ein weiterer Fokus der Broschüre liegt auf den sog. „politischen Beweisanträge“, die von den „Anwält_innen gebündelt am Ende der Beweisaufnahme“ gestellt wurden (61): „Gleich war eine ganz andere Stimmung im Gerichtssaal, die Luft hat regelrecht gebrannt. [...] Dieser Prozesstag war auch für die Angeklagten etwas [B]esonderes. Nach 50 Prozesstagen mit BKA- und BAW-Konstrukt-Gequatsche standen sie an diesem Tag – so sagte einer von ihnen – als politische Subjekte da.“ (62)
Es waren aber nicht die Angeklagten, die die Anträge ausgearbeitet und vorgetragen hatten, sondern dies machten – mit inhaltlicher Zuarbeit des Bündnisses – die AnwältInnen (62). Daß diese Methode den Inhalten nicht nur gut getan hat, wurde bereits an anderer Stelle dargestellt(2) und soll hier nicht wiederholt werden.
Statt dessen ist dies die geeignete Stelle, um zu der zweiten zu besprechende Broschüre überzugehen, denn diese postuliert: „Die Anwälte als politische ‚Resonanzkörper’ zu benützen ist ein Fehler.“
(1) http://einstellung.so36.net/de/1333
(2) Siehe den von FSK gesendeten Mitschnitt einer Veranstaltung, die am 18.5. in Berlin zu der Broschüre stattfand. Der Mitschnitt steht jetzt im internet unter der Adresse http://www.freie-radios.net/41483 zum download zur Verfügung.
Bündnis für die Einstellung der §129(a)-Verfahren
Das zarte Pflänzchen der Solidarität gegossen
Eine Nachbereitung zu den Verfahren und dem Prozess wegen Mitgliedschaft in der militanten gruppe (mg).
edition assemblage: Münster, 2011.
ISBN 978-3-942885-00-3
86 Seiten, 4.80 €