Mentor der Militanten

von FOCUS-Korrespondent Alexander Wendt (Leipzig)

Nach seiner Haftentlassung inspiriert der mehrfache Mörder und frühere RAF-Terrorist Christian Klar offenbar eine neue Generation von Linksradikalen
Die Täter, die gegen drei Uhr morgens über den Drahtzaun der Bundeswehrkaserne kletterten, kannten sich exzellent aus und brauchten nur wenige Minuten, um die Brandsätze zu legen: Im Fuhrpark-Hangar der Dresdner Offiziersschule des Heeres platzierten sie acht Evian-Flaschen mit Brennstoff und jeweils einem professionell gebastelten Zeitzünder.

Eine Brandbombe versagte, aber die restlichen sieben reichten aus, um 42 der nebeneinander geparkten Fahrzeuge zu zerstören.

Den Soldaten bot sich am nächsten Morgen ein Bild, das sie sonst eher von Attacken in Afghanistan kannten: Bei dem größten Anschlag, der die Bundeswehr je im Inland traf, verbrannte am Ostermontag 2009 Militärtechnik im Wert von 3,3 Millionen Euro.

Der bis heute nicht aufgeklärte Anschlag von Dresden markiert ein relatives Novum in der deutschen Extremismusgeschichte: Zu der Aktion existiert bis heute kein authentisches Bekennerschreiben, sondern nur ein Jux-Brief einer angeblichen „Initiative für ein neues blaues Wunder“, den die Staatsschützer schnell als Wortmeldung unbedarfter Trittbrettfahrer identifizierten.

Für den Kommandeur der Offiziersschule, Franz Xaver Pfrengle, deutete alles „in Richtung militante Gruppe“, also der jüngsten und bisher auch rätselhaftesten Formation des Linksterrorismus in Deutschland.

Der Brigadegeneral könnte Recht haben – auch wenn sich die Ermittler offiziell bedeckt halten. Tatsächlich weisen etliche Indizien in Richtung Berlin, wo sich nach Ansicht von Staatsschützern der Kern der Gruppe befindet, die sich bis 2009 unter dem Kürzel mg zu Wort meldete. Die Brandsätze vom Typ „Nobelkarossentod“ gleichen denen, die die mg bei etlichen Brandanschlägen verwendete. In der Nähe der Kaserne war ein BMW mit Berliner Kennzeichen aufgefallen, und offensichtlich war das Objekt vorher fachkundig ausgespäht worden. Zu den stärksten Argumenten gehört für die Ermittler die nahezu makellose Ausführung der Attacke. „Die lokale Szene in Dresden“, so ein Fahnder, „ist zu Anschlägen dieser Qualität nicht in der Lage.“

Bei ihrer angeblichen Selbstauflösung als mg im Juli 2009 bekannte sich die Gruppe zwar zu etlichen der rund 40 Anschläge, die ihr zugeschrieben werden, nicht aber zu dem Angriff auf die Dresdner Kaserne. Wegen Mitgliedschaft in der mg und Beteiligung an anderen Anschlägen verurteilte das Kammergericht Berlin 2009 drei Männer zu – noch nicht rechtskräftigen – Haftstrafen zwischen drei und dreieinhalb Jahren. Ein Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft gegen den Berliner Soziologen und Journalisten Andrej H., der ebenfalls unter mg-Verdacht stand, musste wegen zu dünner Indizien eingestellt werden.

Eine DNA-Spur der jungen Freizeit-Terroristen

Eines ist sicher: Die DNA-Spur von einem der Kasernen-Attentäter stammt weder von den drei Verurteilten noch von dem ehemals verdächtigen Soziologen. Nach Überzeugung der Fahnder existiert sie also nach wie vor: die jüngste Generation des deutschen Linksterrorismus, verankert im Raum Berlin, konspirativ gut abgeschirmt und in der Lage, größere Anschläge auszuführen.

„Wir können feststellen, dass wir weder durch die Festnahme von linken Aktivisten . . . in unserer personellen Gruppenstruktur tangiert worden wären noch sonst in unserer Existenz gefährdet sind“, verkündeten auch die selbst ernannten revolutionären Kämpfer in ihrer vorgeblichen Auflösungserklärung. In dem linksextremistischen Blatt „Radikal“ erklärten die wie immer anonymen mg-Aktivisten außerdem im gewohnt kryptischverschwafelten Untergrundstil: „Wir werden uns neu gesammelt . . . im Rahmen dessen, was unsere Kapazitäten hergeben, einzubringen versuchen und das eine oder andere Zeichen praktischer Art setzen, damit die staatskapitalistisch eingehegte Krise nicht eingedämmt, sondern verschärft wird.“ Wer die Verlautbarungen der Freizeit-Terroristen, die sich im normalen Leben unauffällig verhalten, genau liest, kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der vermeintlichen Auflösung eher um eine Umfirmierung handelt. Womöglich soll der Winkelzug den drei Verurteilten für das Revisionsverfahren Argumente liefern.

Klar, der Alte Herr des deutschen Linksterrors

Experten von BKA, Landeskriminalämtern und Verfassungsschutz nehmen die Drohung mit „Zeichen praktischer Art“ ernst – vor allem, weil sie von einem neuen Phänomen alarmiert sind: Zwischen den Symbolfiguren der RAF und der neuen Terrorgeneration existieren offenbar Kontakte. Zumindest bei dem Ex-RAF-Täter Christian Klar sind sich Fahnder sicher: Der heute 58-Jährige, der nie mit seinen Überzeugungen brach, betätigt sich als Inspirator und Anreger, sozusagen als Alter Herr des deutschen Linksterrorismus. „Das läuft nach dem Muster: Alt berät Jung“, so ein hochrangiger Sicherheitsbeamter gegenüber FOCUS.

Natürlich überschreite Klar, der nach seiner Haftentlassung Ende 2008 noch unter Bewährung steht, nicht die Grenze zur Strafbarkeit, er habe nichts mit konkreten Planungen zu tun. Aber der Terrorist a. D., verurteilt wegen neunfachen Mordes und elffachen Mordversuchs, wirke in klandestinen Kreisen offenbar als „Befruchter“. Es sei ja auch kaum zu erwarten gewesen, so der Sicherheitsexperte, „dass der sich nach 26 Jahren Haft ändert“.

Klar selbst hatte eine derartige Rolle auch schon mehr oder weniger aus seiner Gefängniszelle in Bruchsal angekündigt. Im Gespräch mit Günter Gaus meinte er 2001, zu seiner Vorstellung von einem Leben in Freiheit gehöre, „mit Leuten zusammenzukommen, mit denen ich viele Jahre nicht sprechen konnte, Dinge besprechen, die liegengeblieben sind“. Und 2007 schickte er an die Rosa-Luxemburg-Konferenz eine Grußbotschaft, in der er dazu aufrief, „die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden und die Tür für eine andere Zukunft aufzumachen“.

Nach einem Brandanschlag auf die Italienische Handelskammer und das Büro des Türkischen Unternehmerverbands in Berlin bekannte sich die mg nicht nur zu der Tat, sondern erwähnte in ihrem Schreiben auch das Klar-Grußwort – liebevoll „Christians Solibotschaft“ genannt. Die junge Generation erwies sozusagen ihren Vorgängern die Reverenz.

Die RAF – lebt da überhaupt noch etwas? Dass noch organisatorische Reststrukturen der 1998 offiziell aufgelösten Terrorgruppe existieren, erfuhr die Öffentlichkeit spätestens im Mai dieses Jahres, als sich eine Gruppe anonymer Ex-RAF-Mitglieder in der extrem linken Postille „Junge Welt“ zu Wort meldete – zeitgleich mit der Ankündigung eines neuen Verfahrens gegen Verena Becker, die sich ab 30. September auf Grund neuer Indizien vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wegen Mordes an dem damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern verantworten muss. Die Botschaft aus der RAF-Gruft: „Von uns keine Aussagen.“

In dem Buback-Mordfall von 1977 steht bis heute nicht fest, wer die tödlichen Schüsse abgab – weil die damals Beteiligten bis heute eisern schweigen. Die Deklaration vom Mai 2010, verfasst „von einigen, die zu unterschiedlichen Zeiten in der RAF waren“, ist vor allem die Erneuerung des Maul-halten-Befehls von RAF-Mitgründer Andreas Baader: „Wir machen keine Aussagen, weil wir keine Staatszeugen sind – damals nicht, heute nicht.“ Im Übrigen lobten sich die Terror-Rentner noch einmal ausgiebig für ihre „bewaffnete Politik“ und dafür, dass die RAF „nicht vom Staat besiegt wurde“. Ein „Schlussstrich“ unter die RAF, so glauben sie, sei „ein groß angelegter Versuch“ von Gegnern und Überläufern, „reale Erfahrungen zu verschütten“.

Schon 2007 traf sich Verena Becker nach Erkenntnissen von Ermittlern mit ihrem ehemaligen RAF-Mitkämpfer Rolf Heißler und der Klar-Vertrauten Brigitte Mohnhaupt, um gemeinsam den Schweigeschwur zu erneuern.

Bizarre Ost-West-Kombination in beiden Terror-Generationen

Das Berliner Linksaußen-Blättchen „Junge Welt“, bis 1989 Organ des Zentralrats der FDJ, der DDR-Staatsjugendorganisation, gehört zu jenem seltsamen Milieu, in dem sich alte und jüngere Untergrundkämpfer begegnen. Die Beziehung der Zeitung zu Klar funktioniert hervorragend, sie druckte nicht nur die anonyme RAF-Erklärung von 2010, sondern bekam 2007 auch die Luxemburg-Grußbotschaft des damals noch einsitzenden RAF-Spitzenmanns Klar vorab.

Außerdem gilt das Blatt, zu dessen Redaktionsteam mehrere Ex-Stasi-Spitzel zählen, auch als Sprachrohr von Stasi-Veteranen. Im Jahr 2001 druckte die „Junge Welt“ eine larmoyante Selbstverteidigungserklärung ehemaliger Mielke-Offiziere ab. Mit dabei: jener einstige MfS-Oberst Harry Dahl, der in den achtziger Jahren Christian Klar und etlichen in die DDR abgetauchten RAF-Kadern als Ansprechpartner diente.

Eine solche scheinbar bizarre Ost-West-Kombination wie die damalige Partnerschaft RAF-Stasi könnte es auch in der neuesten Terror-Generation geben. Nach der Analyse von Fahndern dürften sich die Jungen biografisch eher in den mittleren Jahren befinden. Zumindest einige der in marxistisch-leninistischer Literatur bewanderten Aktivisten im Dunstkreis der mg scheinen in der DDR sozialisiert worden zu sein.

Der 1970 in Leipzig geborene Soziologe Andrej H., der vorübergehend in Terrorverdacht geriet, weil er Kontakte zu inzwischen verurteilten Mitgliedern der mg pflegte, diente 1989 im Stasi-Wachregiment Feliks Dzierzynski, sein Vater war nach H.s Angaben hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit.

Einen wesentlichen Unterschied zwischen alten und neuen Untergrundstrukturen sehen die Fahnder: Die neuen organisieren sich offenbar nicht hierarchisch wie die RAF, sondern eher dezentral. Und sie vermeiden – bis jetzt – bewusst einen Angriff auf Personen. „Desperados, Pistoleros, die nichts und niemand fürchten, gehören in den muffigen Comedy-Keller“, befinden die mg-Leute in ihrer vorerst letzten Wortmeldung in „Radikal“: „Solche Charaktere versprühen vor allem eine starke Melancholie.“ Das klingt wie ein direkter Kommentar zu Klar und seinen RAF-Altgenossen.

Das Bedürfnis, RAF und Gegenwart irgendwie zu verknüpfen, scheint es auf beiden Seiten zu geben. Auf den jüngsten Schweigebefehl der alten RAF-Genossen reagierte ein Anonymus in einem linksradikalen Diskussionsforum. Unter dem Namen „Likedeeler“ kritisierte er die RAF-Erklärung zwar „als Denkmalspflege in der Terminologie der 80er“ und lobte den Ex-RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo dafür, dass er sich öffentlich mit der Geschichte der Terror-Vereinigung auseinandersetze.

Dann schrieb „Likedeeler“ über die RAF-Erfahrungen: „Auf diesem brachliegenden Feld, würden wir es denn endlich beackern, liegt ein Schatz an Wissen, Erfahrung und Möglichkeiten, der auch eine große Bedeutung für die heutigen und kommende Kämpfe haben könnte.“
»Wir werden das eine oder andere Zeichen praktischer Art setzen« Erklärung der militanten Gruppe