Zehn Jahre unter falschem Verdacht
Drei Berliner wurden jahrelang vom Geheimdienst überwacht - ungerechtfertigt, urteilt der BGH
Jörg Schindler
BERLIN. Jochen U. backt nun wieder Brötchen, ohne dass der Staat ihm dabei über die Schulter schaut. Der 62-Jährige findet das angenehm. So richtig traut er der Sache aber nicht. Zehn Jahre Rundum-Überwachung haben ihre Spuren hinterlassen.
Ende Mai erhielt Jochen U. Post von seinem Anwalt. Der Inhalt: ein 23-seitiger Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH). Seither hat Jochen U. schriftlich, was er immer schon ahnte. Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, so der BGH, haben ihn jahrelang rechtswidrig überwacht. Zum Teil konstruierten die Behörden atemberaubende Vorwürfe, um ihn als Gründer der mysteriösen "militanten gruppe" zu überführen. Sie schreckten auch nicht davor zurück, entlastende Indizien zu unterschlagen, um den Lauschangriff weiter ungestört auszuführen. Der BGH-Beschluss, der dieser Zeitung vorliegt, verurteilt diese Maßnahmen aufs Äußerste. Nebenbei zeigt der Bericht, wie leicht man als Linker zum Terrorverdächtigen werden kann. "Schön und gut", so Jochen U., "aber dafür kann ich mir auch nichts kaufen".
Jochen U. betreibt in Kreuzberg eine Bäckerei. Der studierte Physiker bezeichnet sich selbst als "linken politischen Aktivisten", seit 1968 tut er, was überzeugte 68er so tun: Er streitet gegen das System, er debattiert, er demonstriert, er politisiert. Er ist darüber mit den Jahren grau geworden. Jochen U. gehört zu "Libertad!", einer Initiative, die sich weltweit für politische Gefangene einsetzt. U. war dabei, als "Libertad!" 1998 die Konferenz "Befriedung oder Befreiung?" organisierte, 300 Menschen nahmen daran teil, darunter auch Kurden, Kolumbianer, Basken, nach eigener Auffassung Freiheitskämpfer - für staatliche Stellen Militante. Möglich, dass U. wegen dieser Konferenz ins Visier des Verfassungsschutzes geriet. Er weiß es bis heute nicht. Klar ist aber: Seit 1998 wird Jochen U. überwacht. Drei Jahre später geriet er dann endgültig unter Terrorverdacht.
Kein ausreichender Tatverdacht
Mitte Juni 2001 schickten Unbekannte dem Regierungsbeauftragten für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, Otto Graf Lambsdorff, eine scharfe Patrone. Der beigefügte Brief war überschrieben mit "Auch Kugeln markieren einen Schlussstrich" und unterzeichnet mit "militante gruppe (mg)". Kurz darauf stand bei Daimler-Benz in Berlin-Marienfelde ein Fahrzeug in Flammen, zu der Tat bekannte sich eben jene "militante gruppe". Es war der Beginn einer Serie von rund 30 Anschlägen, die bis zur Selbstauflösung der Gruppe im Juli 2009 vor allem staatlichen Einrichtungen und großen Konzernen galten.
Der Staat nahm die Gruppe von Anfang an ernst. Vier Wochen nach dem brisanten Brief an Lambsdorff leitete der Generalbundesanwalt das erste von mindestens fünf Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129a ein - er erlaubt staatlichen Stellen weitgehende Befugnisse im Kampf gegen eine "terroristische Vereinigung". Der Verfassungsschutz glaubte da schon zu wissen, wer die Gründer der "militanten gruppe" sind: die drei "Libertad!"-Aktivisten Jochen U., Jonas F. und Markus H. Warum, ist bis heute ein Geheimnis. Für den BGH jedenfalls steht fest: "Zu keinem Zeitpunkt bestand ausreichender Tatverdacht."
Gleichwohl gestattete der damalige Ermittlungsrichter des BGH den Behörden erstmals am 24. Juli, ihr Überwachungsarsenal auf die drei Verdächtigen zu richten. Obwohl die Ermittlungen keine belastenden, aber etliche entlastende Indizien zu Tage förderten, wurde die Erlaubnis immer wieder verlängert. Bis Mitte 2006 rund 40 Mal.
Der Aufwand, den die Ermittler betrieben, war enorm. Allein bei jochen U. wurden sämtliche Telefonate, E-Mails und Postsendungen kontrolliert. Über dem Eingang seiner Wohnung und seiner Arbeitsstelle wurden Kameras installiert, nachts wurde jeder Schritt U.s verfolgt. Um auch sein Auto zu überwachen, tauschten sie es zwischenzeitlich gegen ein anderes aus, um es in Ruhe zu verwanzen. Auch dieser Aufwand brachte keinen Ertrag.
Der Generalbundesanwalt, das BKA und der Verfassungsschutz aber blieben dabei: Die drei Berliner müssen es sein. Um weiter eifrig zu spionieren, unterschlugen die Behörden ein entlastendes Gutachten. Das Kriminaltechnische Institut des BKA konnte zwischen Schriftstücken der drei Verdächtigen und Bekennerschreiben der mg kaum Übereinstimmungen feststellen. Vor dem Ermittlungsrichter fand dieses Gutachten jedoch "keine Erwähnung", rügt nun, neun Jahre später, der BGH.
Verfahren wegen Marx-Zitat
Die Bespitzelung hatte für U., F. und H. aber auch ihr Gutes: Für etliche mg-Brandanschläge in den Jahren 2001 bis 2007 scheiden sie als Täter zweifelsfrei aus. Ihre Überwacher waren in all diesen Fällen Zeugen dafür, dass sie zur Tatzeit woanders waren. So schnell aber gaben die Ermittler nicht klein bei. Im Laufe der Jahre eröffneten sie weitere Verfahren, darunter gegen einen Freund von Jochen U. und gegen seinen Sohn. Nach Aktenlage geriet dieser unter anderem deshalb ins Visier der Fahnder, weil er als Geschichtsstudent ein Referat mit einem Marx-Wort versah. Ungefähr zur selben Zeit hatte auch die mg in einem Bekennerbrief Marx zitiert. Das Verfahren gegen U.s Sohn wurde im April 2008 mangels Tatverdacht eingestellt. Wie überhaupt fast alle mg-Verfahren im Lauf der Jahre ergebnislos versandeten.
Im September 2008 teilte man Jochen U., Jonas F. und Markus H. mit, das Verfahren gegen sie sei eingestellt. Auch nach zehnjährigem Lauschangriff waren sie nicht zu überführen. Alle drei hatten daraufhin geklagt, um die Unrechtmäßigkeit der staatlichen Überwachung feststellen zu lassen. Der BGH hat ihnen nun Recht gegeben. Lediglich aufgrund "vager Anhaltspunkte" und "bloßer Vermutungen" seien die drei Berliner unter Terrorverdacht geraten, so der Gerichtshof.
Jochen U. hat es zur Kenntnis genommen. Gefreut hat er sich nicht. Er ist sich sicher, dass die Behörden trotzdem erreicht haben, was sie wollten: die linke Szene in Berlin über Jahre hinweg auszuspähen. Nun backt er wieder Brötchen, vermutlich unbeobachtet. Ganz sicher ist er nicht. "Ich bin und bleibe nun mal politischer Aktivist", sagt Jochen U. "und vermute, beim Verfassungsschutz bin ich weiterhin auf dem Schirm."
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Meldung auf der Titelseite der Berliner Zeitung:
Linksextremisten jahrelang rechtswidrig verfolgt
Im Kampf gegen den militanten Linksextremismus haben die Bundesanwaltschaft, das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz eine weitere schwere Schlappe vor dem Bundesgerichtshof (BGH) erlitten. In einem Beschluss, der der Berliner Zeitung vorliegt, bezeichnet der 3. Strafsenat des BGH ein jahrelanges aufwendiges Ermittlungsverfahren gegen die angeblichen Gründer der "militanten gruppe" als rechtswidrig. Der umfangreiche Lauschangriff gegen drei linke Aktivisten aus Berlin hätte niemals genehmigt werden dürfen, so der BHG, da "zu keinem Zeitpunkt ein ausreichender Tatverdacht bestand". Das Ermittlungsverfahren war erst 2008 ergebnislos eingestellt worden. Sönke Hilbrans, der Anwalt eines Betroffenen, sagte: "Wir haben es hier mit einer ungebremsten und faktisch unkontrollierten Überwachung zu tun. Das müsste Folgen für die Strafjustiz haben."