Ein Terrorvorwurf und viele Fragezeichen
Andrej H. hat die Demonstranten nicht mehr gehört, die zu Hunderten vor dem Untersuchungsgefängnis Moabit „Freiheit für Andrej!“ forderten. Denn am Mittwoch um 13.30 Uhr wurde der Berliner Soziologe aus der Haft entlassen – vorläufig. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes verschonte ihn nach Zahlung einer Kaution von der Untersuchungshaft, bis zur Beginn der Gerichts-Verhandlung. Der Haftbefehl gegen Andrej H. bleibt jedoch weiterhin bestehen. Die Bundesanwaltschaft will gegen diese Entscheidung Beschwerde einlegen. Denn sie sieht in Andrej H. nach wie vor einen Terroristen.
Die Verhaftung des 36-Jährigen hatte internationale Empörung ausgelöst. Im britischen "Guardian“ erschien zu Beginn der Woche ein Beitrag mit der Überschrift "Guantánamo in Germany“. Soziologen von der London School of Economics und der Columbia University protestierten gegen die „Kriminalisierung kritischer Wissenschaft“, die sich in der Verhaftung von Andrej H. offenbare. Die bekannten amerikanischen Soziologen Richard Sennet und Saskia Sassen schreiben, in Deutschland würden "heute alle Gesetze im Namen des Kampfes gegen Terror revidiert“. Es gelte ein Ausnahmezustand.
In seiner Wohnung verhaftet und mit dem Hubschrauber ausgeflogen
Am 31. Juli war Andrej H., Dozent der Soziologie an der Berliner Humboldt Universität, in seiner Wohnung verhaftet und mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen worden. Einen Tag später hatte die Bundesanwaltschaft Haftbefehle gegen vier mutmaßliche Mitglieder der "Militanten Gruppe“ (MG) erlassen. Drei von ihnen sollen bei der Deponierung von Brandsätzen unter drei Bundeswehr-Lastwagen in Brandenburg ertappt worden sein. Zum Programm der Linksradikalen MG gehört u.a. das "Flambieren von Nobelkarossen“. Der Vierte, Andrej H., wird von den Ermittlern verdächtigt, Vordenker und Stichwortgeber der Militanten zu sein, ein intellektueller Wegbereiter des Terrors.
„Meinem Mandanten wird zum Vorwurf gemacht, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129 a des Strafgesetzbuches zu sein“, sagt Christina Clamm, Anwältin des Beklagten. "Diese Vorwürfe werden mit zwei Hauptpunkten begründet: Der eine ist, dass sich mein Mandant mit bestimmten Themen auseinander gesetzt haben soll und dass sich diese Thematiken auch in einem Bekennerschreiben der sogenannten Militanten Gruppe wieder finden sollen. Daraus haben die Bundesanwaltschaft und das BKA den Rückschluss gezogen, dass er intellektuell in der Lage sei, diese recht hochwertigen Bekennerschreiben der MG selbst zu verfassen.“
Seit September 2006 wurde Andrej H. observiert, sein Telefon wurde abgehört. Den Anlass zur Überwachung gab eine Internet-Recherche des Bundeskriminalamtes. Die Fahnder hatten Schlagwörter aus Bekennerschreiben der Militanten Gruppe in einigen von Andrej H. veröffentlichten Texten gefunden. Doch in der 29 Ordner umfassenden Akte des Soziologen befindet sich nach Aussagen der Anwältin kein einziger Hinweis auf eine Straftat.
Forschungsschwerpunkt von Andrej H. war die Verwandlung des Ostberliner Stadtteils Prenzlauer Berg vom Sanierungsfall zum Szene-Kiez mit Münchener Schick. Er engagierte sich gegen die "Gentrification“ – so nennen Soziologen die Veredelung von Wohnvierteln und deren Folge: Reich verdrängt arm.
Verwendung weltweit üblicher Fachbegriffe
Genau der weltweit übliche Fachbegriff der "Gentrification“ steht in einem Bekennerschreiben der MG und in den Texten von Andrej H. Indiz genug für das BKA, die Wissenschaft zu verdächtigen. "Das ist für mich neu und beängstigend, dass jemand verhaftet werden kann aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeit“, sagt Prof. Hartmut Häußermann von der Berliner Humboldt Universität, Doktorvater von Andrej H. Die Konstruktion der Vorwürfe sei gespenstisch. "Gewiss, er ist ein Linker und kommt von marxistischen Denktraditionen, aber er hat niemals etwas mit Gewalt zu tun gehabt“, sagt Häußermann. "Das nun irgendwo im Bundeskriminalamt Leute sitzen, unsere Bücher lesen und gucken, wo tauchen die Begriffe und Worte sonst noch auf und dann uns dafür verantwortlich machen, was andere daraus machen, das ist makaber und bestürzend.“
Bis Mittwoch musste Andrej H. 23 Stunden täglich in einer Einzelzelle verbringen, durfte nur eine Stunde im Monat Besuch empfangen. Das ist legal nach Paragraf 129 a, dem Terrorparagrafen aus den 70er-Jahren.
Die Bundesanwaltschaft gibt auf Anfrage keinen Kommentar ab. Es gibt wie üblich keine Auskunft zu laufenden Ermittlungen, aber den Hinweis, zwischen Andrej H. und einem anderen angeblichen Mitglied der MG habe es "umfassende konspirative Kontakte und Treffen“ gegeben. Was dabei gesprochen wurde, können die Beamten des BKA nicht sagen.
"Die Bundesanwaltschaft zieht den Rückschluss: Wenn sich mein Mandant mit einer von den Personen trifft, dann kann es kein anderes Thema gegeben haben, als die Planung von Anschlägen“, sagt die Anwältin Christina Clamm. „Das ist absurd, an den Haaren herbei gezogen und es ist schlimm, dass das der Ermittlungsrichter so abgesegnet hat.“
Gegen die "Kriminalisierung kritischer Wissenschaft“ protestierten prominente Professoren in einem offenen Brief. Die Liste ist lang und international.
Bibliotheksbenutzer können zu Terrorverdächtigen werden
Gentrification, Luxussanierung, ist für die meisten von ihnen ein selbstverständliches Thema. Wenn der Fall von Andrej H. Schule macht, so fürchten manche, lassen sich bald auch andere engagierte Wissenschaftler mit der Terrorismus-Keule zur Strecke bringen.
"Diese Verengung, diese Vereisung des geistigen Klimas gibt es aufgrund von Entwicklungen, die seit 2001 im Gange sind“, sagt Professor Häußermann. „Man will versuchen, Kommunikation zu überwachen, die Produktion und Weitergabe von Wissen genau zu erfassen. Das beruht auf der Vorstellung, dass es geistige Brandstifter gebe, auf die man die Unruhe in der Welt, den Unfrieden zurückführen könne. Das ist eine Obsession, eine Projektion.“
Merkwürdig ist, dass ausgerechnet die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Homepage Dr. Andrej H. zu Problemen der Stadtentwicklung interviewt. Auch hier geht es um Gentrification. Was immer die Ermittlungen ergeben: Die aktuelle Begründung für Andrej H.s Haftbefehl ist spekulativ. Die Berliner Soziologen warnen Bibliotheksbenutzer derzeit davor, dass auch sie schon morgen Terrorverdächtige sein könnten.