Stadtsoziologe unter Terrorverdacht

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epd - Die beiden Nachrichten kamen nahezu zeitgleich. Doch während die Öffentlichkeit ausführlich über die Ermittlungen gegen Journalisten in Sachen Bundestagsausschuss informiert wurde, berichtete zunächst nur die taz über die Verhaftung des Berliner Sozialwissenschaftlers Andrej H., den die Bundesanwaltschaft (BAW) der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß §129a StGB" verdächtigt. Seit drei Wochen befindet sich Andrej H. in Einzelhaft.

Der promovierte Soziologe forscht seit seinem Studium an der Humboldt-Universität zum Thema Gentrification - so nennen Stadtforscher weltweit den Prozess der Umstrukturierung von einfachen zu "angesagten" und teuren Quartieren, der mit einem Bevölkerungsaustausch einhergeht. Der 36-jährige Ostberliner, sozialisiert in der DDR-Bürgerbewegung der Wendezeit, blieb nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft, er schreibt für unterschiedliche Zeitschriften, hält Vorträge, stellt sein Wissen Mieterorganisationen und Bürgerinitiativen zur Verfügung. Sein politisches Engagement ist bekannt, seine wissenschaftliche Arbeit hoch angesehen.

Dank Wissenschaftlern wie Andrej H., die die Stadt nicht nur erforschen, sondern ihre Befunde auch weitergeben, ist ein Begriff wie "Gentrification" längst Allgemeingut. Nur offenbar nicht für die BAW.

Am 31. Juli wurde Andrej H. verhaftet. Seine Festnahme stand in Zusammenhang mit der Verhaftung dreier weiterer Berliner, denen die Mitgliedschaft in der "militanten gruppe" (mg) vorgeworfen wird, die in den letzten Jahren diverse Brandanschläge verübt haben soll und nun als "terroristische Vereinigung" eingestuft wird. Auch Andrej H. wird vorgeworfen, der mg anzugehören. Ermittelt wurde den Anwälten zufolge bereits seit September 2006 - seitdem sollen die Beschuldigten observiert worden sein.

Allerdings wirkt die Konstruktion der Ermittler nicht nur abenteuerlich, sondern geradezu gespenstisch: die BAW begründet den Terrorismus-Verdacht unter anderem damit, dass der Wissenschaftler in seinen Texten "Phrasen und Schlagwörter" ("Gentrification"!) verwende, die auch die "mg" verwende; dass er "intellektuell in der Lage" sei, die "anspruchsvollen Texte" der "mg" zu verfassen, und dass ihm als Mitarbeiter einer Forschungseinrichtung Bibliotheken zur Verfügung stünden, die er zur Recherche nutzen könnte.

Nach dieser Logik kann jeder unter Terrorverdacht geraten, der sich kritisch wissenschaftlich und publizistisch äußert, der verdächtige Begriffe wie "Gentrification" benutzt, der intellektuell in der Lage ist, Texte oberhalb des "Bild"-Levels zu verfassen und in Bibliotheken zu recherchieren, der sich öffentlich politisch engagiert oder Kontakt zu Personen pflegt, auf die diese Beschreibungen zutreffen könnten.

"Kollegen aus dem Westen nennen die Vorwürfe unglaublich und absurd. Die aus dem Osten reagieren meist spontan mit der Bemerkung, dass ihnen das so bekannt vorkommt", kommentiert ein Publizist, selbst aus dem Osten. Es ist ein makabres Déjà-vu: ein weiterer beschuldigter Ostberliner Stadtforscher kennt die Einzelhaft - vom Oktober 1989.

Juristen kommentieren das BAW-Konstrukt als "abenteuerliche Analogieschlüsse", in einem Offenen Brief zahlreicher deutscher Wissenschaftler und Publizisten an die BAW heißt es: "Solche Argumente lassen jede wissenschaftliche Tätigkeit als potenziell kriminell erscheinen."

Auch international hat das Vorgehen der BAW Entsetzen und Entrüstung ausgelöst. Zahlreiche renommierte Wissenschaftler, unter ihnen Mike Davis, Richard Sennett, Saskia Sassen und Neil Smith, verwahren sich in einem Offenen Brief "aufs Schärfste gegen den unerhörten Vorwurf" und fordern die sofortige Einstellung des Verfahrens. Zu befürchten ist allerdings, dass die deutsche Bundesanwaltschaft Saskia Sassen oder Richard Sennett genauso wenig kennt wie das Wort Gentrification. Womöglich stehen sie auch unter Terrorverdacht.

ust