Dringend tatverdächtig. Die Verhaftung des Soziologen Andrej Holm
Einleitung von Jonas Engelmann
»Die haben nicht geklingelt. Die haben mit Händen und Fäusten gehämmert und riefen: ›Polizei! Polizei!‹«, beschreibt Andrej Holm in einem Interview seine Erinnerungen an den 31. Juli 2007, als um sieben Uhr Morgens Beamte des LKA die Wohnung seiner Familie stürmten und ihn wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhafteten. »Eine Gruppe bewaffneter Männer hat mich dann überrollt, meine Arme wurden mit einer Handschelle auf dem Rücken zusammengebunden. Einer der Beamten kniete auf mir.« Das BKA übernahm die stundenlange Hausdurchsuchung in der Wohnung des »Terrorverdächtigen«.
Per Hubschrauber wurde Holm zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe überstellt und dem Ermittlungsrichter vorgeführt, danach in Untersuchungshaft nach Berlin-Moabit überführt. Nach drei Wochen Haft, am 22. August, wurde der Haftbefehl durch den Bundesgerichtshof ausgesetzt und am 24. Oktober 2007 aufgehoben. Zumindest in seiner ursprünglichen Form, denn die Ermittlungen gegen Holm laufen weiter, lediglich das »a« hinter Paragraf 129 ist weggefallen. Er ist somit nicht mehr wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt, sondern »nur« wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.
Diese zunächst als terroristisch und später lediglich kriminell eingestufte Vereinigung ist die »militante gruppe«, die 2001 erstmals an die Öffentlichkeit trat und sich seitdem zu einigen Brandanschlägen auf Gebäude und Fahrzeuge bekannt hat.
Der Fall Andrej H. schlug hohe Wellen in der Tagespresse, Solidaritätsbekundungen aus aller Welt trafen nach Bekanntwerden der Hintergründe ein. Andrej Holm wurde mit der Gruppe in Verbindung gebracht, weil er als Stadtsoziologe zu ähnlichen Themen forschte, wie die »militante gruppe« in ihren Bekennerschreiben herausarbeitete. In einem Artikel, den Holm nach seiner Freilassung verfasste, schreibt er: »Zu Beginn der Ermittlungen - so suggerieren es jedenfalls die bisher ausgehändigten Akten der Bundesanwaltschaft - steht eine Internetrecherche. Die Beamten suchen linguistische Übereinstimmungen zu den Erklärungen der ›militanten gruppe‹ und finden mehr oder minder übliche Begriffe, die sich zu Tausenden in kritischen wissenschaftlichen und journalistischen Texten finden wie ›Gentrification‹, ›Prekarisierung‹, ›Bezugsrahmen‹. Für einen Anfangsverdacht, um das Verfahren einzuleiten, reicht dies aus.« Holm war zudem mit einem weiteren Festgenommenen bekannt, hat sich mit ihm in einem Café getroffen - ohne sein Mobiltelefon, weswegen ihm der Cafébesuch als konspiratives Treffen ausgelegt wurde. Alles Grund genug, Holm für drei Wochen in Untersuchungshaft zu nehmen, 23 Stunden am Tag in einer Einzelzelle, dazu eine Stunde Hofgang. »Der Verdacht - sonst der Ausgangspunkt von polizeilichen Nachforschungen - wird zum Ergebnis der Ermittlungsarbeit. Statt Straftaten aufzuklären, werden Verdächtige erschaffen.«
Später stellte sich heraus, dass zum Zeitpunkt der Festnahme bereits ein Jahr gegen Holm wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt wurde. Er galt als einer der intellektuellen Köpfe der Gruppe und mit dieser Begründung wurden er und seine Familie observiert, Telefone abgehört, Mailverkehr nachverfolgt. Wie sich diese Überwachung im Alltag niederschlägt, welche Auswirkungen dies auf das Sozialleben hat und mit welchen Mitteln die Überwachung vonstatten geht, hat Anne Roth, Journalistin, Medienaktivistin und Lebensgefährtin von Andrej Holm, in einem Internetblog (http://annalist.noblogs.org/) festgehalten. Für testcard hat sie Auszüge daraus zur Verfügung gestellt, die ein Jahr dieses Innenlebens einer Terror-Überwachung dokumentieren.
Von Andrej Holm ist u.a. das Buch Die Restrukturierung des Raumes: Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse erschienen (Transcript Verlag, Bielefeld 2006)
Oktober 2007
Der schwarze Beutel
Andrej wurde am 22. August entlassen, was missverständlich ist, weil er formal »von der Haft verschont« wurde, der Haftbefehl also fortbesteht. Dafür haben wir ziemlich teuer bezahlt, was an sich sehr aufregend war, weil wir viel Bargeld erstens haben, zweitens ausgezahlt bekommen und drittens zum Gericht bringen mussten. Das Geld musste zur Gerichtskasse in Berlin-Moabit - ein altehrwürdiger Gerichtsbau, den die meisten wahrscheinlich in diversen Krimis schon mal gesehen haben. Über Berlin stand ein heftiges Gewitter, genau über Moabit, es donnerte krachend, blitzte, ein Platzregen ging nieder und ich stand im Eingang des Gerichtsgebäudes und wartete auf das Geld. Der Fahrer kannte den Weg nicht genau, Handys waren wegen des Gewitters nicht zu gebrauchen und 15 Minuten vor Schluss war das Geld da. Ich habe mich noch nie so sehr so gefühlt, als sei ich versehentlich in einem Film gelandet.
Zwei Stunden später stand Andrej beladen mit Taschen und Tüten und zwei Aktenordnern vor dem Besuchereingang des Knasts. Seine Eltern waren auch da. Als die Wiedersehensfreude etwas abgeflaut war und wir uns auf den Weg machen wollten, zog seine Mutter einen kleinen schwarzen Beutel aus der Tasche, den sie Andrej gab, damit der die beiden Ordner besser transportieren konnte - Ermittlungsakten, die ihm endlich ausgehändigt worden waren, damit er sich auf den für zwei Tage später terminierten Haftprüfungstermin vorbereiten konnte.
Wir gingen gemeinsam samt schwarzem Beutel zur Anwältin, dann etwas essen und schließlich nach Hause. Am nächsten Tag fand ein an sich sehr banales Telefonat zwischen Andrej und seiner Mutter statt, in dem beide verabredeten, dass seine Eltern am folgenden Sonntag zum Kaffee kommen wollten, um den Nachmittag mit Enkelkindern und Großeltern zu verbringen. Dann fiel der historische Satz. Andrejs Mutter, im Überwachtwerden noch ungeübt, sagte: »Und dann würde ich auch gern mal über den Inhalt des schwarzen Beutels sprechen.« Also darüber, was Andrej bis dahin über die Ermittlungsakten wusste. Das Resultat: Am Sonntagnachmittag klingelt es an der Tür, das BKA steht davor und will »Beweismaterial sicherstellen« - den schwarzen Beutel.
Es war nicht möglich, noch fünf Minuten die Luft anzuhalten, bis etwa unsere beiden Kinder aus der Wohnung gebracht waren, es war alles wahnsinnig dringend. Gut, wenn man davon ausgeht, dass die Eltern Komplizen sind, die hochbrisantes Beweismaterial bei sich horten und nichts Besseres zu tun haben, als das am Telefon zu verbreiten und dann mit in die Wohnung von Terroristen zu schleppen, dann ist es natürlich sehr dringend, dem endlich habhaft zu werden. Insbesondere, wenn die BeamtInnen, die aufgrund des historischen Telefonats auch die Eltern komplett observieren, nicht geregelt kriegen, zwei ältere Herrschaften wie angewiesen vor Betreten unserer Wohnung zu stoppen und zu durchsuchen. Da sie nach dieser Schlappe nicht durchsuchen mochten, musste das BKA selber ran - hektische Telefonate zwischen BKA, observierenden BeamtInnen, Bundesstaatsanwältin und Ermittlungsrichter - und das große Theater in der Wohnung aufführen. Wie gesagt, eher witzig, wenn nicht zwei Kleinkinder betroffen gewesen wären.
Wir konnten es nicht recht glauben, mussten lachen und haben dann anstandslos den schwarzen Beutel ausgehändigt. Pro Forma, damit es auch eine richtige Durchsuchung ist, mussten die beiden begleitenden Beamtinnen noch in einen alten Kaminschacht gucken. Als ich sie dabei fragte, ob gleich jemand ein Schild hochhält, auf dem »Vorsicht, versteckte Kamera« steht, haben die beiden etwas gequält gelächelt.
Sicherheitsknoten
Ich telefoniere ab und zu mit dem BKA. Bzw. eigentlich telefoniere ich immer mit dem BKA, weil immer, wenn ich telefoniere, das BKA zuhört. Damit das niemand falsch versteht, weil ja in dieser Frage anscheinend alle immer alles falsch verstehen: Ich rede nicht mit dem BKA. Es lässt sich bloß nicht vermeiden, dass sie zuhören. Und damit das jetzt das BKA nicht falsch versteht: Ich versuche das nicht aktiv zu vermeiden. Laut Akten ist ja jeder Versuch, das zu vermeiden, »konspiratives Verhalten« und damit zumindest im Fall von Andrej quasi ein direkter Hinweis darauf, dass gerade Anschläge geplant, durchgeführt oder wenigstens bekannt (von: bekennen) werden. Insofern werde ich also einen Teufel tun, mich in irgendeiner Weise konspirativ zu verhalten, was im Übrigen bei derart umfassenden Überwachungsmaßnahmen ja auch gar nicht so einfach ist. Stimmt nicht ganz, ich benutze weiter das Daten-Verschlüsselungssystem GPG. Nicht ganz konsequent, aber andererseits bin ich ja auch gar nicht beschuldigt und eigentlich habe ich laut Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht ja auch ein gewisses Recht auf Privatsphäre.
Was mich daran erinnert, dass ich kürzlich in einem Telefonat versehentlich die Formulierung gebraucht habe »dann denken sie bestimmt gleich wieder, dass wir sofort irgendwelche Anschläge vorbereiten«, wobei ja meines Wissens niemand davon ausgeht, dass ich Anschläge vorbereite, und ich mir dann innerlich auf die Zunge biss, weil ja zu befürchten steht, dass das BKA jetzt vielleicht denkt, dass ich Anschläge vorbereiten wollen könnte. Was nicht so ist (Hallo BKA, nochmal zum Mitschreiben: ich bereite keine Anschläge vor), aber vielleicht wird das so interpretiert, dass ich mich so sehr mit dem ganzen politisch-repressiven Schlamassel identifiziere, dass ich auch dazu gehöre? Dabei ist es lediglich so, dass ich von der Überwachung eben mitbetroffen bin und das alles insofern auch ziemlich persönlich nehme. Darüber, wie es sich auswirkt, schriftlich zu haben, dass alle Telefonate mitgehört werden, ließe sich auch einiges schreiben, vielleicht später.
Zurück zu den Telefonaten heute, die nahmen ziemlich absurde Züge an: Andrejs Handy ›ging nicht‹ - das kommt öfter mal vor und ist soweit noch kein Problem, außer vielleicht, weil die Anwältin sagt, dass es auf jeden Fall immer an bleiben soll, um den Eindruck zu vermeiden ... siehe oben. Er ruft sich selbst von einem Festnetztelefon an, und erreicht statt seines Handys meine Mailbox. Er ruft daraufhin mich vom selben Festnetztelefon an mit der Bitte, sein Handy anzurufen, was ich auch mache. Und erreiche meine eigene Mailbox, mit der Aufforderung, meine Mailbox-PIN einzugeben, was sonst nur geschieht, wenn ich sie von einem anderen Telefon als meinem Handy anrufe. Passiert so etwas, weil verschiedene Behörden gleichzeitig mithören, oder weil die Schaltungen durcheinander geraten sind? Gibt es Kommunikationstechnik-Azubis, die an uns üben?
Telefonterror
Und wieder. Ich rufe Andrejs Handy an und werde aufgefordert, meine eigene Mailbox-PIN einzugeben. Ich versuche es noch einmal mit dem Festnetztelefon und höre meine eigene Ansage. Dann ruft mich eine andere Person auf dem Handy an, es klingelt zweimal ... und stürzt ab. Ich schicke Andrej eine SMS in der Erwartung, dass die dann auch bei mir landet, aber die kommt nicht wieder.
Ich mache einen ersten Versuch, das zu bloggen, und der Rechner stürzt ab. Bei einem neuen Rechner mit neuem Kubuntu, auf dem nur Mail-Client, Browser, Pidgin und ein Open-Office-Dokument laufen, nicht unbedingt erwartungsgemäß - aber auch das kommt in den letzten Tagen zunehmend vor. Zunächst habe ich das für reguläres Schwächeln gehalten, wenn zuviel gleichzeitig läuft. Ob mein Computer ein Morgenmuffel ist? Es gibt sicher für alles eine ganz rationale Erklärung.
Genau wie für den Brief, der neulich bei Andrejs Eltern ankam, von einer Bekannten, handschriftliche Adresse, korrekter Absender, offensichtlich privat. Als er ankam, fand sich links unten neben der Adresse ein Stempelaufdruck: »Irrläufer! Poststelle der Berliner Senatskanzlei.« Absicht oder Versehen? Auf jeden Fall ziemlich unsouverän.
Telefonterror II
Gestern gab es ein wirklich wunderschönes Beispiel fehlgeleiteter Überwachungstechnik. Wobei weiterhin nicht auszuschließen ist, dass diese ›Fehlschaltungen‹ gar kein Versehen, sondern Bestandteil des latent soziopathischen Spieltriebs derjenigen sind, die wahrscheinlich einen Großteil ihrer Zeit damit zubringen, unseren Alltag in all seinen Facetten zu verfolgen. Wenn ich ständig privaten Telefonaten anderer Leute zuhören müsste, würde ich wahrscheinlich auch irgendwann seltsam werden.
Andrej wurde gestern Abend wieder einmal von seinen Eltern angerufen. Die werden nämlich auf unsere Kinder aufpassen, wenn wir am Wochenende gemeinsam in Hamburg und Lübeck sind. Es war ein kurzes Telefonat, denn er befand sich bei einem Treffen des in Gründung befindlichen Arbeitskreises Stadt der Berliner Linkspartei.
Gegen Ende dieses Treffens, einige Stunden später, klingelt bei Andrejs Eltern das Telefon. Sie werden von Andrej angerufen, genauer, von seinem Handy. Sagt der Display ihres Telefons. Sie nehmen ab. Und hören das Gespräch mit, dass Andrej bei seinem Termin mit dem Arbeitskreis Stadt gerade führt. Sie verstehen erst nicht, was vor sich geht und gehen von einem Versehen aus; es kommt ja vor, dass die Tastensperre vergessen und die Wiederholungstaste gedrückt wird. Erst später rekonstruieren wir, dass das nicht sein konnte, weil sich die Tastensperre automatisch einstellt und ja nicht er seine Eltern, sondern umgekehrt sie ihn angerufen hatten. Wahlwiederholung fällt damit aus. Weil es ihnen unangenehm ist, das Gespräch mitzuhören, vielmehr aber noch, dass die bekanntermaßen ebenfalls mithörenden Behörden so klar das Gespräch verfolgen können, rufen sie mich an. Ob ich wisse, wer alles bei dem Treffen dabei sei und vielleicht Handy-Nummern der betreffenden Leute habe. Habe ich nicht. Stattdessen rufe ich Andrejs Handy an, aus quasi wissenschaftlicher Neugier: um zu hören, was passiert. Ein Freizeichen, fünf-, sechsmal. Dann: »Der gewünschte Gesprächspartner antwortet nicht. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.« Ich versuche es nochmal, das Gleiche. Noch eine Stunde später rufe ich ihn wieder an und komme durch. Andrej ist inzwischen unterwegs und berichtet, dass es seinen Eltern mittlerweile - von einem anderen Telefon aus - gelungen ist, ihn anzurufen. Ganz ›normal‹: sein Handy klingelt, sieht so aus wie immer, wenn die Tastensperre eingeschaltet ist und es dann klingelt. Er nimmt ab und telefoniert. Ganz normal eben.
November 2007
Ein Terrorist
Der Überwachungsalltag bleibt spürbar, weniger für uns, dafür mehr für FreundInnen und Bekannte: Einer, der auch als Zeuge vorgeladen wurde, konnte bereits letzte Woche weder mich noch Andrej auf unseren Handys erreichen. Unter Andrejs Nummer gerät er an eine ihm unbekannte Frau, beide sind sich schnell einig, dass sie sich nicht kennen.
Einer der anderen Beschuldigten im Verfahren bestellt sich per Post ein neues Handy: die Packung ist aufgerissen, so sehr, dass die Post sie in eine Tüte mit einem Aufkleber packt, auf dem steht, dass die Verpackung zu stark beschädigt sei. Ein anderer Zeuge hat auf seinem Handy zwölf SMS gespeichert und erhält plötzlich die Meldung, dass der Speicher nun voll sei.
Nachdem sie Andrej angerufen hat, bekommt eine Freundin immer beim ersten Anruf, den sie machen will, die Nachricht, dass die Nummer nicht vergeben sei. Ein Bekannter bemerkt beim Telefonieren plötzlich einen starken Hall. Den gab es bei Telefonaten vor längerem schon einmal: Sein Vater hatte die Angewohnheit, mit amerikanischen Billig-Anbietern zu telefonieren, und die Umleitung dorthin erzeugte denselben Effekt.
Dezember 2007
DNA-Proben
Fantastisch. Der Herr Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof hat der Entnahme einer DNA-Probe von Andrej zugestimmt. Also, um genau zu sein, der »Entnahme von Körperzellen im Wege einer Blutprobe des Beschuldigten«. »Die zwangsweise Entnahme einer Blutprobe kann durch die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe abgewendet werden.« Wie reizend.
Warum die dabei behilflich sein soll, rauszukriegen, ob jemand bestimmte Texte geschrieben hat, erschließt sich mir nicht so recht. Aber der Herr Ermittlungsrichter findet, dass »trotz des geringen Tatverdachts (...) die Maßnahme in Anbetracht des Gewichts des Tatvorwurfs auch verhältnismäßig« sei. Aha.
Viele Leute, die juristische Details nicht so verfolgen und die nicht so akribisch Zeitung lesen wie wir, fragen gerade, ob das Verfahren gegen Andrej jetzt eigentlich beendet sei. Weit entfernt, würde ich sagen. Es wird jetzt anstatt wegen Bildung einer terroristischen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt - das Einzige, was es nicht mehr gibt, ist der Haftbefehl. Das war natürlich ein großer Schritt nach vorn, aber mitnichten schon die Einstellung des Verfahrens. Es wird weiter ermittelt und wird dann auch zu einem Prozess kommen, wenn nicht doch noch jemand denkt, dass die Einstellung hier die klügere Variante wäre.
Januar 2008
Es geht um die Wurst
Zwischen Weihnachten und Neujahr fand ein unspektakuläres Telefonat zwischen A (irgendwo in Ostfriesland) und B (irgendwo in Berlin) statt.
A: Hi, ich bin gerade in Ostfriesland, bei den Eltern von C. Ich wollte Dir eigentlich nur sagen, dass ich zwei Würste gekauft habe. Hier gibt es dieses Auktionskaufhaus, da gibt es oft leckere Sachen. Ich habe eine Mettwurst und eine Jagdwurst geholt, beide herzhaft und groß, und total billig!
Wer macht denn die zentrale Einkaufskoordination? Weißt du das? Kannst du das weitergeben, damit der Fleisch-1-Kühlschrank nicht überquillt?
B: Hmmm. Also, ich weiß nicht. Es gibt eigentlich keine zentrale Planung. Ich weiß jetzt auch nicht, was ich mit der Info anfangen soll.
A: Du sollst das an die zentrale Einkaufskommission weiterleiten, das ist doch nicht so schwierig.
B: Also wenn überhaupt wer zentrale Einkaufskoordinatorin ist, dann ist das D. Die hat zumindest mit den Leuten im Kleinbus gecheckt, was die alles mitbringen und denen gesagt, dass sie sich vor allem selber kümmern sollen.
B trifft kurz darauf D und erzählt vom Telefonat und dem Wurstkauf. D denkt kurz nach und fragt dann: »Und was wollte sie jetzt wirklich damit sagen?«
Seitdem fragen sich einige Mitglieder des Soli-Bündnisses »Einstellung der §129(a)-Verfahren«, die - mit einigen anderen - über Sylvester ein paar Tage aufs Land gefahren sind, ob dieses Telefonat wohl irgendwann in den Akten rund um das Verfahren auftauchen wird. Und wie das BKA es wohl interpretiert hat? Die Erwähnung von Würsten jedenfalls löst in letzter Zeit viel Freude aus.
Die sich besser einordnen lässt, wenn man sich beispielsweise die Geschichte des ›Schwarzen Beutels‹ noch einmal vor Augen führt. Unsere Telefonate (und die aller Beschuldigten, vermutlich weiterhin auch ihrer Freunde und Freundinnen und vieler anderer) werden abgehört, und vom BKA protokolliert und interpretiert. Wir kennen diese Interpretationen aus den Akten oder haben, beim Schwarzen Beutel, die direkte Reaktion in Form einer Hausdurchsuchung erlebt, weil das BKA etwas falsch verstanden hat. Aus den Akten lässt sich sehen, dass permanent falsch interpretiert wird. Das ist oft fast komisch, wenn es nicht so ernst wäre.
In einem anderen §129a-Verfahren etwa telefonierte ein Beschuldigter mit dem (studierenden) Sohn eines anderen und bot ihm Hilfe bei Fragen zu Marx an. Einige Tage später erscheint ein Bekennerschreiben der relevanten ›terroristischen Vereinigung‹, in der auch Marx zitiert wird. Das TKÜ-Protokoll diskutiert daraufhin ausführlich, ob und was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte oder ob vielleicht tatsächlich lediglich bei der Hausarbeit geholfen wurde.
Eine Auswirkung von Überwachung ist auf jeden Fall, mögliche Interpretationen von Telefonaten beim Sprechen schon gleich mitzudenken. Um im nächsten Schritt das Sprechen so zu verändern, dass möglichst wenig Interpretationsspielräume bleiben. Die wahre Kunst ist, die Interpretationen gleich mitzuliefern. Es soll Leute geben, die das schon relativ flüssig beherrschen (»Wir treffen uns nachher in derselben Kneipe wie immer - und für die TKÜ: der Beschuldigte X ist mit dem Y offenbar sehr gut bekannt. Der Grund des Treffens wurde nicht genannt.«).
Und weil natürlich alle, die die Beschuldigten im Rahmen des Soli-Bündnisses unterstützen, wissen, dass sie damit direkt in den Fokus weiterer Ermittlungen geraten, versuchen sie in der Regel, Zweideutigkeiten am Telefon zu vermeiden. Außer, wenn sie zwischen Weihnachten und Neujahr in Ostfriesland den ganzen Stress über ein paar Würsten vergessen haben.
Februar 2008
Nichts Besonderes
Wenn ich Leute anrufe, mit denen ich nicht regelmäßig telefoniere, dann behauptet mein Handy, dass es deren Nummer nicht gebe, oder sie gerade nicht erreichbar seien, ab und zu auch, dass gerade besetzt sei. Weil ich das schon kenne, rufe ich eine halbe Minute später nochmal an und siehe! Dann gibt es die Nummer wieder und telefoniert hat auch niemand.
Wirklich frappierend finde ich ein Phänomen, das schon richtig schrill klingt. Deswegen verbuche ich das jetzt mal nicht unter ›Überwachung‹, aber wüsste wirklich gern, wie das kommt: wenn das jemand erklären kann?!
Bei einem gerade genutzten Rechner fängt der Mauszeiger an zu wandern, gespenstisch ganz von allein, so als ob er gerade aus der Bildfläche rutscht, ganz langsam. Wenn ich die Maus anfasse und aktiv bewege, dann hört sie auf zu rutschen. Allerdings hüpfen die Fensterränder gelegentlich unkontrolliert herum. Das passiert nicht nur mir, sondern auch anderen Verwandten und Bekannten, und wir wüssten gern, was das ist, damit wir nicht weiter darüber nachdenken müssen.
Außerdem gehen wirklich viele Computer kaputt im Kreis der
Beschuldigten und ihrer Bekannten, auch die geladener ZeugInnen.
Nebenbei auch unangenehm teuer ...
Ich gebe zu, dass ich gelegentlich über Kameras in der Wohnung
nachdenke. Es dürfte allgemein bekannt sein, dass das BKA bestimmte
Beschränkungen in den Ermittlungen hat und sich an einige davon auch
tatsächlich zu halten scheint, was aber offenbar nicht für den
Verfassungsschutz gilt. Es wird davon ausgegangen, dass mehr oder
weniger alles eingesetzt wird, was technisch machbar ist.
Relativ genau lässt sich sagen, dass verdeckte Ermittler gern öffentliche Veranstaltungen besuchen. Dass sie das bei Veranstaltungen tun, die sich mit dem Verfahren beschäftigen, wundert niemanden. Dass sie aber auch weiterhin etwas über Gentrifizierung lernen wollen? Na, es schadet sicher nicht. Und wie sagte Generalbundesanwältin Harms so schön im August in der FAS: »Der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof erlässt keine Haftbefehle nur aufgrund von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie es in manchen Medien unterstellt wurde. Auch nicht für den freien Zugang zu Bibliotheken.« Aber Gentrifizierung ist immer noch ... schwierig?
Es stellt sich schon auch die Frage, ob diese wahnsinnig auffälligen Herren wirklich versuchen, verdeckt zu sein, oder ob ihr Auftreten Absicht ist. Und ich gehöre nicht zu den Leuten, die immer schon nach so etwas Ausschau hielten, aber die hier sind wirklich auffällig.
Der schwarze Beutel - The Sequel
Inzwischen machen sich viele Menschen Gedanken über seltsames Verhalten ihrer Telefone. Weil die z.B. lange brauchen, um Verbindungen herzustellen, weil sie die falschen Nummern anrufen, weil seltsame Geräusche in den Mailboxen gespeichert werden, weil wildfremde Menschen eigentlich andere anrufen wollten ... Ich werde hingegen gefragt, ob ich nicht unnötig Angst verbreite unter Menschen, die gar nicht überwacht werden. Wenn dem so sein sollte, tut mir das Leid. Die Angst, überwacht zu werden, ist sicher nichts, was ich irgendwem wünsche.
Letzte Woche rief mich eine Freundin an, die in meinem Bekanntenkreis sicher zu den Letzten gehört, die in den Verdacht geraten, irgendwas Verbotenes zu tun. Möglicherweise wurde dieser Eindruck kurzfristig getrübt, als sie am 31.7. letzten Jahres ihren Job als Ärztin im Krankenhaus morgens spontan stehen und liegen ließ, um mir bei der bei uns stattfindenen Hausdurchsuchung samt Festnahme Händchen zu halten, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Auch ihr Telefon macht jetzt komische Sachen - in ihrem Fall werden alle Einstellungen gelegentlich gelöscht. Ich kann mir, wie gesagt, nicht vorstellen, dass sie abgehört wird, andererseits trifft das wahrscheinlich auch auf den größten Teil der in Deutschland abgehörten ca. 40.000 Telefonanschlüsse zu (Statistik der Bundesnetzagentur, April 2007).
Was ist vernünftig? Keine Angst zu verbreiten, weil Angst ja letzten Endes genau das Ziel der Überwachungsgesellschaft ist? Darüber reden, auch wenn man es nicht ganz genau weiß, weil nicht darüber reden noch viel schlimmer ist? Spekulieren über das, was gar nicht so spekulativ ist, weil es in Akten (wie bei uns) oder in Statistiken steht (wie bei den 40.000)?
Bei der Transmediale habe ich die Tochter eines ehemaligen Richters am Bundesgerichtshof kennengelernt. Sie schockte alle am Tisch mit der Bemerkung, dass sie niemals irgendwas Wichtiges oder Persönliches unverschlüsselt per Mail verschicken würde. Weil sie ja als Kind und Jugendliche mit der Überwachung aufgewachsen sei und zu ihrem Alltag gehörte, dass ihr Telefon abgehört wurde. Sie geht ganz automatisch davon aus, dass mitgehört wird.
Die BGH-Richter werden alle abgehört und wissen das auch. Es dient der gegenseitigen Kontrolle. Wundert sich jetzt noch irgendwer, dass deutsche Richter so leichtfertig Überwachungsmaßnahmen gegen andere unterschreiben?
April 2008
Wohnraumüberwachung für alle
Was für eine Aufregung. Kameraüberwachung auch für ›unbescholtene Bürger‹. Eklig, in der Tat - ich frage mich schon eine Weile, ob wir so was in der Wohnung haben und ob ich (samt Kindern) eigentlich als unbescholten gelte und derlei Fragen mehr, die seit gestern, als Details des geplanten BKA-Gesetzes bekannter wurden, viel Aufsehen erregen. Mich interessiert mindestens genauso, wie lange Kameras und auch Wanzen eingesetzt werden können, wenn es - wie bei uns - anscheinend einen totalen Stillstand in der Ermittlung gibt und die Staatsanwaltschaft gerne einfach noch ein bisschen Daten sammeln möchte? Oder haben die da auch Personalengpässe, wie beim BKA, weswegen sie es einfach gerade nicht schaffen, das Ganze endlich einzustellen?
Interessanter wäre die Frage, wenn es nicht so eindeutig um ›unbescholtene Bürger‹, sondern vielleicht so etwas wie Eigentumsdelikte ginge - ist die Kamera im Zimmer von 16-jährigen chronischen Kaugummiklauern okay?
tagesschau.de führte eine Umfrage zu »Kameras in Wohnungen« durch. Die Ergebnisse sind bei der Fragestellung wenig überraschend, andererseits ist es ganz schön, dass jetzt ein bisschen Empörung aufkommt. Da ist offenbar die Grenze erreicht, wo viele doch was zu verbergen haben.
Die Ergebnisse der Umfrage: Ein Gesetzentwurf sieht vor, dass das
Bundeskriminalamt in bestimmten Fällen auch Wohnungen von
unbescholtenen Bürgern mit Wanzen und Videokameras überwachen darf. Was
denken Sie: Ist dies ein notwendiger Preis für die Innere Sicherheit
oder ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre?
Die Maßnahme ist angebracht: 33 Stimmen, dies entspricht circa 3,8%
Die Maßnahme geht zu weit: 843 Stimmen, dies entspricht circa 96%
Dazu habe ich keine Meinung / Ist mir egal: 2 Stimmen, dies entspricht
circa 0,2% Stimmen gesamt: 878 (Stand 18.4. ca. 13:30 Uhr).
Mal angenommen, die Kameras würden jetzt noch nicht eingesetzt - und alle, die sich mehr damit beschäftigen, zucken bei der Frage eh mit den Schultern und sagen »ganz egal, der Verfassungsschutz macht das ja sowieso« - dann kann ich als praxisnahes Beispiel dazu, wohin das führt, gern immer wieder den schwarzen Beutel zitieren.
Mai 2008
Offline-Durchsuchung
Vor ein paar Tagen haben wir allerhand vom BKA von dem zurückgekriegt, was bei den Durchsuchungen am 31.7. mitgenommen worden war. »Asservate« sind unsere Sachen geworden, und sie haben alle ein eigenes Tütchen samt Aufkleber bekommen. Mitsamt Tütchen sind sie jetzt wieder da, und einiges stimmt mich bedenklich. Anderes klärt einige Rätsel auf. Beispielsweise waren aus unserer Küche zwei Zettelchen von der Pinnwand verschwunden, die ich lange gesucht habe. Auf einem standen Name und Telefonnummer der zuständigen Dame einer Berliner Schulberatungsstelle (unser Sohn wird im Sommer eingeschult). Auf einem anderen Adresse und Nummer eines Berliner Sanitätshauses, über das eine langwierige Brandverletzung unserer Tochter behandelt wurde. Die waren also weg und nun sind sie wieder da, und ich muss nicht länger an mir und meinem Ordnungssystem zweifeln (zumindest nicht deswegen).
In diesem Zusammenhang eine Bitte: falls irgendwo da draußen irgendwer über mögliche Ziele für Anschläge nachdenkt, bitte ich davon abzusehen, Schulberatungsstellen oder Sanitätshäuser in die engere Auswahl zu nehmen. Es würde sich eventuell nachteilig für Andrej auswirken (und fürs BKA: das war ein Scherz).
Die Durchsuchung unserer Wohnung hat etwa 15 Stunden gedauert. Genau genommen nicht ganz so lange, denn die eigentliche Durchsuchung fing erst Stunden nach der Stürmung und Andrejs Festnahme an. Mir wurde dazu erklärt, dass nur das BKA durchsuchen könne, weil aber Meckenheim so weit von Berlin entfernt ist (dort sitzt die Abteilung Linksextremismus des BKA), dauert es auch bei Tempo 200 und mit Blaulicht über die Autobahn (so der Fahrer mit leuchtenden Augen) eben ein paar Stunden nach Berlin. Die Herren Durchsucher waren wie gesagt eine ganze Weile in unserer Wohnung, und nach und nach haben sie dann auch dies und das erzählt. Etwa, dass sie um drei Uhr früh Bescheid bekamen (nach den Festnahmen in Brandenburg, nehme ich an), ohne Frühstück (!) zur Lagebesprechung zitiert wurden und dann direkt zu uns fuhren. Wo es auch kein Frühstück gab, und auch sonst den Rest des Tages nichts. Dass von Seiten der Polizei immer wieder über schlechte Versorgung geklagt wird, war nachvollziehbar. Wir hatten insofern immerhin Glück: unser Sohn hatte ja am Tag vorher Geburtstag gehabt, wir hatten also jede Menge Kuchen im Haus, den ich mit Anwältinnen und Freundinnen den Tag über zur Nervenstärkung aufgegessen habe.
Für mich begann der Tag mit dem oft beschriebenen Hämmern an der Tür. Ich schlief noch ziemlich fest. Mehr im Unterbewusstwein nahm ich wahr, dass draußen jemand »Aufmachen! Polizei!« brüllte. Jemand zählte rückwärts. Andrej schaffte irgendwie, sich eine Hose überzuziehen und die Tür aufzureißen, bevor sie eingetreten wurde. Ich hörte ein sehr lautes, dumpfes Geräusch. Später wurde mir klar, dass das Andrej gewesen war, als er auf den Boden geworfen wurde. Bewaffnete Männer stürmten in unsere Wohnung und ›sicherten‹ in klassischer Krimi-Manier jedes Zimmer. In diesem Moment war ich wach, saß im Bett und begann, die vor meinem Bett auftauchenden Gestalten anzubrüllen, dass wir kleine Kinder haben und sie die Waffen wegnehmen sollten. Es war ein irrer Lärm in der Wohnung.
Es beruhigte sich. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mir keine Sorgen machen solle, es ginge nicht um mich. Sehr fürsorglich. Mein Sohn im Nebenzimmer hat diesen Überfall zum Glück verschlafen. Mir wurde gesagt, ich solle meine Kinder anziehen, mit Frühstück versorgen und in die Kita bringen. In diesem Moment dachte ich nicht viel. Ich hatte einen Schock und musste gleichzeitig meinen Kindern Normalität suggerieren, meinen Sohn, der eigentlich in Ruhe aufwachen und mit seinen neuen Geschenken spielen wollte, davon überzeugen, dass er sich so schnell wie möglich anziehen und frühstücken solle. Ich durfte mich nicht allein in der Wohnung bewegen, sollte aber zwei Kleinkinder versorgen. Die zum Glück so verschlafen waren, dass sie sich um das Chaos in der Wohnung nicht kümmerten, und sicher auch gespürt haben, dass Fragen und Widerstand hier zu nichts führen. Zum Glück gelang es mir, ihnen den Anblick ihres halbnackten Vaters in Handschellen zu ersparen. Stattdessen mussten sie beim Frühstücken direkt auf den uns bewachenden bewaffneten Beamten gucken, der auch auf Nachfrage beim Einsatzleiter nicht in den Flur gestellt werden konnte. Irgendwann in dieser ersten halben Stunde - sehr spät - kam mir der Gedanke, dass dies vielleicht der Moment sei, eine Anwältin anzurufen. Dumm, aber am Anfang habe ich nur funktioniert und überhaupt nicht gedacht, glaube ich.
Christina Clemm kam, die Anwältin. Andrej wurde weggebracht und die Kinder haben es nicht gesehen, weil Christina mit ihnen solange Bilderbücher angeguckt hat. Ich bin mit den Kindern losgegangen, habe mich plötzlich auf der Straße wieder gefunden, ganz unbewacht und mich in der Kita zusammengerissen und über Kinderkram geredet. Ich bin wieder in die Wohnung zurück. Ich weiß nicht, wie ich das ausgehalten habe. Ich wusste immer noch nicht wirklich, was eigentlich los ist.
Irgendwann vormittags rief eine Kollegin von Andrej an und fragte, warum er zu einem Termin nicht gekommen sei. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr erzählt habe. Irgendwann kamen die smarten BKAler, die allerdings tatsächlich schon äußerlich ganz anders daher kommen als die vom LKA, die zuerst da waren und von denen einer tatsächlich den ganzen Tag die schusssichere Weste nicht abgelegt hat (man weiß ja nie).
Ich konnte mich nach und nach wieder in der Wohnung bewegen, auch ohne Bewacher, und selber telefonieren (den Anruf bei der Anwältin hatte ein Beamter gemacht). Die Anwältinnen haben versucht, den Überblick darüber zu bewahren, was geschah. Da in allen Zimmern gleichzeitig durchsucht wurde, dazu der Keller, unser Campingbus und im Hof die Altpapiertonne, war das jedoch nicht wirklich möglich. Wobei mir der Anblick des Typen, der in dem Berg ausgeschütteten Papiers stand und jede Zeitung einzeln auseinander klaubte, gut gefiel. Genauso der, der auf der Leiter die kompletten Marx-Engels-Werke durchblättern musste. Schön war auch die Enttäuschung im Gesicht desjenigen, der triumphierend eine halbe Plastikwasserflasche aus dem Campingbus mitbrachte. Mit Wachsresten und Ruß! Er freute sich so. Und war so sichtlich geknickt, als ich ihn fragte, ob er noch nie ein Windlicht gesehen hätte.
Über Stunden wurde also jedes Blatt umgedreht, jede Videokassette in den Rekorder geschoben (allerdings nur stichprobenhaft, offenbar sind Bücher und Zeitungen gefährlicher). Die meisten BeamtInnen hatten offensichtlich keine Ahnung, wonach sie suchten - im Zweifel wurde der Chef vom BKA gefragt. Der musste z.B. auch die großartige Frage beantworten, ob ein Buch von Bourdieu verdächtig sei. Ob die wussten, dass sie die Wohnung eines Soziologen durchsuchen? Ob die wussten, was das ist, ein Soziologe? Stunden später verteilten sie all ihre Fundstücke in einem Zimmer auf dem Boden. Alles wurde in Tütchen gesteckt. Am späteren Nachmittag fingen einige LKA-Beamte, die offenbar nicht an Überstunden gewöhnt waren, an zu nörgeln, ob sie nicht endlich gehen könnten. Mir wurde im Stundentakt angekündigt, dass sie sicher bald fertig wären. Es wurde bürokratisch. Sie sortierten, was in welchem Zimmer gefunden wurde, was welche Nummer bekam, alles wurde in Listen eingetragen, abgeglichen, Nummern korrigiert, es dauerte Stunden. Nebenbei wurde die nächste Durchsuchung geplant, die am späteren Abend noch in Kreuzberg stattfinden sollte. Die Listen wurden ausgedruckt - das gesamte mobile Büro war im Köfferchen dabei - und mir und der Anwältin vorgelesen.
Allerdings stand nicht dabei, welche Zettelchen genau in den Tüten waren, und dass beispielsweise Keine Macht für Niemand, eine gekaufte CD von Ton Steine Scherben, terrorverdächtig ist, weiß ich erst, seit wir sie jetzt wieder bekommen haben. Eins der vielen Rätsel ist, warum massenhaft selbstbespielte Videokassetten und selbstgebrannte CDs uninteressant sind, dafür aber stapelweise gekaufte Musik-CDs mitgehen. Durchaus unangenehm, aber nicht überraschend, dass eine CD mit (Familien-)Fotos jetzt im BKA-Archiv liegt.
Dafür hätten sie meinen kleinen Laptop fast nicht gefunden. Die zuständige Beamtin hatte offenbar eh nicht so richtig viel Lust, unser Schlafzimmer zu durchwühlen (und das ist ja auch gut so) und hat ihn übersehen. Sehr schade, dass er dann doch noch mitging. Ich habe zwei Schreibtische: ein und derselbe Zettel auf dem einen und dem anderen wurde einmal mitgenommen, einmal nicht.
Eins unserer Lieblingsasservate ist eine Hausarbeit einer Studentin von Andrej über Roland Roths Die Macht liegt auf der Straße. Zur Bedeutung des Straßenprotests für die neuen sozialen Bewegungen. Ärgerlich allerdings für die Studentin. Gegen halb 11 Uhr abends sind sie dann endlich gegangen.
Juni 2008
Telefonfehlschaltungen
So ein schönes Exemplar von Telefonfehlschaltung: Ich rief heute abend den Kinderarzt an, um mir vom Anrufbeantworter die Öffnungszeiten ansagen zu lassen, mehrere Freizeichen, »Sie rufen außerhalb der Öffnungszeiten der Praxis von Dr. xx an, die Öffnungszeiten sind Montags von ...«. Direkt im Anschluss rufe ich Andrejs (nicht mehr ganz) neue Büronummer an.
Mehrere Freizeichen, »Sie rufen außerhalb der Öffnungszeichen der Praxis ...«. Ich denke, dass ich mich vertippt habe, gucke aufs Telefondisplay und da steht: »Andrej Büro«. Zu hören ist weiterhin die Kinderarztpraxis.
August 2008
Ein Jahr mit §129(a)
Vor einem Jahr saß ich fassungslos in meiner frisch durchsuchten Wohnung, ohne Andrej, der am 31.7.2007 festgenommen worden war und einen Tag später in Karlsruhe bestätigt bekam, dass ein Haftbefehl vom Ermittlungsrichter verhängt wird, auch wenn der die Staatsanwältin vorher leicht irritiert fragte: »Ist das alles?« Und ab im Hubschrauber nach Berlin Moabit.
Ein Jahr. Ein neues Leben.