Das volle Programm
Insgesamt 29 Aktenordner hat Anwältin Christina Clemm von der Bundesanwaltschaft (BAW) zur Einsicht bekommen. Seit vergangenem Donnerstag wühlt sie sich durch den Papierberg. Belege für irgendeine Straftat habe sie bislang nicht gefunden, berichtete Clemm am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Sie ist Anwältin von Andrej H., dem »Prominenten« der insgesamt sieben Männer, denen zur Zeit die Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« – konkret die in der »Militanten Gruppe« (mg) – nach Paragraph 129a angehängt werden soll. Der Berliner Sozialwissenschaftler Andrej H. und drei weitere Personen sind seit September 2006 vom Bundeskriminalamt (BKA) überwacht worden. Mit dem »vollen Programm«, also Telefonüberwachung der Betroffenen und ihres Umfelds, des E-Mail-Verkehrs und Surfverfhaltens im Internet, Videoüberwachung, Beschattung, Lauschangriff.
Drei Wochen Einzelhaft
Seit nunmehr drei Wochen sitzt H. mit drei weiteren angeblichen Mitgliedern der »mg« in Berlin-Moabit in Untersuchungshaft. Unter verschärften Bedingungen. Sie dürfen eine Stunde im Monat Besuch empfangen und befinden sich 23 Stunden am Tag in Einzelhaft. Gespräche finden nur durch eine Trennscheibe und mit mehreren anwesenden BKA-Beamten statt. Teilweise wurde den Gefangenen über eine Woche die Dusche verwehrt – aus logistischen Gründen. Carsten Keller von der »Initiative freie Wissenschaft« merkte auf der Pressekonferenz an, daß solche Haftbedingungen von Menschenrechtsorganisationen »zu recht als Folter bezeichnet« würden. Am Freitag wird Andrej H. in Karlsruhe dem Haftricher vorgeführt. Dort wird der Mann, der bereits die umfangreichen Überwachungsmaßnahmen genehmigt und den Haftbefehl unterschrieben hat, über die Fortdauer oder Beendigung der Haft entscheiden.
Das Konstrukt für die 129a-Ermittlungen: H. hatte Kontakt zu einer Person, der versuchte Brandstiftung vorgeworfen wird, und er schreibt wisschenschaftliche Texte. Eingeleitet worden sei das Verfahren durch eine Internetrecherche, so Anwältin Clemm am Dienstag. Die Behörden hätten Textteile von Bekennerschreiben der »mg« gesucht. Dabei seien die Beamten auf Papiere des Sozialwissenschaftlers, der sich seit Mitte der 90er Jahre mit den Folgen der Stadtumstrukturierung befaßt, gestoßen. Er habe »Schlagwörter und Phrasen« benutzt, die auch in Texten der »mg« »verwendet werden«. Ein Gutachten des Verfassungsschutzes habe allerdings keine ausreichende Ähnlichkeit nachweisen können, um auf H.s Autorenschaft zu schließen. Die Person, zu der er Kontakt gehabt haben soll, gehört zu den drei Männern, die nun mit ihm in der JVA Moabit sitzen. In der Nacht des 31. Juli sind sie nach Polizeiangaben dabei observiert und festgenommen worden, als sie versuchten Lkw der Bundeswehr in Brandenburg anzuzünden. Am folgenden Morgen wurden die Wohnungen von H. und den drei seit 2006 überwachten Verdächtigen sowie teilweise ihre Arbeitsplätze durchsucht.
Komplizierter Zirkelschluß
Das Konstrukt basiert auf einem Zirkelschluß: Erstens, die Intellektuellen sind wegen ihrer Texte Mitglieder der »mg«, einer von ihnen hatte Kontakt zu Brandstiftern, die deshalb auch zu der Gruppe gehören. Zweitens: Versuchte Sachbeschädigung von Kriegsmaterial der Bundeswehr ist Terrorismus, daher müssen auch die Intellektuellen, die mit den Brandstiftern Kontakt hatten, »mg«-Mitglieder sein. »Je länger man sich damit beschäftigt, desto unfaßbarer wird es«, sagt Hartmut Häußermann. Er ist Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Doktorvater von Andrej H. Mit rund 80 weiteren Erstunterzeichnern initiierte er einen von inzwischen drei offenen Briefen (siehe Spalte) an Generalbundesanwältin Monika Harms. Darin fordern sie und mittlerweile über 2000 weitere Unterzeichner Freiheit für Andrej H.
In Berlin hat sich unterdessen eine Soligruppe gegründet, die sich für alle sieben Betroffenen einsetzt. Sie ruft heute zu einer Kundgebung für die Freilassung der Gefangenen und die sofortige Einstellung aller Verfahren nach Paragraph 129a und b auf. Treffpunkt ist 18 Uhr vor dem Gefängnis in Berlin-Moabit (Alt-Moabit 12a).