Welche Suppe?
Zwischen Feuerwerk und Klassenkampf. Eine Reportage über den Kreuzberger Aktionstag zum MG-Prozess.
von John Doe
»Wir sind nicht unschuldig. Wir sind schuldig. Wir wollen diese Gesellschaft zerstören, wir meinen, sie ist scheiße, und glauben, gute Argumente dafür zu haben. Wir sind alle Terroristen, Kriminelle, Steinewerfer, Anarchisten, Chaoten und Kommunisten.« Die Ansage vom Lautsprecherwagen ist klar und deutlich. Gejammert wird nicht! 250 Menschen frieren schon zu Beginn des »bundesweiten Aktionstags gegen die staatliche Repression« am Freitag voriger Woche, der aus »Solidarität mit Axel, Florian und Oliver« in Berlin-Kreuzberg stattfindet.
Die Stimme aus dem Lautsprecherwagen erklärt mir und den durchweg aus der linken Szene kommenden Demonstranten, was sie sowieso schon wissen. Man sei hier, weil drei Aktivisten aus der radikalen Linken vor Gericht stünden. Sie sollen versucht haben, drei Bundeswehrfahrzeuge auf dem Gelände des Rüstungskonzerns MAN AG anzuzünden. Schwerer wiege jedoch der Vorwurf der Bundesanwaltschaft gegen die drei, Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) zu sein.
Getreu der Devise »Erst das Fressen und dann die Moral« lasse ich die revolutionäre Disziplin vorübergehend am Kottbusser Tor zurück. Ich eile zu einer versteckten kulinarischen Attraktion meines Kiezes, einer türkischen Nussbar, und kaufe 100 Gramm gebrannte Mandeln. Dort begegnen mir zwei seit Jahren bekannte Zivilpolizisten des Berliner Staatsschutzes. Sie grüßen mich kurz, machen sich eine Notiz über meine Anwesenheit und kaufen sich dann die leckere süß-salzige Nussmischung.
Die Demonstration zieht lautstark los. »Feuer und Flamme der Repression« ist auf dem Fronttransparent zu lesen. Innerhalb von wenigen Minuten verdoppelt sich die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und es werden stetig mehr. In der Oranienstraße sind es schließlich etwa 1 000, die skandieren: »Alexandros, das war Mord!«, »No Justice, No Peace – Fight the Police!« oder »Hass! Hass! Wie noch nie! All Cops are Bastards – A-C-A-B!« Die neben dem Demonstrationszug laufenden Zivilpolizisten aus dem Nussladen schmunzeln gequält, als ihnen ein Mann in einer Mob-Action-Jacke nachruft: »Zivischweine – Schüsse in die Beine«. Die Polizei wird später in ihrer Presseerklärung von einer »von Beginn an durch eine aggressive Grundstimmung gegenüber den Einsatzkräften der Polizei« gekennzeichneten Stimmung schreiben. Wer gegen »die Bullen« und »die da oben« ist, hat in Kreuzberg 36 nach wie vor viele Anwohner auf seiner Seite. Sie stehen an den Fenstern, einige klatschen sogar. Auf dem Dach eines ehemals besetzten Hauses wird ein Feuerwerk gezündet, als die Demonstration vorbeizieht.
Ich treffe einen Bekannten aus der autonomen Szene. Er kommentiert beim Laufen das Ganze abschätzig: »Total retro. Stimmung wie beim 1. Mai in den neunziger Jahren – nur sind die hier nicht vermummt und kriegen außer etwas pubertärem Verbalradikalismus eh nichts hin.«
Jemand ruft »Militante Gruppe – das Salz in der Suppe«. Ich bin nicht so schnell im Entschlüsseln von Metaphern und überlege angestrengt, welche Suppe gemeint ist. Vielleicht sollte ich jemanden fragen? Vor mir läuft eine eigentlich ganz sympathisch aussehende Frau Mitte Zwanzig. Vor einer Woche habe ich sie auf einer Party tanzen sehen. Sie trug ein T-Shirt mit der unsäglich dummen Aufschrift »Die Yuppie Scum«, das man über den Versandhandel der Antifaschistischen Linken Berlin beziehen kann, die mit zur Demonstration aufgerufen hat. Wo plakative Morddrohungen für ein ästhetisches Mittel im Kampf gegen die Gentrifizierung gehalten werden, ist der Glaube an böse Heuschrecken nicht fern.
Die ebenfalls mitdemonstrierenden Autonomen Kommunisten klebten zum 1. Mai 2008 Plakate, auf denen ein Vermummter zu sehen war, der mit der Zwille Euro- und Dollar-Heuschrecken abwehrt, die offenbar über den vermeintlich proletarischen Kiez herfallen wollen. Daneben stand: »Mieten rauf? Nicht mit uns, ihr Schweine!« Bereits vor einigen Jahren sorgten die »Autokomms« mit ihren Bestrafungsphantasien für Aufsehen, als ihre Plakate fünf Politiker und den Schriftzug zeigten: »Sie sind korrupt! Sie lügen! Sie lassen morden! – Ab ins Volksgefängnis!«
Ich suche die Demonstration nach weiteren Ärgernissen ab. Als ob er meine Vorurteile aufs Übelste bestätigen möchte, ruft ein Teilnehmer in Schwarz: »Ob Ost, ob West – Nieder mit der Spekulantenpest!« Zum Glück bildet sich kein Sprechchor. Die MG hat in ihren Bekennerschreiben keine »Volksgefängnisse« gefordert. In einem kleinen »Selbstportrait« schreibt die Gruppe: »Wir kämpfen auf der Basis eines sozialrevolutionären und antiimperialistischen Ansatzes perspektivisch für eine klassen- und staatenlose kommunistische Gesellschaftsform.« Trotz ihres antiimperialistischen und marxistisch-leninistischen Ideologiemumpitzes nennt die Gruppe die heterogenen links-, rätekommunistischen und syndikalistischen Strömungen der zwanziger und dreißiger Jahre als historische Vorbilder. Die von ihr produzierten Texte bewegen sich tatsächlich weit über dem erbärmlichen Niveau, das viele klandestine Gruppen in ihren Anschlagserklärungen an den Tag legen.
Indiskutabel hingegen ist ihre zart angedeutete »bewaffnete Seite des Widerstandes«. So schreibt die MG im November 2005 zu ihrem zweiten Brandanschlag auf die Büroräume des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): »Wir können unsere Interventionen nicht auf Angriffe auf anonyme Institutionen beschränken, sondern müssen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung personalisieren. Das kapitalistische System ist zwar ein soziales Verhältnis, das aber nicht subjektlos existiert, sondern von Handelnden und identifizierbaren Personen reproduziert wird.«
Aber selbst in der Szene hat sich die MG nie einer besonderen Aufmerksamkeit oder gar Beliebtheit erfreut. Ihre Diskussionspapiere wurden als Bleiwüsten, durchsetzt mit anachronistischen Vokabeln, verschmäht. Ganz ähnlich also, wie die Mehrheitsgesellschaft die radikale Linke wahrnimmt.
In der Görlitzer Straße verlässt die Demonstration die vorgeschriebene Route. Das starke Polizeiaufgebot in den Nebenstraßen gerät in Bewegung, versucht aber nicht, die Demonstration zu stoppen. Zu unübersichtlich und krawallfreundlich ist der dunkle Wrangelkiez mit seinen engen Straßen, dem Kopfsteinpflaster und den vielen Baustellen. Später fliegen aus der Demonstration heraus Farbbeutel gegen die Scheiben einer Sparkassenfiliale.
Auf der Zwischenkundgebung fordert jemand in einem langen Redebeitrag im Antiimp-Flugblattdeutsch die »Freilassung aller politischen Gefangenen weltweit« und insbesondere Christian Klars und ruft zur Solidarität mit den Piraten von Somalia auf. Dies sorgt für amüsiertes Stirnrunzeln bei den meisten Demonstranten.
Zuhause finde ich endlich heraus, was mit »Salz in der Suppe« gemeint ist. Der Spruch stammt aus einem Vereinsblatt der Westberliner militanten Linken, einer Ausgabe der Agit 883 von 1970, und lautet eigentlich: »Militanz ohne Organisation ist wie Salz ohne Suppe.« In einer Selbstdarstellung griff die MG diese Metapher auf und erklärte, man werde »durch eine kontinuierliche militante Politik versuchen, ein verlässliches und stabiles Standbein der außerparlamentarischen Proteste zu sein; oder besser, um im Bilde zu bleiben, ein Geschmacksverstärker«.