Über den Allerweltsbegriff "Reproduktion" im Verfahren 'militante gruppe'

Vorgestern hatte ich einen Tag frei und den haben wir genutzt, um den Prozess gegen die drei angeblichen Mitglieder der 'militanten gruppe (mg)' zu besuchen. Ein einzigartiges Leerstück in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ich kann das zur Anschauung nur weiterempfehlen.

Wir hatten das 'Glück', zufällig die Aussage der Ermittlungsleiterin des BKA im mg-Verfahren zu erleben. Der von Sachkenntnis (bezüglich BKA-Ermittlungen) ungetrübte allgemeine Menschenverstand würde sicher davon ausgehen, dass die Ermittlungsleiterin einigermassen Bescheid weiß, warum ermittelt wird, wie ermittelt wird, was ermittelt wird: nicht so beim BKA in Sachen Terrorismus (inzwischen ist der Vorwurf nicht mehr Terrorismus, aber anfangs war er das). Überhaupt finde ich ausgesprochen bedenklich, dass das die Behörde ist, die maßgeblich dazu beitragen soll, uns auf diese Weise vor Terror-Anschlägen zu schützen: ganz offensichtlich wissen die nicht, was sie tun.

Und nun zu den Details:

Wie mittlerweile relativ bekannt, wurde dieses mg-Verfahren damit begonnen (behaupten jedenfalls BKA und BAW), dass nach den UrheberInnen der Texte der mg gesucht wurde. Dazu wurden Textvergleich angestellt und etwa nach bestimmten Worten gesucht, die da typisch seien. Viele Menschen haben sich über die Auswahl dieser Worte gewundert: "Reproduktion", "marxistisch-leninistisch", "Bezugsrahmen","politische Praxis" gehören dazu. Man meinte, auf diese Weise einen ausreichenden Anfangsverdacht gegen einen bis heute Beschuldigten gefunden zu haben, über den dann drei Freunde von ihm auch zu Verdächtigen wurden, darunter Andrej.

Der hatte Monate später zweimal Kontakt zu einem anderen, unter 'hochkonspirativen Umständen', fand das BKA, und so wurde der auch verdächtig und über den noch zwei weitere. Diese letzteren drei stehen jetzt vor Gericht, wegen Mitgliedschaft in der mg und versuchter Brandstiftung, weil sie, sagt das BKA, versucht haben sollen, einen Bundeswehr-LKW anzuzünden. Da die Mitgliedschaft in der mg Teil des Vorwurfs ist und die sich ja aus den ursprünglichen Textvergleichen ableite, ging es Mittwoch darum, wie das alles zustande kam.

Frau Alles, die 'Verfahrensführerin' des BKA, hat das Verfahren im Oktober 2006 übernommen - begonnen hatte es einen Monat vorher. Die Zeuginnenbefragung drehte sich darum, wie das Verfahren genau entstanden war und was es mit den Wörtern genau auf sich hatte.

Wie geht das BKA vor, wenn es Urheberschaft an Texten ermitteln will?

Nun muss man wissen, dass ZeugInnen, die PolizeibeamtInnen sind, nicht zu allem einfach aussagen dürfen. In diesem Fall hat Frau Alles eine 'Aussagegenehmigung', die sich auf bestimmte Dinge bezieht, die sie sagen darf. Alles darüber hinaus darf sie nicht sagen, und so gibt es allerhand Streiterei darüber, was und wieviel sie sagen darf, oder muss.

Ich werde hier nicht auf alle Details eingehen, die sind in der Regel sehr ausführlich in den Berichten der Prozessbeobachtungsgruppe beschrieben. Da aber Andrej massgeblich von den Textvergleichs-Theorien betroffen war und ich über wenig in den letzten 1,5 Jahren so viel geredet habe, wie über diese Wörter, die angeblich Indiz dafür sind, dass er Mitglied dieser Gruppe sei, war das für uns natürlich ziemlich interessant.

Die Befragung begann mit Fragen danach, wie die Textvergleiche vorgenommen wurden. Aus den Akten sei ersichtlich, so die Verteidigerin, dass eine Internetrecherche stattgefunden habe. Wer hat die gemacht? Wie wurde sie durchgeführt? Und warum überhaupt?

Frau Alles weiß es nicht. Sie vertraute dem vorher zuständigen Ermittler und der Bundesanwaltschaft (BAW) und sah keinen Anlass, sich damit nochmal zu beschäftigen.

Sie wurde dann gefragt, ob sie denn die Texte der mg gelesen hätte und auch den Text, der dem ersten Beschuldigten 'zum Verhängnis wurde', der also mittels Internetrecherche als der Text ermittelt wurde, der die Autorenschaft auch zu den mg-Texten belegen sollte. Ob sie beim Lesen den Eindruck gewonnen hätte, dass die vom gleichen Autoren sein könnten?

Hintergrundwissen und GLINS-Datenbank

Nein, sagte sie da, denn dazu fehle ihr das Hintergrundwissen. "Es ist ja nicht so, dass ich persönlich jeden Text der mg gelesen habe". Aber sie leitet die Ermittlungen.

Nächste Frage der erstaunlich gelassenen Verteidigerin angesichts dieses Humbugs: Gibt es eine Datenbank mit Texten, in der solche Schlagwortrecherchen durchgeführt werden?

Frau Alles findet, dies dürfe sie nicht beantworten, weil polizeiliche Auswertungssysteme nicht Teil ihrer Aussagegenehmigung seien. Der Richter findet das auch. Die Verteidiger beantragen Ordnungsgeld gegen Frau Alles, weil sie die Aussage verweigert, es gibt eine Reihe Verhandlungspausen mit groteskem Gerichtstheater.

Danach fragt die Verteidigerin, ob die in den Akten erwähnte GLINS-Textdatenbank eine Datenbank des BKA sei: Das darf sie nicht beantworten, aber von einer GLINS-Literatur-Datenbank "hat sie schonmal gehört".

Die konsternierte Verteidigerin fragt, ob sie die Frage, ob ein Abgleich eines Fingerabdrucks mit einer Fingerabdruckdatenbank erfolgt sei, auch nicht beantworten dürfe?

Nun bequemt sich die Beamtin zu der Aussage, dass sie nicht alles im Kopf habe, was in den Akten stehe. (Wer denkt, dass Verhaltensweisen von Tatort-KomissarInnen und StaatsanwältInnen grundsätzlich auch wirklich so stattfinden könnten: dem ist nicht so. Mindestens im BKA scheint es etwas gemütlicher zuzugehen, wenn wir mal davon ausgehen, dass die Frau Alles die Wahrheit sagt.)

Nachdem sie den entsprechenden Vermerk aus den Akten gezeigt bekommen hatte, stellte sie fest, dass es sich um einen Vermerk des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) handele, aus dem erkennbar sei, dass es sich um einen Datenbank des BfV handele.

Pause.

Danach ging es in Variationen darum, wer die Schlagwortanalyse durchgeführt habe und ob das vielleicht das BfV war. Bei der Frage, um welche Worte es dabei überhaupt gegangen sei, griff der Vertreter der Bundesanwaltschaft (BAW) Weingarten ein. Danach könne die Zeugin nicht befragt werden, denn es gehe ja nur um ihre sinnliche Wahrnehmung und nicht um Gründe für etwas, was andere getan hätten. Ich kann mich hier nicht genau erinnern, aber in aller Regel gab der Richter den Einsprüchen dr BAW statt.

Für den Allerweltsbegriff "Reproduktion" wird ein Sachverständiger benötigt

Als nächstes ging es darum, anhand welcher Worte die Datenbank ausgewertet wurde. Dazu konnte die Zeugin nichts sagen. Höchstens insoweit, als die Begriffe keine Allerweltsbegriffe seien und nicht üblicherweise in Texten Verwendung fänden.

Verteidigerin: "Das Wort 'Reproduktion' ist kein Allerweltsbegriff?"

Und hier ein Schmankerl: der Richter lehnte die Frage von sich aus ab, das könne die Zeugin nicht wissen. Wer wissen wolle, ob "Reproduktion" ein Allerweltsbegriff sei, müsse einen Sachverständigen befragen.

Frau Alles wusste auch nicht, um welche Texte es hier ging, was für Texte als Basis für die Recherche herangezogen wurden und warum. Ob sie wisse, dass der Begriff laut Akten in 78 Texten vorkomme?

Alles: "Kann ich nicht sagen".

Verteidigerin: "Aber Sie sind doch die Chefin?"

Alles: "Habe ich das gesagt?"

Verteidigerin: "Aber Sie leiten doch das Verfahren?"

Usw. usf. in diesem Stil über Stunden. Ich bin hier auf Seite 3 von insgesamt 10 Seiten Notizen, d.h. es könnte noch ewig so weitergehen. Ich befürchte, dass das niemand so detailliert lesen will - wenn doch, dann lasst es mich wissen, dann mache ich mich auch noch an den Rest.

Frappierend ist in jedem Fall, dass es die leitende BKA-Beamtin behauptet, mehr oder weniger keine Ahnung zu haben, wie eigentlich die MItgliedschaft in der mg hergeleitet wird - vom BKA. Und das ist ja der zentrale Vorwurf im Verfahren, das da verhandelt wird, und nebenbei auch weiterhin gegen Andrej, und die drei anderen 'Texteschreiber'. Und dass auch BAW und Richter so tun, als sei das ganz normal so.

Wie geriet Andrej Holm in das mg-Verfahren?

Ach ja, auf einen Fragekomplex wollte ich noch eingehen:

Verteidigerin: " Wie kam es denn, dass Dr. Holm in das Verfahren aufgenommen wurde - wurden da auch Texte verglichen?"

Alles: "Kann sein".

Verteidigerin: "Laut Aktenlage nein. Woher kam denn dann der Anfangsverdacht gegen Herrn Dr. Holm?"

Alles: "Daran kann ich mich nicht erinnern."

Verteidigerin: "Vielleicht weil er mit anderen Beschuldigten zusammen gewohnt oder andere Texte veröffentlicht hat?"

Alles: "Das müsste ich in den Akten nachlesen."

Kann sein. Das glauben wir jetzt sofort, dass sie sich in 14 Monaten nicht damit beschäftigt hat oder einfach nicht mehr erinnern kann, wie Herr Dr. Holm eigentlich in dieses Verfahren geraten ist.

Wie gesagt, wer gern mal eine leerreiche Veranstaltung in Sachen Rechtsstaat erleben will, hat hier eine gute Gelegenheit. Frau Alles wird nächste Woche, am 18.12., um 9 Uhr wieder aussagen, und im Gegensatz zu vielen anderen Gerichtsverfahren ist hier ziemlich sicher, dass es nicht langweilig wird.

Zu sehen gibt es das alles im Gerichtsgebäude Berlin-Moabit, Turmstrasse 91, 10559 Berlin, Saal 700 (Eingang durch Pforte 5, links neben dem Haupteingang). Da geschieht dann folgendes:

Es werden immer max. zwei Personen gleichzeitig eingelassen (bei Regen Schirm mitbringen!). Die werden komplett durchsucht, abgetastet, Schuhe müssen ausgezogen werden. In den Verhandlungssaal dürfen ein Stift und leere Blätter Papier mitgenommen werden, einzelne Hustenbonbons, eine Packung Taschentücher, nichts zu essen oder zu trinken. Ich musste meinen Labello abgeben. Schlüssel, Portemonnaie und alles andere müssen abgegeben werden. Ausweise werden kopiert. Im Prozess sitzen teilweise reichlich bewaffnete BeamtInnen in Uniform und Schutzwesten, und dazu BeobachterInnen vom BKA, deren Aufgabe (auch) ist, zu überprüfen, wer sich für den Prozess interessiert.
Es gibt innerhalb des Bereichs hinter der Sicherheitskontrolle keine Toilette, es empfiehlt sich also vorher und in längeren Pausen das Café gegenüber aufzusuchen.

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