"Aufgebauschte Beweise"
Auch drei Wochen nach der Inhaftierung des Berliner Soziologen Andrej H. wegen Terrorverdachtes liefert die Bundesanwaltschaft keine konkrete Begründung für den Vorwurf, der Wissenschaftler sei der Kopf des linksextremen Terroristennetzwerkes "Militante Gruppe" (MG). Das berichtete die Anwältin des Soziologen, Christina Clemm, am Dienstag auf einer Pressekonferenz an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin.
"Die vorliegenden Indizien reichen bei weitem nicht aus, um Anklage zu erheben", sagte Clemm. Sie sei überrascht, in den 29 Aktenordnern der Bundesanwaltschaft über den Fall keine handfesten Beweise gegen den Soziologen zu finden. Die bisherigen Anschuldigungen relativierten sich sogar. Der "Vorführbericht", auf dessen Grundlage der Haftrichter Anfang August die Inhaftierung Andrej H.s angeordnet hatte, und der auf Informationen des Bundeskriminalamtes (BKA) beruht, sei sogar "aufgebauscht" gewesen.
Andrej H. wurde seit September 2006 vom BKA observiert. In den 29 Ordnern fänden sich zwar viele Details aus dem Privatleben des Wissenschaftlers, jedoch nichts, was den Verdacht gegen ihn erhärten würde. Demnach stützt die Bundesanwaltschaft ihre Vorwürfe weiter nur auf Indizien: Andrej H. habe in seinen wissenschaftlichen Texten dieselben Schlagwörter benutzt wie die MG. Verdächtig sei insbesondere das Wort „Gentrifikation", ein Standardbegriff der Stadtsoziologie.
Die Anwältin des Soziologen glaubt, dass es der Bundesanwaltschaft um mehr gehe als um eine Anklage gegen Andrej H.. Denn nur wenn sie ihm nachweisen könnte, dass er mit der MG zusammenhänge, ließe sich auch der Terrorverdacht gegen drei weitere Inhaftierte aufrechterhalten. Sie waren Ende Juli bei dem Versuch beobachtet worden, Bundeswehrautos in Brand zu stecken. "Versuchte Brandstiftungen gibt es aber oft", sagt Christina Clemm, "dafür kriegt man für gewöhnlich keinen Haftbefehl." Die Bundesanwaltschaft versuche daher, Andrej H. zum Terroristen zu stempeln, um dann eine Verbindung zwischen ihm und den drei Brandstiftern herzustellen. In der Folge würden auch sie als Terroristen gelten. Nach Angaben des BKA hatte sich der Soziologe zweimal mit Personen aus dem Kreis der Brandstifter getroffen.
"Wenn aber nicht bewiesen werden kann, dass mein Mandant ein Terrorist ist, dann sind die drei Inhaftierten nur gewöhnliche Brandstifter", sagt Anwältin Clemm, das terroristische Bedrohungsszenario des BKAs sei damit hinfällig. Mit einiger Energie habe das BKA darum versucht, Andrej H. als intellektuellen Täter darzustellen. So hätten es die Ermittler laut Vorführbericht für "konspirativ" gehalten, dass Andrej H. bei seinem Treffen mit den Brandstiftern kein Handy dabei gehabt habe.
Doch selbst solche Anhaltspunkte erwiesen sich nun als unsicher. In den Originalakten sei nur die Rede davon, dass der Wissenschaftler sein Mobiltelefon "höchst wahrscheinlich" nicht dabei gehabt habe. "Juristisch ist das ein riesiger Unterschied", sagt Anwältin Clemm. Sie rechne damit, dass die Anschuldigungen gegen ihren Mandanten spätestens beim Haftprüfungstermin am Freitag in sich zusammen fielen.
Gegen die Anschuldigung der Bundesanwaltschaft wenden sich inzwischen immer mehr Wissenschaftler in einem offenen Brief an die Generalbundesanwältin. Sie prangern an, die Bundesanwaltschaft stelle die gesamte Wissenschaft unter den Generalverdacht, konspirativ zu sein. Der offene Brief fand auf Anhieb über 60 Erstunterzeichner aus der Soziologie. Die Unterstützung wächst rasant. Unter www.freeandrej.net.ms sind online inzwischen 2200 weitere Unterschriften zusammengekommen.
Initiator des Briefes ist Hartmut Häußermann, Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin und der ehemalige Doktorvater von Andrej H. (Häußermann hier im Interview auf ZEIT online). Er wundert sich, wie der Verdacht überhaupt auf seinen Kollegen fallen konnte. "Das BKA habe gegoogelt", sagt Rechtsanwältin Christina Clemm. Dabei sei man auf die Veröffentlichungen Andrej H.s und befreundeter Wissenschaftler gestoßen und habe entdeckt, dass die Terminologie der Forscher auch von der MG verwendet wird.
Konkret lässt sich das momentan schwer nachvollziehen. Eine Recherche in der elektronischen Veröffentlichungsliste Andrej H.s ist derzeit nicht möglich. Der entsprechende Link auf den Seiten der Humboldt-Universität weist seit einigen Tagen ins Leere. Offenbar wurde die Datei mit den Texten Andrej H.s entfernt.
Dass die Vorwürfe gegen Andrej H. sich kaum rechtfertigen lassen, glaubt auch Stefan König, Berliner Rechtsanwalt und Strafrechtsexperte des Deutschen Anwaltvereins (DAV) . "Aus den Versatzstücken wissenschaftlicher Texte einen Tatverdacht zu konstruieren, halte ich für bedenklich", sagt der Jurist. "Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft würde ich in diesem Fall nicht normal nennen." So sei weder die Schwere des Vorwurfs noch die der Haftbedingungen durch die reine Indizienbeweisführung gedeckt.
Jedwede Kommunikation Andrej H.s, der in Einzelhaft sitzt, wird überwacht: Die Gespräche mit seiner Anwältin, Briefe und auch die Zeitungen, die er liest. Die Bundesanwaltschaft müsse dafür vertretbare Haftgründe nennen, etwa Verdunklungs- oder Fluchtgefahr. Dass davon offenbar ausgegangen werde, hält Strafrechtexperte König bei einem Akademiker und dreifachen Familienvater wie Andrej H. für "völlig absurd".