Waffenverbote: Die heimlichen Helfer der Attentäter
von Chris Vigelius
Zur wirksamen Terrorbekämpfung ist ein Umdenken erforderlich
172 Menschen ermordet, mehr als 200 verletzt - das ist die schreckliche Bilanz des Terroranschlags von Bombay. Das Leid, das skrupellose Terroristen über unschuldige Zivilisten und ihre Angehörigen gebracht haben, macht betroffen. Doch sollte man auch die Frage stellen, inwieweit die Maßnahmen zur Terrorabwehr, die vor und vor allem nach dem 11. September 2001 in den meisten Ländern auf den Weg gebracht wurden, wirklich effektiv sind, oder ob nicht ganz andere Wege zur Bekämpfung der Täter und zur Minimierung der von ihnen verursachten Schäden eingeschlagen werden sollten.
Fakt ist: Trotz aller weltweiten Anstrengungen zur Aufdeckung und Bekämpfung terroristischer Strukturen ist es entsprechend motivierten Tätern offenbar nach wie vor möglich, Anschläge zu planen und auszuführen und insbesondere auch an die dafür benötigte Ausrüstung zu gelangen. In Bombay war das nicht viel: Die Täter waren nicht etwa mit Plastiksprengstoff, komplizierten High-Tech-Waffen oder gar atomaren, biologischen oder chemischen Kampfstoffe ausgestattet, sondern hatten (soweit die einschlägigen Presseberichte, die zum größten Teil auf offiziellen Aussagen der indischen Behörden beruhen, zutreffen) lediglich Gewehre vom Typ AK-47 sowie Handgranaten zur Verfügung: Allerweltswaffen, die auf der ganzen Welt in millionenfacher Stückzahl zu finden sind, auch außerhalb von Krisengebieten. Es liegt auf der Hand, dass eine wirksame Kontrolle der Verbreitung und des Zugangs zu solchen Waffen völlig illusorisch ist. Selbst in Deutschland kann getrost davon ausgegangen werden, dass das "Besorgen" einer vergleichbaren Ausrüstung für organisierte Kriminelle, erst recht aber für Terroristen, kein ernsthaftes Problem darstellt.
Fakt ist auch, dass selbst die schärfsten Kontrollen an Flug- und Seehäfen und Grenzposten den Anschlag nicht hätten verhindern können, denn die Täter kamen über das Meer - in einem gekaperten Boot der indischen Küstenwache, dessen Besatzung ebenfalls ermordet wurde. Mit Schlauchbooten landeten sie an und begaben sich unmittelbar darauf zu den anvisierten Zielen, erschossen kurzerhand jeden, der sich ihnen in den Weg stellen wollte. Es mag makaber klingen, aber stundenlange Wartezeiten aufgrund von Kontrollen, Flüssigkeitsverbote, Nacktscanner und was den Behörden noch so alles an "Sicherheitstheater" einfällt, schreckt Terroristen zwar von der offiziellen Einreise, aber offenbar nicht von Anschlägen ab. Die wählen im Zweifel einfach einen anderen Weg.
Sicher, man könnte die Kontrollen zur See verstärken, die Bewaffnung der Küstenwache erhöhen, moderne elektronische Geräte zur Überwachung der Grenzen anschaffen, noch mehr Sicherheitspersonal einsetzen, Bürgerrechte noch weiter einschränken. Der Phantasie (und den möglichen Kosten) sind hier keine Grenzen gesetzt. Das würde es Terroristen möglicherweise erschweren, die gleiche Angriffstaktik noch einmal anzuwenden. Bislang scheint aber an neuen Angriffsvektoren kein Mangel zu herrschen, und es ist nicht abzusehen, dass sich das in naher Zukunft ändern wird.
Sicher ist hingegen, dass die ökonomischen und gesellschaftlichen Kollateralschäden durch den "Krieg gegen den Terror" schon jetzt kaum noch erträgliche Ausmaße erreichen: Bürgerrechte werden Stück für Stück abgeschafft, jeder neue Anschlag bringt neue Einschränkungen der Privatsphäre und neue Überwachungsmöglichkeiten für den Staat. Hinzu kommen Millionen an Steuergeldern, die für mehr oder weniger sinnvolle Sicherheitstechnik und das für den Einsatz erforderliche Personal ausgegeben werden müssen. Grenzüberschreitende Reisen werden zur zeit- und nervenaufreibenden Tortur, gerade im Luftverkehr, der doch eigentlich dem schnellen Personentransport dienen soll. Das ist besonders ärgerlich für Geschäftsreisende, doch auch im privaten Bereich sorgen lange Warteschlangen, arrogantes und unhöfliches Sicherheitspersonal und offensichtlich zweckfreie Gängeleien (Flüssigkeitsverbot) nicht gerade für gesteigerte Urlaubsfreude. Und es geht weiter: Auch im Inland zu bleiben, schützt nicht vor dem Kampf gegen den Terror. Egal, ob massenhafte Hausdurchsuchungen gegen Hobbychemiker (die Stoffe im Versand gekauft haben, die man auch für die Sprengstoffherstellung nutzen könnte), alltägliche Belästigungen durch Polizeikontrollen (von denen vor allem Mitbürger, die "irgendwie südländisch" aussehen, ein Lied singen können), massenhafte Datensammelwut durch staatliche Stellen - verdächtig ist irgendwie jeder ein wenig, und diejenigen, die ein wenig mehr verdächtig sind als andere, haben sowieso schon längst verloren. "Rechtsstaat ist, wenn der Staat Unschuldige wieder freilässt", meint jedenfalls Innenminister Schäuble. Was vorher passiert, steht auf einem anderen Blatt. Da kann man schon glücklich sein, wenn man nicht (wie der libanesischstämmige Deutsche Khaled al-Masri) von einem ausländischen Geheimdienst entführt und mehrere Monate lang an geheimen Orten gefangen gehalten, sondern "nur" permanenter Beschattung und Bespitzelung ausgesetzt wird, wie der Berliner Soziologe Andrej Holm, der angeblich der Terrororganisation "militante Gruppe" angehören soll, obwohl trotz jahrelanger Überwachung hierfür keine überzeugenderen Anhaltspunkte gefunden werden konnten als die Verwendung bestimmter Suchbegriffe in Google sowie die Tatsache, dass der Verdächtige zu einem angeblich "konspirativen" Treffen kein Mobiltelefon mitgenommen hatte.
Wir zahlen einen hohen, kaum noch zumutbaren Preis für die staatliche Terrorbekämpfung, und was bekommen wir? Alles mögliche, aber ganz offensichtlich keinen Schutz vor dem Terror.
Gleichzeitig übersehen wir geflissentlich eine Konstante, die alle Terroranschläge, vom 11. September über die Attentate von Madrid und London bis hin zu den Anschlägen von Bombay, gemeinsam haben: In ausnahmslos allen diesen Fällen stand eine kleine Gruppe bewaffneter Terroristen einer vergleichsweise großen Zahl unbewaffneter Zivilisten gegenüber. Wären unter den 86 Passagieren und Flugbegleitern des American-Airlines Flug Nr. 11, der am Vormittag des 11. September 2001 in den Nordturm des World Trade Centers gelenkt wurde, nur ein paar Bewaffnete gewesen, es wäre den fünf Terroristen wohl kaum gelungen, das Flugzeug unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein weiterer Flug, UA 93, stürzte in einen Acker bei Pennsylvania, weil sich die Passagiere gegen die Terroristen gewehrt hatten - leider waren sie unbewaffnet, während sich die Terroristen nicht an die einschlägigen Vorschriften gehalten hatten.
Wir können nicht sicher sagen, ob die Anschläge von Madrid und London, die durch Selbstmordattentäter mit Sprengsätzen verübt wurden, durch die rechtzeitige Anwesenheit bewaffneter Zivilisten hätten verhindert werden können. Vielleicht ist den Mitreisenden kurz vor der Zündung etwas Verdächtiges aufgefallen, vielleicht nicht, und sicherlich würde auch bei legalisiertem Waffenbesitz nicht bei jeder Unregelmäßigkeit sofort zur Pistole gegriffen. In Bombay jedoch, wo maskierte Männer mit Maschinenpistolen wahllos um sich schossen, hätte wohl kaum jemand noch Zweifel am Vorliegen einer Notwehrsituation gehabt. Unmittelbare Gegenwehr hätte die Anschläge vielleicht nicht vereiteln können, aber sicher wären zahlreiche Opfer noch am Leben, oder nicht oder nicht so schwer verletzt worden. Tatsächlich war Gegenwehr praktisch nicht vorhanden, denn Indien hat noch aus Kolonialzeiten ein extrem strenges Waffenrecht.
Es ist verständlich, wenn die Vorstellung, jedem unbescholtenen Bürger das Recht auf Erwerb und Führen von Schusswaffen zuzugestehen, auf den einen oder anderen Leser befremdlich wirkt. Erst recht in Deutschland, wo mit dem ursprünglich von den Nationalsozialisten eingeführten, nach dem Krieg kaum gelockerten und seit den 70er Jahren immer weiter verschärften Waffenverbot der legale private Waffenbesitz nur noch in Ausnahmefällen möglich ist, und in den Medien eine regelrechte Dämonisierung von Waffen und Waffenbesitzern stattfindet. Doch wer in jedem Waffenbesitzer einen Fanatiker, Rechtsradikalen oder potentiellen Massenmörder sieht, muss sich fragen lassen, ob er von sich selbst glaubt, allein durch den möglichen Zugang zu einer Waffe sofort zum Amokläufer zu werden. Und wer dies für sich verneint, sollte sich überlegen, warum er das seinen Mitmenschen zutraut.
Tatsächlich spielen von legalen Waffenbesitzern mit der eigenen Waffe begangene Verbrechen in der Kriminalstatistik praktisch keine Rolle; nahezu alle Schusswaffen, die bei Gewaltverbrechen zum Einsatz kommen, sind illegal erworben und besessen worden. Das gilt auch für Nachbarländer wie die Schweiz oder Belgien, in denen der legale Erwerb von Waffen vergleichsweise einfach möglich ist; in der Schweiz bekommt sogar jeder Mann, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat, ein Maschinengewehr mit nach Hause - ohne dass deswegen "amerikanische Zustände" (oder sachlicher: eine signifikant erhöhte Verbrechensrate mit Schusswaffen) zu beobachten wären. Im Gegenteil: Die Mordrate (Morde pro 100.000 Einwohner) liegt mit 1,1 sogar unter der von Deutschland (1,2).
Auch ein Vergleich mit einer ähnlichen Situation in einem anderen Zusammenhang kann helfen, die Frage des privaten Waffenbesitzes als wirksame Maßnahme gegen Terror und "gewöhnliche" Kriminalität sachlich und frei von emotionalen Vorbehalten zu betrachten: In der Computersicherheit sind Privatleute, vor allem aber Unternehmen mit ähnlichen Bedrohungsszenarien konfrontiert wie die Sicherheitsbehörden. Während letztere die Bevölkerung vor Terroristen schützen sollen, sind es in den großen Unternehmensnetzen und dem Internet die einzelnen Server und Clients (Arbeitsplatzrechner), die von Viren und böswilligen Angreifern bedroht werden. In beiden Fällen gilt: Ein Angriff ist prinzipiell zu jeder Zeit, auf eine nicht vorhersagbare Art und Weise gegen ein beliebiges Ziel möglich; im einen Fall gegen Leib und Leben von Menschen, im anderen gegen die Verfügbarkeit, Integrität und Geheimhaltung gespeicherter Daten. Große Unterschiede gibt es dagegen bei den Schutzkonzepten: Während Anti-Terror-Maßnahmen sich darauf beschränken, möglichst die gesamte Bevölkerung unbewaffnet zu halten und diesen Zustand in der Hoffnung, damit auch den Zugang von Terroristen zu potentiell gefährlichen Gegenständen zu verhindern, umfassend zu kontrollieren, käme wohl kein Computerspezialist auf die Idee, Passwortschutz, Verschlüsselung, Firewalls und Virenschutzsoftware nur auf wenigen, speziellen Rechnern im Netz zu installieren und alle anderen nicht nur ungeschützt zu belassen, sondern sogar eventuell vorhandene Schutzprogramme zu entfernen - das würde schließlich nichts weiter bewirken, als die Chancen von Angreifern deutlich zu erhöhen, da nur die wenigen gesicherten Systeme umgangen werden müssten. Tatsächlich gilt es seit einigen Jahren als Stand der Technik, auf möglichst jedem einzelnen Rechner im Unternehmen, egal ob Client oder Server, eine Firewall und einen Virenfilter zu installieren, obwohl sich diese ja schon im eigentlich "sicheren" Unternehmensnetz befinden. Der offensichtliche Vorteil dieser Lösung besteht darin, dass sich zum einen Angriffe auf vorher nicht erkannten Wegen (z.B. über einen USB-Stick an Stelle einer E-Mail, die standardmäßig zentral auf Viren geprüft wird) bekämpfen lassen, und zum anderen trotzdem durchdringende Angriffe in ihrem Ausmaß beschränkt werden, weil für jedes weitere System wieder eine Schutzmaßnahme überwunden werden muss, anstatt im gesamten Netz "freie Bahn" zu haben.
Wie könnte dieses offensichtlich vernünftige und wirksame Konzept auf die Terrorbekämpfung übertragen werden? Da Schußwaffen -im Gegensatz zu Virenschutzprogrammen- in der Hand von unerfahrenen Schützen wirkungslos oder sogar gefährlich sind, bietet es sich an, zunächst nur einer beschränkten Anzahl vertrauenswürdiger (und selbstverständlich nicht vorbestrafter) Freiwilliger, die die erforderliche Sachkunde nachweisen können, eine Erlaubnis zum Führen der Waffe zu erteilen. Diese Einschränkung würde nicht nur bestehenden Vorbehalten in der Bevölkerung Rechnung tragen, sondern ermöglicht auch den jederzeitigen Entzug der Erlaubnis, wenn unangemessenes Verhalten des Betreffenden dies geboten erscheinen lässt. Trotzdem würde das Schutzniveau vor Terrorismus und allgemeiner Kriminalität sofort und zu sehr geringen Kosten erhöht, da Kriminelle nun jederzeit und von prinzipiell jedem mit Gegenwehr zu rechnen hätten. Eine auch nur annähernd vergleichbare Anzahl Polizeikräfte einzustellen wäre dagegen völlig unfinanzierbar und darüberhinaus auch nicht wünschenswert (wer möchte schon auf Schritt und Tritt von der Polizei begleitet werden?).
Mir ist klar, dass dieser Vorschlag für viele Leser utopisch klingt, aber die Erfahrung zeigt: Wenn Politiker "weniger Freiheit für mehr Sicherheit" fordern, reicht es nicht aus, zaghaft darauf hinzuweisen, dass man die Freiheit doch ganz gern behalten wollte. Wer sich auf defensive Argumente beschränkt, muss zusehen, wie Lebensqualität und Bürgerrechte Stück für Stück verschwinden, mit jedem neuen "Sicherheitspaket" ein wenig mehr, bis am Ende gar nichts mehr übrig bleibt. Die Alternative heißt: "Mehr Sicherheit durch mehr Freiheit". Es ist höchste Zeit, den Spieß herumzudrehen.