"Das Ende der kritischen Wissenschaft"
Seit am 1. August der Berliner Soziologe Andrej H. unter Terrorverdacht verhaftet wurde, herrscht unter deutschen Sozialwissenschaftlern einige Aufregung. Sie erschüttert nicht nur, dass er wie ein Schwerverbrecher behandelt wird: getrennt von drei kleinen Kindern und seiner Lebensgefährtin, und jeder Brief, jedes Gespräch mit seiner Rechtsanwältin wird kontrolliert.
Eine ganze Reihe von Soziologen empörten sich zuletzt in einem offenen Brief an die Generalbundesanwältin darüber, dass Andrej H. ohne konkrete Anklagepunkte festgehalten werde, und forderten, die Ermittlungen einzustellen. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Soziologen vor, Mitglied der Terrorvereinigung "militanten Gruppe" (MG) zu sein. Angeblich habe er sich vor mehreren Monaten mit einem Mitglied der MG getroffen, das Ende Juli bei dem Versuch, Fahrzeuge der Bundeswehr in Brand zu setzen, verhaftet wurde.
Mehr und mehr Wissenschaftler schließen sich dem Brief an. Über 1700 unterschrieben auf der Webseite www.freeandrej.net.ms online. Hartmut Häußermann, Professor für Stadtsoziologie an der Humboldt-Universität und ehemaliger Doktorvater von Andrej H., erläutert im Interview, wieso er den Brief an die Generalbundesanwältin schrieb, und warum er die kritische Wissenschaft in Gefahr sieht.
Wieso sind Sie überzeugt, dass Andrej H. unschuldig ist?
Konkrete Vorwürfe gibt es bisher nicht. Die Anklage wirkt eher gewollt konstruiert: In den Bekennerschreiben der MG würden Inhalte zitiert, die irgendwo auch in den wissenschaftlichen Schriften von Andrej H. vorkommen. Und aus dieser Analogie wird geschlossen, dass Andrej H., weil er sich offenbar mit einem der Brandstifter getroffen hat, der Drahtzieher der Terrorgruppe sei. Man schließt also von den Veröffentlichungen eines Wissenschaftlers darauf, dass er der intellektuelle Anstifter von Taten ist, mit denen er wahrscheinlich gar nicht zu tun hat.
Aber ist es denn nicht mindestens merkwürdig, dass Andrej H. und die Militante Gruppe dasselbe Vokabular benutzen?
Die Staatsanwaltschaft hält vor allem den Begriff der "Gentrifikation" für verdächtig. Das ist lachhaft. Das Wort ist seit 30 Jahren ein Standardbegriff in der Stadtforschung. Es bedeutet die Verwandlung eines Stadtviertels mit relativ billigen Wohnungen und relativ schlechter Bausubstanz, wo Leute mit niedrigen Einkommen wohnen, in ein Viertel für höhere Einkommensschichten. Da wird investiert, da wird modernisiert, und dann werden die einkommensschwachen Bewohnern verdrängt.
Und wie kommt die MG dazu, den Begriff zu verwenden?
Gute Frage. Ich habe mal versucht, mich in so ein Bekennerschreiben hineinzulesen, aber ich muss Ihnen sagen: Es dreht mir den Magen um. Ich kann das nicht lesen. Es gibt natürlich gewisse Kommunikationsblättchen, die in solchen politischen Kreisen eine Rolle spielen, in denen auch über den politischen Kampf und die Veränderung der Verhältnisse diskutiert wird. In solchen Schriften hat auch Andrej H. veröffentlicht. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn er oder andere dort auch über "Gentrifikation" geschrieben hätten. Andrej H. hat sich immer der linken Szene zugerechnet. Ich kenne ihn als Marxisten, was ja aber kein Verbrechen ist.
Ist es denn denkbar, dass Andrej H. sich mit Mitgliedern der MG getroffen hat, wie es ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft?
Ja, möglicherweise wusste er aber nicht, dass es sich um MG-Leute gehandelt hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich sofort mit jemandem aus einer politischen Bewegung treffen würde, der ihm sagt, dass er sich für stadtpolitische Themen interessiert, und Hilfe und Informationen braucht. Das würde ich auch machen. Aber ich kenne ihn: Er hat sich bestimmt nicht mit denen getroffen, damit seine Gesprächspartner anschließend Bundeswehrautos anzünden. So naiv und blöd ist er nicht.
Wäre er denn der Typ, der der Kopf einer terroristischen Vereinigung wie der MG sein könnte?
Nein. Er ist eher ein sanfter und nachdenklicher Mensch. Er hat eine gewisse Freude am radikalen Denken. Aber es ist ja an sich eine gute Eigenschaft, dass er sich nicht mit Sprechblasen zufrieden gibt oder mit halben Wahrheiten.
Die Frage ist, zu welch radikalen Taten er fähig wäre. In Ihrem offenen Brief bezeichnen sie Andrej H. als "sozial engagiert". Was heißt das?
Er war stadtpolitisch aktiv, zum Beispiel in der Betroffenenvertretung während der Sanierung des Prenzlauer Bergs. Er hatte seine Diplomarbeit über den Wandel der Infrastruktur in Berlin-Mitte nach der Wende geschrieben. Da hat er wissenschaftliche Information geliefert, die für uns aus Forschungsinteresse wertvoll war, die aber auch von politischen Aktivisten verwendet werden kann. Und die können damit natürlich auch gegen Privatisierung und Kapitalismus ins Feld ziehen.
Andrej H. hat sich also bewusst ein linkes Forschungsfeld herausgesucht...
Wenn Sie das so sehen, dann ist die ganze Stadtforschung ein linkes Forschungsfeld.
Läge die Staatsanwaltschaft denn so sehr daneben, wenn sie die Soziologie für eine Wissenschaft links denkender Intellektueller hielte?
Die Soziologie ist eine aufklärerische Wissenschaft. Sie will die herrschenden Verhältnisse kritisieren, Ungleichheiten aufzeigen, und sich für gleiche Lebenschancen und für Fairness einsetzen. Da wird die Soziologie schon auch politisch konkret: Eine Praxis, die nicht der Herstellung von Chancengleichheit dient, sondern die Ungleichheit vergrößert, wird kritisiert. Das betrachten wir als Teil unserer wissenschaftlichen Arbeit.
Glauben Sie, dass sich die Staatsanwaltschaft mit der Verhaftung von Andrej H. auch gegen diese Denkweise richtet?
Mir scheint es der Versuch zu sein, ein intellektuelles Milieu haftbar zu machen für gesetzeswidrige Aktivitäten, die sich zwar irgendwo mit der Richtung dieses Denkens rechtfertigen möchten, zu denen es aber keinen kausalen Zusammenhang gibt. Wenn jemand radikal die Mängel unserer Demokratie kritisiert, und jemand anders begeht ein staatsfeindliches Verbrechen, dann ist daran doch nicht die Demokratiekritik schuld. Da will einer mit seinem Verbrechen auf unakzeptable Weise zeigen, dass er bestimmte Verhältnisse und den Zustand der Demokratie kritisiert. Wenn zwischen wissenschaftlicher Demokratiekritik und illegalen Aktivitäten ein direkter Zusammenhang konstruiert wird, wie jetzt bei Andrej H., und uns Wissenschaftlern zur Last gelegt wird, unsere Kritik sei die Grundlage für das terroristische Handeln anderer, dann sind wir doch völlig vogelfrei. Dann dürfen wir doch gar nichts mehr veröffentlichen. Alle Schriften von Andrej H., aus denen nun die Anklage konstruiert wird, sind ja veröffentlicht und damit allgemein zugänglich!
Was ist die Gefahr, wenn das Schule macht?
Dann ist die kritische Wissenschaft am Ende! Die Forschung war noch nie so öffentlich wie heute, und das ist gut so. Es gibt keine Hausarbeit, kein Referat mehr, das nicht über das Internet geschickt wird. Dadurch kann uns aber jede Verfolgungsbehörde fast völlig kontrollieren. Eigentlich sollten sich deshalb die Behörden angemessen zurückhalten. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir jetzt bei Andrej H. sehen: Ein Richter, der das Wort Gentrifikation zum ersten Mal hört, hält dies - ohne sich zu informieren - für eine konspirative Sache. Damit wird tendenziell die ganze Wissenschaft als konspirativ verdächtig. Die Freiheit und Öffentlichkeit der Wissenschaft gehört aber zu den Prinzipien eines demokratischen Gemeinwesens.
Dahinter steht das Bild einer freien Demokratie, in der die freie Wissenschaft für alle zugänglich ist...
Ja. Doch momentan schaffen einige Politiker das Szenario einer permanenten Bedrohung, um damit permanente Überwachung zu rechtfertigen. Das wird dazu führen, dass sich unsere Studenten irgendwann nicht mehr frei fühlen, sondern nur noch Angst haben. Kritisches Denken und kritische Aufklärung gibt es dann nicht mehr. Weil jeder Gedanke gesammelt und dokumentiert wird und seine Wortführer bis in die Isolationshaft bringen kann.
Ihr offener Brief an die Generalbundesanwältin fand auf Anhieb über 60 Sozialwissenschaftler als Erstunterzeichner. Inzwischen haben online über 1700 unterschrieben. Welche Dimension hat der Fall aus Sicht der Soziologie?
Mich erinnert er sehr an die Diskussion im Zusammenhang mit der RAF. Damals wurden Intellektuelle beschuldigt, die geistigen Brandstifter zu sein, nur weil sie auch gegen den Kapitalismus waren: Adorno, Horkheimer, Habermas, die ganze Frankfurter Schule. Diese Denkfigur, die damals noch eher propagandistisch war, ist durch den Paragrafen 129 des Strafgesetzbuches inzwischen in gültiges Recht eingeflossen. Damals war der Paragraf, nach dem Verdächtige wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung verhaftet werden können, geschaffen worden, weil man auch die geistigen Vordenker im Terrorismusnetzwerk fassen wollte. Doch jetzt werden durch den Paragrafen plötzlich junge Forscher zu intellektuellen Tätern, wie Andrej H.. Das ist ganz schlimm.
Das hieße ja, das Gesetz selbst ist eine Gefahr für die freie Wissenschaft.
Inzwischen glauben einige, dass es eine Regelung ist, die über die Grenzen eines liberalen Rechtsstaates hinausgeht. Wenn dieser Paragraf dazu führt, dass jemand nur wegen seiner Gesinnung in Isolationshaft gesteckt werden kann, wo er sich gegen die ihm vorgehaltenen Konstruktionen nicht einmal wehren kann – wie soll sich ein Wissenschaftler dagegen wehren, dass ihn jemand zitiert! -, dann finde ich, dass dieser Paragraf wieder weg muss.
Die Fragen stellte Björn Schwentker