Der Verdacht
BERLIN. Seit drei Wochen sitzt Andrej H. in einer Einzelzelle der Moabiter Untersuchungshaftanstalt. 23 Stunden am Tag ist er eingesperrt. Eine Stunde darf er auf den Hof, gemeinsam mit zwei ihm von der Anstaltsleitung zugeteilten Häftlingen. Angehörige oder Freunde können ihn nur zweimal im Monat für jeweils dreißig Minuten besuchen. Bei diesen Besuchen sitzt Andrej H. hinter einer Trennscheibe. Auch dann, wenn sein Anwalt mit ihm sprechen will. Alle Post, die er bekommt, wird kontrolliert.
Der 36-jährige Andrej H. ist promovierter Soziologe. Der Vater zweier Kinder arbeitet am Berliner Institut für Stadt- und Regionalsoziologie. Er ist ein unter Kollegen hochgeachteter Fachmann für Stadtumbau und Stadtteilpolitik, ein gefragter Referent in Diskussionsrunden und Expertentreffen.
Für die Bundesanwaltschaft ist Andrej H. vor allem Staatsfeind und Terrorist. Als Mitglied der linksextremistischen "militanten gruppe", kurz "m.g.", soll er "durch militante Aktionen die gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zugunsten einer kommunistischen Weltordnung zu beseitigen" versuchen. Wissenschaftlerkollegen bezweifeln dies allerdings und fordern seine Freilassung.
Seit Jahren geistert die "militante gruppe" als eine Art Phantom durch die linksextremistische Szene in Berlin. Von 2001 bis heute werden der Gruppe insgesamt 25 Brandanschläge zugeschrieben, die sich hauptsächlich gegen öffentliche Gebäude richteten. Finanz- und Arbeitsämter sind darunter, Justiz- und Polizeieinrichtungen, Büros eines Industriellenverbandes und einer ausländischen Handelskammer. Bei ihren Ermittlungen gegen die "Feierabendterroristen" von der "m.g.", die angeblich bürgerlichen Berufen nachgehen und Anschläge nur in ihrer Freizeit verüben, stocherten die Bundesanwälte bislang hilflos im Nebel. Nun also soll die Gruppe aufgespürt sein. Und vor allem einer ihrer angeblichen Rädelsführer - Andrej H.
Von dem Verdacht gegen sich erfuhr Andrej erst, als er am Morgen des 31. Juli verhaftet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn die Bundesanwaltschaft schon seit elf Monaten im Visier. Observation, Telefonüberwachung, Peilsender am Auto - ein knappes Jahr lang war gegen ihn und drei seiner Freunde aus Berlin das ganze Programm zum Einsatz gelangt, das die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Terroristenverfolgung zulassen.
Die Akten, die die Verteidiger bislang einsehen konnten, lassen nur begrenzte Rückschlüsse darauf zu, warum H. und seine Freunde ins Visier der Ermittler gerückt sind. Von konspirativen Kontakten ist da die Rede, von auffälligen Ähnlichkeiten zwischen Bekennerschreiben der "m.g." und Publikationen der Verdächtigen, von "intellektuellen Fähigkeiten", die man offenbar benötigt, um ein Linksterrorist zu sein.
"Dubiose Indizien", nennt das der Berliner Rechtsanwalt Sven Lindemann. "Wenn das allein schon ausreicht, die ganze Maschinerie der Terrorismusermittlungen in Gang zu setzen, dann ist das eine sehr bedenkliche Entwicklung."
Anwalt Lindemann vertritt weder Andrej H. noch dessen drei Freunde, die allesamt der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beschuldigt werden. Doch auch sein Mandant soll der "m.g." angehören. Er wurde auch am 31. Juli, wenige Stunden vor Andrej H., verhaftet. Fahnder hatten ihn und zwei Freunde observiert, als sie in Brandenburg/Havel Brandsätze unter drei Bundeswehr-Lastwagen platzierten. Die Zünder konnten entschärft werden, ein Schaden entstand nicht.
Versuchte Brandstiftung wäre da schlimmstenfalls drin, sagt Anwalt Lindemann. Da die drei festen Wohnsitz und Arbeit haben und auch nicht vorbestraft sind, würden sie mit einer Bewährungsstrafe davon kommen. Theoretisch.
Praktisch aber glaubt die Bundesanwaltschaft, nach sechs Jahren ergebnisloser Ermittlungen mit dem Fang von Brandenburg endlich einen Durchbruch in ihrem Kampf gegen die "m.g." geschafft zu haben. Hinsichtlich Anschlagziel, Tatzeit und Tatausführung reihe sich das fehlgeschlagene Attentat von Brandenburg in die Taten der "m.g." ein, heißt es in dem Haftbefehl gegen die verhinderten Brandstifter, die nun wie Andrej H. in Moabit in Einzelhaft sitzen. Außerdem habe einer der drei sich zweimal unter konspirativen Bedingungen mit Andrej H. getroffen.
Nach all dem, was bislang bekannt ist, erscheint das Vorgehen der Ermittler gegen die sieben angeblichen "m.g."-Aktivisten von einer kruden Logik bestimmt: Weil Andrej H. als Rädelsführer der "m.g." verdächtigt wird, müssen Personen, die mit ihm in Kontakt stehen und Anschläge verüben, auch der "m.g." angehören. Gleichzeitig müssen die Anschläge der anderen als Indiz dafür herhalten, dass Andrej der "m.g." angehört, obwohl es bislang dafür keine Beweise gab. Juristen nennen so etwas einen unzulässigen Zirkelschluss.
Der Verdacht gegen H. gründet sich auf vage Indizien: Die Konspiration beim Treffen zwischen Andrej und einem der Brandstifter drückte sich unter anderem darin aus, dass sich die beiden am Telefon nur mit Spitznamen ansprachen und bei Verabredungen Zeit und Ort der Treffen unerwähnt ließen. Als Beleg für die Vermutung, dass Andrej H. Mitverfasser früherer Bekennerschreiben und somit einer der geistigen Anführer der "m.g." sein soll, führt die Bundesanwaltschaft unter anderem an, dass eine von H. "veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung (.) Schlagwörter und Phrasen (enthält), die in Texten der ‘militanten gruppe' ebenfalls verwendet werden". Die Häufigkeit der Überschneidungen "sei auffallend". Auch stünden H. "als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung von Texten der ‘militanten gruppe' erforderlichen Recherchen durchzuführen".
Zu den der Bundesanwaltschaft aufgefallenen Überschneidungen zwischen "m.g."-Schreiben und wissenschaftlichen Arbeiten von Andrej H. gehört das Wort "Gentrification". Der englische Begriff, zu deutsch Veredelung, ist seit Jahren ein Schlagwort unter kritischen Metropolenforschern und Stadtplanern. Es beschreibt die tiefgreifende Veränderung sozialer Milieus in einzelnen Stadtteilen, die durch die Umwandlung billiger Wohnquartiere in luxussanierte Edeladressen entsteht. In Ost-Berlin konzentrierten sich vor allem in den neunziger Jahren solche Gentrification-Debatten auf den Stadtbezirk Prenzlauer Berg.
Andrej H. hat sich damals mit seinen Freunden im Kampf gegen die Umstrukturierung des Prenzlauer Bergs engagiert. "Wir haben Proteste gegen die Sanierungen organisiert, haben für eine behutsame Stadterneuerung demonstriert, eine Kampagne gegen die geplante Aufhebung der Mietpreisbindung im Osten gestartet", erinnert sich einer der Freunde vom Andrej H. "Das war konkrete Kommunalpolitik, die uns und unsere Arbeit bis heute prägt."
Wir sitzen in einem Café in Berlin-Mitte. Der Freund möchte seinen Namen nicht veröffentlicht sehen, denn auch er gehört wie Andrej H. zu den angeblichen Staatsfeinden von der "m.g.", gegen die die Bundesanwaltschaft seit knapp einem Jahr ermittelt.
Er sagt: "Ich weiß jetzt, die haben mich ein Jahr lang ständig beobachtet, meine Telefone abgehört, genau aufgeschrieben, wann ich mich mit wem wo getroffen habe." Die Indizien, die von der Bundesanwaltschaft gegen ihn ins Feld geführt werden, sind ähnlich fragwürdig wie bei seinem Freund Andrej H.. Da ist ein Artikel, den der Mann vergangenes Jahr in der Zeitung "Junge Welt" über eine Konferenz im Kreuzberger Mehringhof verfasst hat. Bei der Abschlussdiskussion der Konferenz ging es unter anderem um einen Anschlag der "Bewegung 2. Juni" von 1972 auf einen Yachtclub in West-Berlin. Er erwähnte diesen Anschlag in seinem Artikel - wenige Monate zuvor war auch die "m.g." in einem Pamphlet auf dieses Attentat eingegangen.
Das zweite Indiz: Der Freund von Andrej H. hatte beruflichen Kontakt zu einem Berliner, dem die Bundesanwaltschaft seit Jahren vergeblich eine Mitgliedschaft in der "m.g." nachzuweisen versucht. Als drittes Indiz gegen ihn gelten seine "vielfältigen Kontakte in die linksextremistische Szene von Berlin". Lächerlich, sagt der Freund von Andrej H. "Ich lebe seit fast zwei Jahrzehnten in der linken Szene. Wen ich da alles kennengelernt habe."
Er bemüht sich, beherrscht zu wirken. Aber unter der Oberfläche ist seine Unsicherheit zu spüren, seine Angst, wie sein Freund Andrej ins Gefängnis zu kommen.
"Wir sind seit der Wendezeit zusammen, haben uns damals in der Vereinigten Linken kennengelernt", erzählt er. Die Ost-Berliner schlossen sich in den frühen Neunzigern den Hausbesetzern an und tauchten in die Autonomen-Szene im Westen ein. "Die radikale Linke, Mainzer Straße, das ganze Programm", sagt der Freund. Aber die wilden Zeiten liegen lange zurück, fügt er hinzu, schon Mitte der Neunziger habe man sich in einem Dreieck zwischen Autonomen-Szene, PDS und Bürgerbewegungen bewegt. "Wir sind längst ruhiger geworden. Wir haben studiert, zwei haben einen festen Job, wir haben Familie oder eine feste Beziehung." Natürlich führten sie nach wie vor politische Diskussionen, sie publizierten viel, auch gemeinsam. Was sie heute machten, sei aber mehr konkrete politische Arbeit.
"Wenn ich an Andrej in Moabit denke, wenn ich mir vorstelle, dass auch mir das von einem Tag auf den anderen passieren kann", sagt der Freund leise. "Dann ist die Zelle wieder da. Die Wände, das kleine Fenster, die Stille. Diese Enge."
1989 war das, am 7. Oktober in Ost-Berlin. An der Ecke Prenzlauer Allee/Dimitroffstraße hatten sie ihn gekriegt. Zusammen mit anderen Demonstranten, die an diesem Abend gewaltlos gegen das SED-Regime protestierten, wurde er auf Polizeilaster geworfen. Er kam in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Normannenstraße. Anderthalb Tage saß er dort. "Ich wusste nicht, was mit mir wird, wo sie mich hinschaffen." Gerüchte habe es damals gegeben, von einem Internierungslager. "Und du sitzt da drin, in dieser engen Zelle, allein mit deinen Gedanken, mit deiner Angst."
Jetzt steigt dieses Gefühl von damals wieder auf. Er sitzt zwar nicht in einer Zelle, es gibt Anwälte, die sich um ihn kümmern, Freunde, die für ihn und Andrej und die anderen demonstrieren wollen. "Aber die Angst ist trotzdem da", sagt er. "Du weißt, die haben was gegen dich konstruiert, das absurd ist, völlig aus der Luft gegriffen. Aber was ist, wenn sie damit durchkommen?"