Dr. Holm kennt böse Wörter
Wie wird man, ohne es zu merken, zum Terroristen? Und wie humorvoll ist der überwachende Staatsschutz? Fragen, auf die ein Berliner Paar Antworten kennt.
Ein Mehrfamilienhaus irgendwo in Ostberlin, unweit der ehemaligen Mauer: Hinter dem Haus hat es einen lauschigen Garten, übersät mit Kinderspielzeug. Am Gartentisch sitzen Dr. Andrej Holm, Soziologe und Terrorverdächtiger, sowie seine Lebenspartnerin, die Politologin Anne Roth. Eben haben sie ihre zwei kleinen Kinder zu Bett gebracht. Die sollen nicht mit anhören müssen, wie ihre Eltern schon wieder über Polizei, Terrorverdacht und Überwachung Auskunft geben.
Denn genau damit hat sich das Paar in den letzten Monaten intensiv auseinandersetzen müssen. Die beiden wissen nämlich, dass sie vom Bundeskriminalamt (BKA) überwacht werden. Die Beamten vom Staatsschutz halten ihn, Holm, für den intellektuellen Drahtzieher der linksradikalen «Militanten Gruppe» (MG). Anne Roth wiederum bezeichnet sich selber als «Kollateralschaden». Gegen sie läuft zwar kein Verfahren, als Partnerin von Holm ist sie aber ebenso von der totalen Überwachung betroffen.
Die totale Überwachung? Heisst das, dass wir jetzt, während des Interviews, auch überwacht werden? «Irgendwo dort drüben hat oder hatte es eine Überwachungskamera», sagt Holm und zeigt in die Richtung, wo früher die Mauer stand. «Die Bäume haben aber auch im letzten Frühling Blätter bekommen und das Sichtfeld der Kamera eingeschränkt.» Sofern die es nicht geschafft hätten, eine neue Kamera zu installieren, würden sie uns jetzt auch nicht sehen. Holm ist aber «ziemlich sicher», dass die Telefongespräche abgehört worden sind, die nötig waren, um das Interview zu vereinbaren.
Holm sagt das ganz ruhig und ohne Eile. Überhaupt gibt er ausführlich Auskunft, stets darauf bedacht, Missverständnisse zu vermeiden. «Das ist eine Folge des Verfahrens, das auf Missinterpretationen beruht», sagt der 38-Jährige schon fast entschuldigend und beginnt «seinen» Fall zu erklären.
Ein «ergoogelter» Verdacht
Seit 2001 macht die linksradikale Militante Gruppe mit Brandanschlägen in und um Berlin auf sich aufmerksam. Die Behörden kommen angesichts fehlender Ermittlungserfolge im Herbst 2006 auf die Idee, Wörter aus den Bekennerschreiben der MG im Internet zu suchen. Und siehe da: Treffer! Neun Begriffe wie «marxistisch-leninistisch» oder «Reproduktion» sind auch in einem Artikel enthalten, der 1998 in einer linken Berliner Zeitschrift erschienen ist, verfasst von einem Wissenschaftler, Dr. Matthias B.
Auch Andrej Holm, als auf Stadtentwicklung spezialisierter Soziologe, benutzt in seinen Arbeiten mitunter wissenschaftliche Begriffe. Zum Beispiel «Gentrifizierung», das «einen stadträumlichen Aufwertungsprozess der Bau- und Sozialstruktur bezeichnet, der mit der Verdrängung der vorher dort lebenden Bevölkerung einhergeht», wie Holm dem Laien erklärt. Und ebendieses Wort ist auch in einem Bekennerschreiben der MG aufgetaucht. Das sei an sich kein Wunder, sagt Holm, gerade in Berlin sei die Stadtentwicklung seit den achtziger Jahren ein heiss diskutiertes Thema - auch in militanten Kreisen.
Dem BKA genügen jedoch diese begrifflichen Übereinstimmungen sowie die Tatsache, dass sich Holm, Matthias B. und zwei mitverdächtige Wissenschaftler in der linken und autonomen Szene von Berlin bewegen, um ein geheimes Ermittlungsverfahren gegen die vier einzuleiten. Und zwar nicht irgendein Verfahren, sondern eines wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung nach Artikel 129a des Strafgesetzbuches.
Sechs Monate später liegt den Behörden ein linguistisches Gutachten vor. Es ergibt keine Hinweise darauf, dass die Bekennerschreiben von den Wissenschaftlern geschrieben worden sind. Doch da ist es schon zu spät, das Verfahren «ist eskaliert», wie sich Holm ausdrückt.
Observierte Altglasentsorgung
Die ErmittlerInnen des BKA haben längst damit begonnen, Telefonate abzuhören. Und zwar nicht nur diejenigen der Verdächtigen, sondern auch die Anschlüsse von Menschen aus deren näherem Umfeld. Die Beamten lesen E-Mails mit und protokollieren, wer welche Websites besucht. Nach drei Monaten werden die Massnahmen ausgeweitet, verdeckt arbeitende Observationsteams beschatten Holm nun rund um die Uhr. In den Akten kann man heute minutengenaue Protokolle nachlesen. Da steht dann etwa, wie Dr. Holm mit den Kindern zum Altglascontainer geht, um Altglas zu entsorgen. Fast ein Jahr lang merken die Betroffenen nichts von all dem.
Dann, am frühen Morgen des 31. Juli 2007, steht die Polizei mit gezogenen Waffen in der Wohnung und nimmt Holm fest. Im Haftbefehl steht der Grund: Andrej Holm sei intellektuell in der Lage, die «anspruchsvollen Bekennertexte» der Militanten Gruppe zu schreiben. Zudem habe er als Forscher die Möglichkeit gehabt, unauffällig die dazu notwendigen Recherchen in Bibliotheken zu tätigen. Dass die anderen drei observierten Wissenschaftler nicht verhaftet werden, hat damit zu tun, dass sich Holm ausserdem «konspirativ» mit einem gewissen Florian L. getroffen habe. Konspirativ sei das Treffen gewesen, weil sich die beiden über Internetcafés verabredet und keine Mobiltelefone mitgenommen hätten. Die daraufhin eingeleitete Überwachung von Florian L. habe dazu geführt, dass dieser fünf Monate später, in der Nacht zum 31. Juli, in flagranti erwischt worden sei, als er versucht habe, mit zwei anderen Männern Fahrzeuge der Bundeswehr in Brand zu setzen.
So weit die «Beweislage», nach einem Jahr Überwachung. In den Augen des BKA ist der Fall geklärt: Holm ist der intellektuelle Kopf der Militanten Gruppe, die Florian L. und die anderen zwei in flagranti Ertappten sind «die Ausführenden». Letztere sitzen knapp vier Monate in Untersuchungshaft, Holm drei Wochen. Als Holm freigelassen wird, geben sich die ErmittlerInnen plötzlich nicht mehr die Mühe, verdeckt zu observieren. «Die haben sich wie selbstverständlich neben uns ins Café gesetzt oder haben ihre Meldungen an die Zentrale am Telefon neben mir stehend abgegeben», sagt Holm. Das sei dann wohl eine Strategie der Einschüchterung gewesen.
Ja keinen Verdacht erwecken
«Über lange Zeit beherrschte mich die pure Fassungslosigkeit», sagt Anne Roth. Wochenlang habe sie das Gefühl gehabt, sie stecke nicht im eigenen Körper, sondern schaue sich selber durch eine Glasscheibe von aussen zu. «Die Überwachung weckt ein Gefühl von Ekel, das du fast körperlich spürst.» Die Vorstellung, dass es Wanzen oder Kameras in der Wohnung haben könnte, sei besonders schlimm. Aber ob diese wirklich platziert worden sind, darauf würden die ausgehändigten BKA-Verfahrensakten keine Antwort geben, obwohl sie dreissig Bundesordner umfassen. «Unsere Anwälte schätzen, dass das nur zehn oder fünfzehn Prozent der gesamten Akten sind», sagt Holm.
Aufgrund des Aktenstudiums haben Holm und Roth aber eine Ahnung davon, mit welcher Logik das BKA ihren Alltag interpretiert: «Es ist ein ziemlicher Schock zu sehen, dass Menschen dein Leben in einer Art und Weise aufschreiben, wie du es selber nie geführt hast», sagt Holm. Wenn er am Telefon zu einem Kollegen sage: «Treffen wir uns morgen wieder in der Kneipe, wie immer», dann interpretiere dies das BKA als konspiratives Treffen, da weder Ort, Zeit noch Grund des Treffens am Telefon explizit genannt werden. Alles, was er tue oder nicht tue, werde gegen ihn ausgelegt, so Holm: «Wenn ich mich ganz privat mit Leuten treffe und wir nicht über politische Themen reden, dann sagen die, wir würden uns konspirativ benehmen.» Dies, weil er, in den Augen des BKA, eben gerade absichtlich dieses Thema ausspare, was dann in den Akten wieder als Verdachtsmoment erscheine. Alles in allem sei hier die Unschuldsvermutung ausser Kraft gesetzt, alles was nicht hundert Prozent klar sei, werde gegen ihn und die anderen Verdächtigen ausgelegt, sagt Holm.
Im Wissen um diese Situation verändere sich automatisch das Kommunikationsverhalten, sagt Anne Roth: «Du hast immer diese Sprechblase im Gehirn, überlegst dir, was die jetzt wohl denken, wenn ich dies oder jenes sage.» Fast automatisch kommentiere sie innerlich mit, wie ihr Verhalten wohl in den Akten aufgeschrieben werde. Da sei man dann «nahe davor, ein bisschen verrückt zu werden», zumal es unmöglich sei, die Präsenz des BKA auch nur vorübergehend auszublenden.
Ironie am Telefon ist tabu
Ironie und Sarkasmus am Telefon seien heute tabu, sagt Roth: «Mit dem Wissen, wie bescheuert das BKA Telefonate interpretiert, kann das gefährlich werden.» Man glaubt zu erahnen, wie viel Mühe es ihr selber bereitet, darauf zu verzichten. Sie, die sich mit sichtlichem Vergnügen im Gespräch immer wieder über die ErmittlerInnen lustig macht. «Teilweise sind die Sachen, die wir erleben, ja auch wahnsinnig komisch - wenn sie nur nicht so ernste Konsequenzen hätten», so die Vierzigjährige. Eine dieser Episoden ereignet sich kurz nach der Haftentlassung von Andrej Holm. Er verabredet sich telefonisch mit seinen Eltern zu «Kaffee und Kuchen». Dabei sagt Holms Mutter, man müsse dann bei der Gelegenheit auch den Inhalt des «schwarzen Beutels» besprechen. Das BKA, das natürlich mithört, will unbedingt wissen, was sich in dem Beutel befindet. Es lässt deshalb während einer Woche auch die Eltern von Holm observieren, mit dem Ziel zuzuschlagen, sobald diese mit dem Beutel ihre Wohnung verlassen. «Da waren sie dann aber überfordert und konnten die beiden älteren Herrschaften nicht auf der Strasse anhalten», sagt Roth. Stattdessen werden dann halt die Wohnung von Roth und Holm ein zweites Mal durchsucht und der schwarze Beutel unter die Lupe genommen. Darin entdeckten die ErmittlerInnen zwei Ordner mit Kopien der BKA-eigenen Akten, die während der Untersuchungshaft Holms Anwältin ausgehändigt worden sind.
Diese und ähnliche Episoden erzählt Roth auch in ihrem Blog (annalist.noblogs.org) und gibt dabei den LeserInnen Einblick in ihr Privatleben. So kann man etwa lesen, dass die Familie kürzlich Ferien in der Schweiz und in Italien verbracht hat. «Die Vorstellung, jetzt Teile meines Alltags einer Öffentlichkeit, die ich nicht kenne, zu präsentieren, hätte ich früher absurd gefunden», sagt Anne Roth dazu. Nun stünden sie aber auf einer öffentlichen Bühne, und viele Leute, die sie auf die eine oder andere Weise unterstützt hätten, hätten auch ein Recht auf Informationen. Das Bloggen habe einen psychohygienischen Effekt, es sei einfacher, mit dem Erlebten fertig zu werden, wenn sie es aufschreibe. «Ausserdem kriege ich so Feedback von einer Menge von Leuten, die mir bestätigen, dass nicht wir spinnen, sondern die anderen.»
Überhaupt haben sich Andrej Holm und Anne Roth entschieden, die Öffentlichkeit zu suchen, an Veranstaltungen und gegenüber den Medien über ihre Erfahrungen zu sprechen, um «darauf hinzuweisen, dass das kein Einzelfall ist», wie Holm betont. Es sei darum gegangen, eine allgemeine Kritik an der Anti-Terror-Hysterie und der Verschärfung der entsprechenden Gesetze aufzuzeigen, was auch gut gelungen sei.
Inzwischen hat es zwei bedeutende Entscheide des Bundesgerichtshofes in diesem Fall gegeben. Zum einen wurde Holms Haftbefehl formell aufgehoben. Das Gericht stellte fest, dass die vom BKA gesammelten Indizien nicht für eine Inhaftierung ausreichen würden. Im zweiten Entscheid urteilten die RichterInnen, die Militante Gruppe sei keine terroristische Organisation, sondern eine kriminelle Vereinigung.
Überforderte RichterInnen
Trotz dieser Entscheide läuft das Verfahren gegen Holm und die Mitverdächtigen weiter. Nur das BKA kann es beenden, und bis es so weit ist, wird wohl weiter überwacht. Überhaupt stellt sich die Frage, wieso ein Ermittlungsrichter über die ganze Zeit hinweg diese Überwachungsmassnahmen bewilligt hat. Andrej Holm: «Die Richter haben vermutlich gar keine Zeit, die Akten ausführlich anzuschauen.» Es bestehe natürlich ein Vertrauensverhältnis zu den Ermittlungsbehörden, womit deren Begründungen einfach übernommen würden. «Zudem müssten die Richter ja ihre eigene Entscheidung infrage stellen, wenn sie die von ihnen bewilligten Massnahmen nicht verlängern wollten», sagt Holm.
Dann, am Ende des Gesprächs, noch eine ganz grundsätzliche Frage: Ist es überhaupt möglich, dass das BKA an seine eigenen Szenarien glaubt? Ganz ausschliessen will dies Anne Roth nicht. «Eine These ist aber, dass es ihnen nicht um eine Verurteilung geht, sondern eher darum, Daten über linke Zusammenhänge zu sammeln.»