Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität. Ein politisches Verhältnis zur Repression entwickeln

„Uns fehlt nicht der Mut, uns fehlt nicht die Kraft
Uns fehlt nicht die Zeit, uns fehlt nicht die Macht
Was wir wollen, können wir erreichen
Wenn wir wollen, stehen alle Räder still
Wir haben keine Angst zu kämpfen
Denn die Freiheit ist unser Ziel
Alles was uns fehlt, ist die Solidarität.“
(aus: „Solidarität“, von Ton Steine Scherben, 1971)

In der Tat hört sich der Song heute wie eine kulturoptimistische Intervention an: „Denn die Freiheit ist unser Ziel.“ Die heutige Realität stellt sich anders dar: das Einstellungsbündnis existiert seit August 2007, nachdem am 31. Juli 2007 die drei Angeklagten Axel, Florian und Oliver in Brandenburg sowie Andrej in Berlin festgenommen worden waren. Im Bündnis versammelten sich Angehörige, FreundInnen und KollegInnen der Festgenommenen sowie Beschuldigte aus früheren mg-Verfahren, die bereits seit Jahren mit Überwachungsmaßnahmen überzogen wurden. Axel, Florian und Oliver stehen seit September 2008 vor einem Staatsschutzsenat, mit der Perspektive einer Verurteilung zu Knast wegen versuchter Brandstiftung an Bundeswehrfahrzeugen und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (mg). Von den 13 uns bekannten Ermittlungsverfahren wurden acht inzwischen eingestellt.

Das Einstellungsbündnis hat von Anfang an Gegenöffentlichkeit zu den Ermittlungsverfahren geschaffen, eine Vielzahl größerer und kleinerer Veranstaltungen organisiert, mit den AnwältInnen Kontakt gehalten, diese Zeitung und eine Prozessbegleitung organisiert. Die Website http://einstellung.so36.net gibt Einblicke in den Prozess und die Soliarbeit – unsere Gegensicht zu den Blickwinkeln von Bundesanwaltschaft (BAW) und Gericht und unsere Haltung zu dieser Art von politischer Justiz.

Strasbourg, Tarnac, 1. Mai, Alexandra – Die Repression schlägt zu

Die Soliarbeit im Rahmen der mg-Verfahren ist ein aktuelles Beispiel für Solidaritätsarbeit zu politischen Verfahren, bei Weitem aber nicht das Einzige. Seit Prozessbeginn sind diverse weitere Solidaritätsgruppen in Berlin entstanden.

So gründete sich nach der Anti-NATO-Mobilisierung nach Strasbourg das Solidaritätsbündnis breakout! Es unterstützt Leute, die während der Demonstrationen und Blockaden in Strasbourg inhaftiert wurden, mit Öffentlichkeitsarbeit, Geld, Information und Kontakt. Mit Frankreich verbindet uns auch ein Verfahren gegen französische AktivistInnen aus Tarnac. Ihnen wird vorgeworfen, mit Hakenkrallen Züge blockiert zu haben. Die AktivistInnen sind inzwischen alle freigelassen, ermittelt wird jedoch weiter, auch in Deutschland. So wurden im Juli in Berlin ZeugInnen vor die Staatsanwaltschaft geladen.

Nach dem 1. Mai 2009 gab es in Berlin die Notwendigkeit, die 19 Personen, die bei den Demonstrationen inhaftiert wurden, zu unterstützen. Außerdem gründete sich die Soligruppe Free Alexandra, nachdem die Berliner Polizei unter dem politischen Druck, endlich Fahndungserfolge gegen das Anzünden von Autos vorzuweisen, im Mai 2009 eine junge Frau aus Friedrichshain festnahm.

Solidarität! - Unsere Antwort auf Repression

Warum engagieren sich überhaupt Leute in Soligruppen? Das fragten wir uns und andere Solidaritätsgruppen in der Stadt. Antworten darauf könnte ihr in verschiedenen Beiträgen in dieser Zeitung finden.

Antirepressionsarbeit scheint ein recht unbeliebtes Feld der politischen Arbeit zu sein und, so heißt es, mobilisiere nicht. Aus unserer Sicht können wir aus politischen Prozessen viel über die totalitären Kerne der Demokratie lernen.

Solidarität ist für uns eine Bedingung für die Organisierung jenseits der herrschenden Verhältnisse. Sie richtet sich gegen den Mainstream von Individualisierung und Konkurrenz. Zu wissen, dass man nicht allein sein wird, wenn die Repression zuschlägt, verbessert die Handlungsfähigkeit in einer linken Bewegung. Wenn wir vor Gericht gebracht werden oder in den Knast, brauchen wir Unterstützung und Kraft, um einen gangbaren Weg zu finden, der mit der eigenen Haltung vereinbar ist. Wenn wir im Knast sitzen, brauchen wir Leute, die sich draußen kümmern – verbindlich, praktisch und politisch.

Solidaritätsarbeit verteidigt die Möglichkeit, zur eigenen linken oder linksradikalen Haltung zu stehen und den Kopf oben zu behalten! Denn die Repression ist das „Berufsrisiko“ von AktivistInnen.

Solidarität ausdrücken!

Zu den 1. Mai-Gefangenen in Berlin gab es am 5. Juni 2009 eine Kundgebung vor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit, am 12. Juni vor der JVA Plötzensee. Beide Kundgebungen waren schwach besucht. Die Polizei konnte ihre Macht völlig ausspielen: In Berlin wird z.B. regelmäßig durch Auflagen verboten, bei Knastkundgebungen die Gefangenen via Lautsprecherwagen zu grüßen. Das ist nicht nur eine Einschränkung des Demonstrationsrechts, sondern auch ein Schritt zur Isolation der Gefangenen.

Etwa zehntausend Menschen waren in diesem Jahr auf den Berliner 1. Mai-Demonstrationen. Einige wurden festgenommen und sind zum Teil noch inhaftiert. Es hätte aber jeden und jede an diesem Tag treffen können. Die Leute sind primär deshalb im Knast, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren oder nicht schnell genug weg kamen. Deshalb ist es falsch, dass selbst in Teilen der Linken die Frage der Solidarität mit der Sinnhaftigkeit von Aktionen während der Demos verknüpft wird. Zwar ist diese Debatte dringend notwendig, aber sie ist unabhängig von dieser Frage zu führen. Leider passiert dies nicht. Stattdessen werden die Gefangenen stellvertretend verantwortlich gemacht.

Das Fazit nach drei Knastkundgebungen zu den Berliner 1.-Mai-Gefangenen ist nicht sehr erfreulich. Wenn von den mehr als zehntausend Menschen, die auf die Mai-Demos gegangen sind, nur wenige zu einer Knastdemo kommen, dann wird Solidarität zu einer Phrase. Auch die Demovorbereitungen zum 1. Mai sollten auf die unweigerlich folgende Repression besser vorbereiten. Was sich an diesem Beispiel auch noch zeigen lässt: Mensch muss schon draußen gut vernetzt sein, wenn er/sie im Knast Solidarität will.

Auch das Einstellungsbündnis knabbert an Problemen der Solidaritätsarbeit: Gegen Ende des Prozesses ist das Bündnis zusammengeschmolzen. Alltag, Arbeit, WG oder Familie verlangen ihren Tribut, andere Themen werden spannender als Solidaritätsarbeit. Differenzen bahnen sich ihren Weg.

Den einen gefällt das Verhalten der Angeklagten nicht; ihr Handeln scheint individuell. Sie sind keine Helden, sondern Menschen mit einer Menge Widersprüche. Das enttäuscht die eigenen Erwartungen und Projektionen von sich politisch korrekt verhaltenden Angeklagten. Die anderen haben Probleme mit einer Solipolitik, die sich nicht grundsätzlich von der mg abgrenzt, und wollen sich mit deren Inhalten nicht auseinandersetzen. „Solidarität hat Grenzen“, wird konstatiert, damit werden politische Differenzen zum Ausschlusskriterium. „Solidarität ist unteilbar!“ meinen wir und versuchen damit, der Vielfalt linker und linksradikaler Praxen gerecht zu werden. Das Aufgreifen der kriminalisierten Themen wie aktiver Antimilitarismus gehört ebenfalls dazu.

Von der Unschuld zur politischen Dissidenz

Während der Prozessverlauf für die bürgerliche Presse relativ uninteressant ist, wird über skandalöse Überwachung und Bürgerrechtsverletzungen anhand des Falls des verfolgten Wissenschaftlers Andrej weiterhin berichtet. Diese finden vorwiegend im Kontext eines „unschuldig Verfolgten“ Eingang in die Medien wie z.B. in die ZDF-Dokumentation „Der gläserne Mensch“. Ähnlich wird in der Kino-Kurzfilmsammlung „Deutschland 09“ in dem Beitrag „Gefährder“ von Hans Weingärtner die Überwachung und Festnahme des politisch aktiven Wissenschaftlers in Spielfilmform aufgegriffen, die Arbeitsmethoden von Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt werden demonstriert – die drei Angeklagten, die im selben Zusammenhang festgenommen wurden, sind jedoch vollkommen ausgeblendet. Sie passen aufgrund ihrer Festnahme in der Nähe eines „Tatorts“, an dem versucht wurde, Bundeswehr-LKWs anzuzünden, nicht in die Unschuldskonstruktion des Films.

An diesen Punkten tun sich Kontroversen in der Solidaritätsarbeit auf: Sind das sinnvolle Ansätze für eine Kommunikation über die radikale Linke hinaus, oder werden damit Aus- und Abgrenzungsmechanismen zu Leuten verstärkt, die aus Überzeugung und politischer Analyse aktiv legale Grenzen übertreten? Ist das Solidarität „light“ oder vielleicht doch „zero“?

Von Anfang an nicht für das Fernsehen produziert ist ein Film mit Interviews, die auf einer Demo gegen den Afghanistan-Krieg aufgenommen wurden (http://einstellung.so36.net/de/1127). Die interviewten DemonstrantInnen beziehen sich solidarisch auf die Angeklagten und die ihnen vorgeworfenen Sachbeschädigungen, auf Interventionen gegen Krieg und Kriegsmaterial. Die Interviewten stellen die politische Notwendigkeit in den Vordergrund, sich gegen den inzwischen ganz alltäglichen Zustand des globalen Kriegführens auch ganz persönlich zu engagieren. Denn Krieg ist Terrorismus und nicht der Kampf dagegen. Sie bringen ein politisches Verhältnis zu den inkriminierten Themen und zur Repression zum Ausdruck und sind auf dieser Basis solidarisch. Wenn es uns gelänge, mit solchen Haltungen einen Sendeplatz im Zweiten zu bekommen, wären wir alle einen Schritt weiter!

In diesem Sinne: Alles, was zählt, ist die Solidarität!

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