Bericht vom sechsten Prozesstag (16.10.08)
Alles oder nichts!
Der Vorsitzende Hoch verkündete, dass die ZeugInnen ab dem heutigen Verhandlungstag drei Meter weiter hinten sitzen werden, damit die Verteidigung ihre Mimik und Gestik während der Vernehmung mitverfolgen kann.
Rechtsanwalt Schrage gab eine Erklärung zu dem geringen Beweiswert der Behördenzeugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ab. Die behauptete Mitgliedschaft seines Mandanten in linksextremistischen und gewaltbereiten Strukturen diene seiner öffentlichen Stigmatisierung. Weiterhin stellte RA Schrage den Informationsgehalt der allgemein nachrichtenehrlichen und zuverlässigen Quelle in Frage. Daran würde deutlich, dass das Verfahren durch das BfV gesteuert wird.
Dann begann die Vernehmung der Zeugin KHKin Ulrike Alles, 40 (BKA Meckenheim, Polizeilicher Staatsschutz Abteilung ST 14). Sie ist Verfahrensführerin im mg-Verfahren seit Oktober 2006. Sie war auch an Einzelmaßnahmen im RZ Verfahren beteiligt. Im derzeitigen Verfahren trug sie Ermittlungsergebnisse ihrer KollegInnen in Berichten zusammen. Daher konnte sie bei Nachfragen häufig keine näheren Angaben machen.
Zuerst skizzierte Zeugin Alles wie die einzelnen Angeklagten, der Reihe nach, ins Visier der Ermittler gerieten. Florian L. geriet in die Ermittlungen nach einem Treffen mit einem Beschuldigten aus einem weiteren mg-Verfahren. Jedoch konnte seine Identität erst bei einem zweiten Treffen mit dem Beschuldigten, zwei Monate später, ermittelt werden. Die Verteidigung stellte klar, dass bei der Überwachung von Florian L. nur der Vordereingang seines Wohnhauses 24 Stunden am Tag videoüberwacht wurde, nicht jedoch der Hinterausgang. RA Lindemann fragte die Zeugin Alles wieso in dem Vorführungsbericht von Florian L. der Besuch eines Internetcafes vermerkt sei. Die Zeugin Alles konnte in ihrer Aussage die aufgeführten Zweifel nicht ausräumen. Ein genauer Observationsbericht über diesen Internetcafebesuch fehle entweder in der Akte, oder die Zeugin habe ihren Bericht „angedickt“, so RA Lindemann. Auf die Nachfrage, ob bei der Observierung seines Mandanten, am 09.05.07 auch ein IMSI-Catcher verwendet wurde, wollte die Zeugin nicht antworten, da dies nicht von ihrer Aussagegenehmigung gedeckt sei. Daraufhin wurde angeordnet, dass sie telefonisch bei ihrem Dienstherren nachfragen solle. Nach dem Telefonat hielt sie aber daran fest, dazu keine Aussage zu machen. (IMSI-Catcher sind Geräte, mit denen die auf der Mobilfunk-Karte eines Mobiltelefons gespeicherte International Mobile Subscriber Identity (IMSI) ausgelesen und der Standort eines Mobiltelefons innerhalb einer Funkzelle eingegrenzt werden kann. Auch das Mithören von Handy-Telefonaten ist möglich.)
Aufgrund der umfassenden Observierung von Florian L. wurde auch Oliver R. nach den Hausdurchsuchungen am 09.05.08 (G8-Gipfel und mg-Komplex) zu einem Beschuldigten. Nach Aussage der Zeugin hätten sich beide am 09.05.08 getroffen und konspirativ verhalten. Konspirativ aus Sicht des BKA ist, dass sich beide im Park getroffen haben und sich dabei mehrmals umgesehen haben sollen. Verteidiger Hoffmann warf ein, dass in anderen Verfahren sich „nicht zu treffen“ als konspirativ gewertet wurde. RA Lindemann fragte genauer welche konspirativen Begleitumstände bei dem Treffen von Florian L. und Oliver R. vorlagen. Die Zeugin sagte aus, dass in dem Observationsbericht stehe sie hätten sich umgesehen. Auf erneute Nachfrage musste die Zeugin allerdings einräumen, dass dies nicht aus dem Bericht hervorgeht, sondern aus einem Vermerk, der dem Bericht später hinzugefügt wurde. Der ursprüngliche Bericht, so die Zeugin Alles, berichtete nicht vom mehrmaligen Umdrehen der Observierten. Dies wurde erst nachträglich nach einer mündlichen Übermittlung einer nicht genannten Quelle hinzugefügt. Auf Nachfrage gab die Zeugin an, dass der Vermerk nach einem Anruf von Fr. Vanoni (BAW) erfolgte, die sie aufgefordert habe den Vermerk zu ergänzen.
Nach dem Treffen am 09.05.07 wurden auch gegen Oliver R. Maßnahmen (z.B. Telefonüberwachung) eingeleitet. Ein Telefonat zwischen Axel H. und Oliver R. gab den Ausschlag eine Observierung für den 31.07.07 zu veranlassen. RA Hoffmann stellte heraus, dass die Identifizierung der drei Personen erst bei deren Festnahme erfolgte. Dem musste die Zeugin zustimmen. Im Folgenden beschrieb die Zeugin die angebliche Fahrt der Angeklagten nach Brandenburg (Havel), die angeblich verwendeten Brandsätze und die anschließende Verhaftung, die von ihr angeordnet wurde. Auf Nachfrage musste die Zeugin ebenfalls aussagen, dass die Observierung des Fahrzeugs „kurzfristig außer Kontrolle“ geraten war und damit keine ununterbrochene Observierung stattgefunden hatte. Zeugin Alles konnte z.B. nicht ausschließen, dass Personen während der Fahrt ein- oder ausgestiegen sind. Auch die Überwachung des vermeintlichen Tatortes wies zeitliche Lücken auf, so dass der genaue Aufenthalt der drei Personen während des vermeintlichen Tatzeitpunktes nicht belegt werden konnte. Zu den Brandsätzen musste die Zeugin einräumen, dass es durchaus möglich sei, dass ein anderer Aufbau der Brandsätze verwendet worden sein könnte und nicht der vermeintliche „Nobelkarossentod“ wie in den Berichten der Beamten angenommen wurde.
Zahlreiche Durchsuchungen (Wohnungen, Arbeitsstellen, Wohnungen von Freundinnen, Tatort, Tatfahrzeug) und die Verhaftung einer weiteren Person wurden von Fr. Vanoni (BAW) angeordnet nachdem sie von KHKin Alles über die Verhaftung in Brandenburg informiert wurde. Neben vielen sichergestellten Asservaten waren nur einige für die weitere Vernehmung von Bedeutung. Bei Oliver R. ein Kassenbon über den Einkauf von Toppits 6 Liter-Gefrierbeutel und Haushaltshandschuhe; sowie ein Text im HTML-Format auf dem freien Speicher einer PC-Festplatte. Auf Nachfrage von Verteidiger Hoffmann räumte die Zeugin ein, dass in der Wohnung von R. weder Haushaltshandschuhe, noch Gefrierbeutel gesucht und gefunden wurden.
Bei Axel H. wurde ein Zettel mit Zugangsdaten von einem Mail-Account, der als klandestin eingestuft wurde, gefunden. Die Zeugin gab an, dass die Auswertung des Accounts keine weiteren Ermittlungsansätze ergab.
Die Zeugin Alles wurde von den Rechtsanwälten befragt, ob sie sich seit Beginn des Prozesses mit anderen Personen im BKA unterhalten habe. Ja, sie habe sich u.a. mit EKHKin Baumert und Kollege Leibniz über prozessuale Abläufe und über Prozessberichte, die auf Indymedia und der Einstellungsseite veröffentlicht sind, unterhalten. Daraufhin wurde ihr vorgehalten, dass sie als Zeugin unvoreingenommene Aussagen zu machen habe.
Verteidiger Lindemann nahm den Text der Selbstportrait-Gruppe zum Anlass die Differenzen zwischen BKA und BfV in den Ermittlungen zum mg-Komplex herauszustreichen. Aus Sicht des BfV ist die Selbstportait-Gruppe Vorläufer der mg. Somit werden nach dieser Ansicht der mg 38 Anschläge zugerechnet. Die Zeugin sagte aus, dass nicht sie selbst sondern Ermittlungsführer KHK Oliver Damm (BKA) zur Selbstportrait-Gruppe ermittelt habe. Bei der linguistischen Untersuchung der Bekennerschreiben durch das BKA sei keine Autorenidentität festgestellt worden. Auf Nachfrage warum sie dies aber so in ihren Bericht aufgenommen habe, ohne dafür eigene Erkenntnisse zu haben, mauerte die Zeugin. Musste dann aber zugeben, dass sie für die Erstellung ihres Berichtes Berichte anderer Kollegen verwendet hat. Die Frage, ob sie also aus den Berichten der Kollegen abgeschrieben habe, lies sie unbeantwortet.
Eine weitere Zeugin dieses Tages war KHKin Anja Radermacher, 40 (LKA, Berlin), die dazu befragt wurde, wie sie bei einer zweiten Durchsuchung der Wohnung von Florian L. einen Autoschlüssel für das Fahrzeug des Axel H. gefunden und beschlagnahmt hatte. Desweiteren wurde sie gefragt, ob sie am 12.12.2006 bei einem Tatort (Carsharing GmbH der DB, Prenzlauer Berg) anwesend war. Dort waren auch Fahrzeuge angezündet worden. Die Zeugin konnte aber nur aussagen, dass sie ein Mal an diesem Ort war, jedoch sei diese Firma mehrmals Ziel von Anschlägen gewesen.
Die Vernehmung der Zeugin Alles konnte an diesem Verhandlungstag nicht abgeschlossen werden. Fortführung ihrer Vernehmung am Donnerstag 30.10.08 um 10 Uhr.
Nächster Prozesstermin am Mittwoch, 29.10.08 um 9 Uhr.