Einmal Knast und zurück
Klaus Viehmann in Arranca!-Ausgabe 26
Rumms, und zu ist die Zellentür. Da sitzt du nun, hast die Festnahme überlebt, ärgerst dich, nicht besser aufgepasst zu haben, machst dir Sorgen, ob »sie« noch andere erwischen, überlegst, was an Strukturen auffliegen kann, ob schon ein Anwalt alarmiert ist – und lässt dir das natürlich nicht anmerken. Die Waffe, die falschen Papiere, die eigenen Klamotten, alles weg, der hinterhergeworfene Blaumann und die Schuhe zu groß – um dich zu ärgern oder weil sie »Terroristen« wirklich überlebensgroß wahrnehmen – du bist deines gewohnten Äußeren, mit dem du anderen gegenüber getreten bist, beraubt. Du siehst dich um und betrachtest deinen Lebensraum der nächsten Jahre.
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Welchen Sinn macht es heute, Jahre später, von Überlebensstrategien im Knast zu berichten? Lohnt die Mühe, seine Erfahrungen zu sortieren? Mühsam ist es wirklich, sie in Worte und Sätze zu bringen. Aber für womöglich kommende vergitterte Aufenthalte sind sie nützlich, und da Erfahrungen (politischer) Gefangener keine außergesellschaftlichen oder ahistorischen Skurrilitäten sind, können ihre Überlebensstrategien auch den Linken helfen, die ihren Alltag nur als wenig koordiniertes Durchschlagen (er)leben. Das Wesentliche zu sehen, den Alltag bewusster zu planen, seine politischen Energien sinnvoller einzusetzen sind Fähigkeiten, die überall von Nutzen sind. Überlebensstrategien sind etwas Persönliches (weswegen ich hier »du« anstelle von »man/frau« verwenden werde), aber nichts Egoistisches. Dass Emanzipation und Befreiung nicht in der Innerlichkeit einzelner Individuen stattfinden, sondern ein sozialer historischer Prozess sind, und »Freiheit, Unabhängigkeit in der Geschichte des Spätbürgers erst zum ›inneren Zustand‹ verkommen sind« (Peter Brückner), sollte als Grenze aller individuellen Überlebensstrategien bewusst sein. Erst mit der gesellschaftlichen Befreiung wird Überleben zu wirklichem Leben werden. Eine andere Geschichte, die kaum mehr im Knast spielen wird... Die Unverzichtbarkeit von Überlebensstrategien ist im Knast offensichtlicher, dort bist du ohne sie ein Spielball des Feindes. Es ist eine feindliche Umwelt und sie ist als solche geplant worden von Leuten, die dich als Feind ansehen, da mach dir nichts vor. In Knästen, gerade den alten Zuchthäusern, sind die Umstände meist unwirtlich und gelegentlich gewalttätig, aber es gibt immerhin soziale Strukturen. In Einzelhaft und den Hochsicherheitstrakten (HST) sollen soziale Beziehungen kontrolliert, gesteuert, abgeschafft werden. Isolation ist die Abwesenheit des Sozialen und die Anwesenheit deiner selbst. Du bist auf dich zurückgeworfen und musst damit klar kommen. Das geht, aber du kannst vorher nie wirklich wissen, wer den Knast gut übersteht und wer nicht. Jemand mit wenig Lebenserfahrung, geringer politischer Eigeninitiative, unklaren – womöglich egoistischen – Zukunftsvorstellungen wird es schwer haben. Ein abwechslungsreicher Lebensweg, auf dem der Knast nicht die erste härtere Station ist, Optimismus, auch wenn die Gegenwart mies ist, und die Fähigkeit, sich selbst nicht so wichtig nehmen, lassen dich besser durchkommen. Zwar meint Ernst Bloch, »wer sein Wissen nur aus Büchern bezieht, den stellt man am besten selbst ins Regal«, aber manches nur aus dem Regal ziehen zu können, sollte niemand bedauern. Ich habe keine Erfahrungen mit physischer Folter, mit Todesdrohungen oder Dunkelhaft. Persönliche oder literarische Schilderungen solcher Erfahrungen helfen jedoch, eigene Erfahrungen zu beurteilen und mit ihnen klarzukommen. Die sozusagen empirische Basis dieses Artikels sind 15 Jahre Knast, ab 1978 sieben in Einzel- und Kleingruppenhaft, gut fünf davon in den HST Moabit und Bielefeld, von 1986 bis zur Entlassung 1993 in »gesicherter Zelle« auf einer Durchgangsstation im ehemaligen Zuchthaus Werl mit täglich einer Stunde gemeinsamem Hofgang. Immer Besuchs- und Postüberwachung durch Staatsschutz, Anwaltsbesuch mit Trennscheibe, meist kein Einkauf, kein Besuch anderer Gefangener auf der Zelle, Einzelduschen, maximal 30 Bücher auf Zelle, ein eigenes Radiogerät, später seltener angehaltener Briefverkehr und fünf, sechs Zeitungs- und Zeitschriftenabos sowie 1991-93 die Genehmigung, zweimal die Woche auf dem Knasthof zu joggen. Das, was ich hier schreibe, ist die Quintessenz meiner Erfahrungen. Anders ausgedrückt: In den ersten fünf, sechs Jahren meiner Knastzeit lernte ich, mich die nächsten zehn an die in diesem Artikel zusammengefassten Überlebensstrategien zu halten...
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Zurück zum ersten Knasttag. An ihm siehst du nicht bis zum Tag deiner Entlassung 15 Jahre später. 5.500 Tage sind jenseits der Vorstellungskraft, sogar im Rückblick. Du siehst das fürs Überleben dort und jetzt Anstehende: Wo kriege ich was zu Lesen her, wo was zu Schreiben, wo verstecke ich Kassiber, wie ist der Rhythmus der Zellenkontrollen, in welchen Zellen sitzen die GenossInnen – es gibt viel zu tun und keine Langeweile. Außerdem weißt du, wieso du drin bist, ein unschätzbarer Vorteil gegenüber allen, die es aus heiterem Himmel trifft. Du bist aus einer radikalen Konfrontation heraus eingefahren und der Knast ist »nur« eine neue Etappe in einer Lebensperspektive, die du dir mit deiner Entscheidung, militante linksradikale Politik zu machen, selbst eingehandelt hast. Du hast zwar gerade den Kürzeren gezogen, aber der Knast ist ein neues Terrain und hier müssen sie dich erst mal klein kriegen. Exakt das willst du nicht zulassen und darum geht es im Prinzip vom ersten bis zum letzten Tag. Eine klare Sache und an klaren Fronten ist gut kämpfen. Du darfst dir nur nicht einreden lassen, es gäbe eigentlich gar keine klaren Fronten, und der »große Bruder« sei dein Freund. Ulrike Meinhofs Feststellung, »der Kampf der Menschen gegen die Macht ist der des Erinnerns gegen das Vergessen«, trifft auf den Punkt. Erinnerungsvermögen setzt eine politische und/oder moralische Überzeugung voraus. Wer sie verliert, will sich nicht mehr erinnern und versinkt in Selbstbespiegelung, Selbstmitleid und Orientierungslosigkeit. Auf dieser abschüssigen Bahn liegen Verzweiflung bis zum Selbstmord und politische Distanzierung bis zum Verrat. Einzelhaft und die Kontrolle der sozialen Kontakte (Briefe, Besuche, Informationen), du kannst es auch Gehirnwäsche nennen, sollen Vergessen und Egoismus befördern. Widerstandsbereitschaft, Solidarität, Verantwortung, Kollektivität und deine so strukturierte Persönlichkeit sollen auf der Strecke bleiben. Auch Hochsicherheitstrakte werden mit dem bürgerlich-kapitalistischen Prinzip Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste betrieben. Wer das annimmt, überlebt eigentlich nicht, sondern er/sie ist jemand anders geworden, nicht emanzipativ gewachsen anders, sondern regressiv entsozialisiert anders; die Folgen sind Entpolitisierung und Persönlichkeitszerfall. Wirkliches Überleben bedeutet, dich als ein menschliches Wesen zu erleben, das sozial, politisch, psychisch, emotional autonom und selbstverantwortlich ist. Dafür musst du die Isolation durchbrechen und dafür brauchst du Angelpunkte außerhalb der Zelle, in der du gerade sitzt. Wer von seiner Knastsituation nicht abstrahieren kann, sie nicht in ein größeres Kontinuum einzusetzen versteht, kann die Sinnfrage seiner gegenwärtigen Mühen nicht beantworten. Je enger der Horizont, desto lähmender und auswegloser die Angst um das eigene Schicksal. Jean Amery hat solche »Angelpunkte« anhand der extremsten Erfahrung, Auschwitz, beschrieben: »›Eines musst du doch einsehen‹, sagte mir einmal ein gläubiger Jude, ›dass eure Intelligenz und eure Bildung hier wertlos sind. Ich aber habe die Gewissheit, dass unser Gott uns rächen wird.‹ Ein deutscher, schon 1933 ins Lager geworfener linksradikaler Kamerad sagte kerniger: ›Da sitzt ihr nun, ihr bürgerlichen Klugscheißer, und zittert vor der SS. Wir zittern nicht, und wenn wir hier auch elend verrecken, so wissen wir doch, dass nach uns die Genossen die ganze Bande an die Wand stellen werden.‹ Beide überschritten sie sich selbst und projizierten sich in die Zukunft... Ihr Glaube oder ihre Ideologie gab ihnen jenen festen Punkt in der Welt, von dem aus sie geistig den SS-Staat aus den Angeln hoben.« Günter Anders hat das die »Paradoxie, dass aus der Hoffnungslosigkeit Hoffnung erwächst«, genannt. In der viel weniger gefährlichen Welt der BRD-Sicherheitsknäste richtet sich der Angriff kaum auf das physische Überleben, es gibt ausreichend Essen, Kleidung, Heizung und Waschgelegenheit – ein riesiger qualitativer Unterschied zu den Bedingungen in lateinamerikanischen Militärgefängnissen zum Beispiel. Trotz all dieser Unterschiede stellt sich dir im Knast die konkrete Frage, wie du dort als Mensch mit einer intakten Persönlichkeit überlebst. Wie schützt du dich, wie organisierst du deine Defensive – und wann musst du selbst offensiv werden? Der erste Impuls sagt zwar: Immer!, aber politisches Handeln setzt auch im Knast voraus, Kräfteverhältnisse zu klassifizieren und erzielbare Ergebnisse zu kalkulieren. Es lohnt sich zum Beispiel nicht, die Zelle klein zu hauen, ohne dass es draußen jemand mitbekommt. Das bringt schon Spaß, aber sicher auch Bunker und Ärger. Als 1980 der neue Moabiter HST belegt wurde, war es richtig, sich hinter dem zerlegten Mobiliar der alten Zelle zu verbarrikadieren und nicht freiwillig dort rein zu gehen, denn Verschlechterungen widerstandslos hinzunehmen macht »die« nur unverschämt, und an einem beschissenen Ort zu sitzen, ohne sich dagegen gewehrt zu haben, weckt Ohnmachtgefühle. Draußen demonstrierten GenossInnen, es gab Anschläge und die Zeitungen waren voll davon. Für das Überleben im HST war das alles sehr hilfreich. Die Hungerstreiks der 70er und 80er Jahre waren trotz der Kritik an manchen Umständen oder Forderungen »Überlebensstrategien« für Gefangene in Einzel- und Hochsicherheitshaft. Die Mobilisierungen nach dem Tod von Holger Meins und Sigurd Debus, umgebracht durch medizinische Vernachlässigung und Zwangsernährung, trugen zum Überleben ihrer gefangenen GenossInnen zweifellos bei. Ein Beispiel für eine unmittelbare Überlebensstrategie aus eigener Erfahrung: 1983 wurde im Bielefelder HST versucht, ein neues Modell von Kleingruppenisolation durchzusetzen. Zu der HST-Architektur und seiner rigiden Ablauforganisation (für ein ungeputztes Waschbecken drei Tage Hofgangsperre, für das Ausschalten des vom Knast festgelegten bescheuerten Fernsehprogramms im Kleingruppen-»Gemeinschaftsraum« zwei Wochen Einschluss) sollte der Zwang zur Arbeit kommen: täglich fast acht Stunden lang 3.000 Wäscheklammern unter Aufsicht zusammenstecken, bei mangelnder Leistung Disziplinarstrafen. Erzwungene repetitive stupide Handlungen sind Originalbausteine psychologischer Konditionierungsprogramme, ein auf den Körper zielendes Mittel klassischer Gehirnwäsche. Jahrelang Wäscheklammern zu stecken wäre der schleichende geistige Tod. Da als Strafe für die Arbeitsverweigerung die Verlegung in eine Bunkerzelle angeordnet wurde, ein (wochenlanger) Hungerstreik dort problematisch geworden wäre und es eh ums Ganze ging, blieb nur ein Durststreik. Bei dem ist das Zeitfenster bald zu, so oder so. Der Druck in der Öffentlichkeit muss schnell aufgebaut sein, und er muss stärker werden als »ihr« Interesse, das neue HST-Zwangsarbeitsmodell durchzusetzen. Die Überlebensstrategie war darauf angelegt, dass »sie« nicht vermitteln könnten, wieso jemand für 3.000 Wäscheklammern am Tag sterben soll. Und – das war unausgesprochen klar –, wenn sie die Zwangsarbeit in den HST durchsetzten, sollten die erheblichen Einnahmen versiegen, die nicht nur dieser Knast aus der Produktion von Wäscheklammern, Fahrrad- oder Autozubehörteilen usw. außerhalb des HST erzielte. »Sie« haben nach fünf Tagen nachgegeben und es hat sie Sachschäden nach RZ-Sprengstoffanschlägen an ihrem Justizvollzugsamt und bei zwei Firmen, die im Knast produzieren ließen, gekostet. Dazu Demonstrationen, Bambule im Köln-Ossendorfer HST und eine schlechte Presse. Die Verbindung von Zwangsarbeit und HST ist danach nicht wieder versucht worden. Meist ist das Gefangenenleben jedoch viel weniger heroisch, schließlich ist der natürliche Feind des Helden der Alltag. Ein Beispiel für eine winzige Überlebensstrategie: Wenn der Antrag zum Knastzahnarzt vorgeführt zu werden, zwei Tage lang »übersehen« wird, lässt sich der Schrieb auch auf das Klo kleben, es abmontieren und bei nächster Gelegenheit vor die Zelle stellen, »damit er nicht wieder übersehen wird.« Das kostet etwas Geld vom Solikonto für ein neues Klobecken und eine Disziplinarstrafe, aber die Zahnarztvorführung klappt nun. Das funktioniert, weil die unterlassene Zahnbehandlung durch die Sachschadensmeldung für das Klo aktenkundig, d.h. beschwerde- und klagefähig wird – wozu die Knastbürokratie bei solchen Lappalien meist keine Lust hat.
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Selbstverständlich kannst du nicht den ganzen Tag am Zellengitter rütteln oder gegen die Tür treten, das hältst du nicht lange durch. Gitter und Tür nicht öffnen zu können, bedeutet aber nicht, das Knastsystem zu akzeptieren, und dich in Normen pressen zu lassen, die um einiges enger sind als draußen. Die Einzigartigkeit jedes Menschen erhält sich nur im Verweigern der Normen. Leben oder gelebt werden. Akzeptanz der Normen beendet deine Entwicklung, du verlierst das Interesse an Kontakten und daran, dich mit Veränderungen auseinander zusetzen. Sich an das Knastregime anzupassen setzt das Vergessen individueller Stärken und Erfolge voraus und entsteht danach immer wieder neu aus dem Schwanken zwischen der Angst vor dem aktuellen Knastregime und der Unsicherheit, was kommt, wenn du dich wehrst. Du verlierst deine Hoffnungen. Schließlich wird aus dem Sichabfinden mit dem Schlechten Zufriedenheit mit dem Vorgeschriebenen. Widerstehen braucht, genau wie Optimismus, Aktivität. Nichtstun macht dumm. Ein nur gedachtes Widerstehen (die Nazi-Mitläufer nannten es »innere Emigration«) ist keine Überlebensstrategie, sondern der Zynismus, das eine zu denken und das andere (nicht) zu tun. Die Praxis des gedachten Widerstehens hat einen Namen: erwünschtes Verhalten. In der Passivität werden Angst und Hoffnungslosigkeit internalisiert und der gehorsame, neurotische Gefangene perpetuiert. Ihre Tagträume von wilden Ausbrüchen oder überraschenden Begnadigungen fallen in die behördlich genehmigte Kategorie »Gib-uns-unsere-tägliche-Illusion-heute«. Im »falschen Leben« des Knastes kann es keine absolut richtigen Handlungsoptionen geben. Diese Unmöglichkeit lässt sich aber abwehren durch grundsätzliche Entscheidungen, die ein wichtiger Bestandteil deiner Überlebensstrategie sind. Keine dogmatisch starren, sondern immer wieder überprüfte: Ist es falsch, denen nachzugeben? Gelten die alten Gründe noch? Du musst es immer wissen, dich immer wieder neu davon überzeugen, nicht nur aus Gewohnheit antworten. Du solltest neugierig und offen sein für die Erfahrungen und Ansichten anderer und freundschaftliche Ratschläge schätzen. Eindeutige Entscheidungen aufgrund deiner Erinnerung und deines Wissens zu treffen und zugleich Widersprüche zu akzeptieren, die Prozesshaftigkeit der Verhältnisse zu sehen, also dialektisch zu denken, ist eine haltbare Grundlage deiner dir eigenen Überzeugung. Schematisch starres Denken kann nur ein äußerliches Korsett bilden, wo schon feinste Risse fatal sind. Denn wenn nur ein Detail im Schema falsch ist, ist das ganze Schema falsch... Ohne Korsett sacken vormals »einhundertfünfzigprozentig« Überzeugte wie ein leerer Sack zusammen. Danach wird nach einem neuen Schema gesucht, was nicht mal stimmig sein muss, aber genau zu den Denkergebnissen führt, die eine vorzeitige Entlassung näher bringen. Zum Beispiel Horst Mahler, sein schlingernder Weg bog endgültig nach rechts ab, als er Mitte/Ende der 70er Jahre nach ausgiebiger Lektüre zu dem flotten Ergebnis kam, Marx hätte Hegel nicht richtig verstanden und auch wir Gefangene sollten deshalb unseren Staatsbegriff überdenken. In einem SPIEGEL-Interview übertraf er dann hinsichtlich Staatsräson noch den damaligen FDP-Innenminister und kam vorzeitig aus dem Knast raus. Sicherlich machst du politische Entwicklungen durch, findest womöglich deine Praxis vor dem Knast nicht mehr aktuell, aber durch dialektisches Denken wird deine Überzeugung höchstens zunehmen, dass ohne Umwälzung der herrschenden Verhältnisse Ausbeutung, Unterdrückung, Armut und Krieg nicht verschwinden werden. Das wird dich immer von einem Innenminister unterscheiden. Ob es »falsch ist, denen nachzugeben«, lässt sich auch schlichter beantworten: Solltest du jemanden zum Gesprächspartner machen, der dich tagsüber einschließt und der nachts vom Wachturm auf dich schießen würde, falls du zu fliehen versuchst? Willst du mit einem Knastleiter reden, der jede Erinnerung an die Gefangenen, die 1943 auf deinem täglichen Freistundenhof selektiert und in Mauthausen umgebracht wurden, verboten hat? Oder willst du mit dem anderen reden, der als »Hauptmann der Reserve« zu Generalstabsübungen fährt? Willst du mit dem BKA dealen, dessen Abteilung »TE«, vormals »Sicherungsgruppe Bonn«, von alten Reichssicherheitshauptamtoffizieren aufgebaut wurde, das deine BesucherInnen bespitzelt und am Tod von Wolfgang Grams beteiligt war? Willst du die alle für ein paar individuelle Vergünstigungen mit deiner Verbeugung beglücken? Die Art von »Vernünftigkeit«, zu der die dich auffordern, steht an der Wiege von Schwachsinn und Verrat gleichermaßen und der »gesunde Menschenverstand«, an den die bei dir appellieren, »ist der kleine Mann im grauen Anzug, der sich beim Addieren nie verrechnet. Aber das Geld, das er addiert, gehört immer wem anders« (Raymond Chandler).
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»Es ist süß aber gefährlich, auf Briefe zu warten ... / bis zum Morgen zu wachen und an die Decke zu starren ... / Vergiss Dein Alter, nimm Dich in Acht vor den Frühlingsabenden ... / Schlecht ist es, von Rosen und Gärten zu träumen, und gut, an Gebirge und Meere zu denken. / Ich würde Dir raten: lies und schreibe soviel wie möglich und gib nichts auf den Spiegel« (Nazim Hikmet, An einen Mitgefangenen). Nazim Hikmets Zeilen sind reine Überlebensstrategien. Briefe sind wichtige Risse in der Knastmauer, aber dein Denken auf ihre Aushändigung zu konzentrieren, macht dich abhängig. Freu' dich, wenn sie kommen, und such' dir andere Wege, wenn sie es nicht tun. Bis zum Morgen zu wachen und an die Decke zu starren ändert nichts – das aktive Gegenteil wäre es, bis zum Morgen zu lesen und zu schreiben. Sein Alter und den Spiegel zu vergessen, verdrängt die Sorge, etwas zu verpassen im Leben und schöne Frühlingsabende können quälende Sehnsüchte nach draußen wecken... Von Rosen und Gärten zu träumen, macht dich friedlich an einem Ort, an dem du es nicht sein solltest. An ungezähmte und weite Gebirge und Meere zu denken, relativiert die Winzigkeit der eigenen Probleme... Lies und schreibe soviel wie möglich ist der wichtigste Rat, die auf lange Sicht wichtigste Bedingung jeder Überlebensstrategie im Knast. Bücher können dich in eine andere Welt versetzen, wenn die gegenwärtige unerträglich ist. Sie lassen dich reisen, obwohl du festsitzt. Dieser Aspekt des Lesens ist in Einzelhaft unschätzbar wertvoll. Darüber hinaus ist es langfristig überlebensstrategisch klug, sich mit Positionen und Personen durch Lesen und Schreiben auseinander zu setzen. Gegen die müde machende Knastmonotonie ist das mitunter anstrengend, aber die Voraussetzung dafür, dass du dich einmischen kannst. Und Einmischung bringt soziale Beziehungen und neue Gedanken, die dich lebendig erhalten. Niemand will von dir jahrelang dieselbe Platte mit ollen Ballergeschichten und ewigen Wahrheiten hören oder den schmalen Ausschnitt deiner Knastprobleme vorgesetzt bekommen. Solche Haftschäden hört sich die Caritas an, aber niemand, der dich als politisches Subjekt sieht. Nachdem du es in den ersten Monaten und Jahren geschafft hast, die Repression abzuwehren, wird die Zeit zum Gegner. Körperlich kannst du dich halbwegs fit halten, für Gymnastik ist auch in einer Zelle Platz, und Kippen, Kaffee, Süßigkeiten sind eh zu teuer. Die pure Länge der Jahre wirkt sich aber auf deine Möglichkeiten aus, das eigene Leben als zusammenhängendes Ganzes – als Identität – zu gestalten und die eigenen Verhaltensweisen als sinnvoll zusammenhängend zu begreifen. Draußen kannst du dir relativ sicher in dem Wissen sein, ein sich weiterentwickelnder, aber stets derselbe Mensch mit Interessen, Ideen, Verstand und Selbstbewusstsein zu sein. Nun musst du Persönlichkeit, Bewusstsein und Denkvermögen explizit prüfen, ob sie sich unbemerkt verändert haben. Ohne gründliche Selbstreflektion deiner Gedanken, Emotionen und Handlungen kannst du nicht sicher sein, noch so rational zu denken und zu handeln, wie du es vordem selbstverständlich annehmen konntest. »Man kann die Dinge erkennen, indem man sie ändert« sagt dialektisch Brecht und diese erkennende Praxis meint Nazim Hikmet. Marx und Gramsci, Luxemburg und Assata Shakur, Malcolm X und Primo Levi, Vera Figner und Peter Weiss oder die Geschichte des Bauernkriegs, die der Black Panther oder über Internationalismus, Naturwissenschaften, Kunstgeschichte und Schachpartien lesen – das zersägt zwar nicht das Zellengitter, hilft aber dein Denk- und Diskussionsvermögen zu erhalten. Schlimmstenfalls reicht die Bibel als einziges im Bunker zugelassenes Buch: »Du sollst die Augen der Blinden öffnen und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und die sitzen in der Finsternis aus dem Kerker«, Jesaja 42,7. Lesen ist tätige Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer, Sprache ist praktisches Bewusstsein und Schreiben ist Produktion. Gedankliche Auseinandersetzung, die nicht in vermittelbaren Gedanken, also in Sprechen oder Schreiben (für andere) resultiert, wird auf lange Sicht – nicht nur im Knast – zum Lockendrehen auf einer Glatze. Du lebst und denkst und schreibst aber nicht auf einer Glatze, sondern in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation. In diesem Fall: dem Knast. Der Bedingtheit deines Denkens durch die Widersprüche, in denen du lebst, solltest du dir bewusst sein. Manches politisch Wesentliche kannst du fern der verschleiernden quirlig bunten Alltagswelt sogar leichter und besser erkennen, aber zum Beispiel über all das, dessen Erkennen sinnliche Erfahrung erfordert, solltest du ganz vorsichtig urteilen ... Auf jeden Fall gibt die Verbindung und Konfrontation deiner Theoriearbeit mit aktuellen linken Problemen, bzw. den Problemen der GenossInnen und FreundInnen draußen, deinem Lernen und Schreiben einen praktischen Sinn und dir eine Aufgabe, die dich über Jahre tragen kann.
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Rumms, und zu ist die Tür. Aber dieses Mal stehst du vor dem Knast. Das kommt nicht so überraschend wie die Festnahme, ist auch viel angenehmer, aber ähnlich aufregend. Du bist so aufgezogen wie ein Spielzeugauto, dass nur noch losgelassen werden muss, damit es losschnurrt. Erst wenn du nach einiger Zeit anhältst, auch vor ein paar Ecken gefahren bist, siehst du dich wirklich um. Die Überlebensstrategien im Knast ließen dich in einer Umwelt klarkommen, die eigentlich nicht für das menschliches Leben geeignet ist. Nun stehen dir deine verinnerlichten Strategien oft im Wege. Die Knasterfahrung rät dir, was dir wichtig ist, für dich zu behalten, dir wenig anmerken zu lassen, um nicht angreifbar zu sein. Draußen wirkt das – gelinde gesagt – unsensibel, und FreundInnen können deine (fehlenden) Reaktionen nicht deuten. Andere, sicher nicht deine FreundInnen, heben »Ex-Gefangene« auf einen Sockel, der de facto eine Abstellecke ist. Tatsächlich ist es weder erhebend, noch ein politisches Programm, mal im Knast gewesen zu sein. Die erzwungene Fähigkeit, Entscheidungen alleine zu treffen, lässt dich umständliche Gruppendiskussionen gerne vermeiden. Dich von möglichst wenig abhängig machen zu wollen, verhindert nun mögliche Bindungen. Die Fähigkeit, allein sein zu können, wird zum Wunsch, allein sein zu wollen. Dein Widerstehen gegen Normen und dein Bemühen, dich als singuläre Person zu erhalten, hat dich skeptisch gegenüber Gruppen gemacht. Nach der Ernsthaftigkeit des Knastes kommen dir linke Streitigkeiten oft unwesentlich oder gar lächerlich vor, aber wenn du das erkennen lässt, wirkt es wie Arroganz. Die hart erarbeitete Kontrolle deiner Emotionen, damit »sie« sie nicht gegen dich ausnützen können, lässt sich nicht einfach abschalten. Liebe, Hass, Leidenschaft sind intellektuell fest verpackt und du siehst dich vor, bevor du da was aufschnürst. Unglück und Glück hältst du dir so gleichermaßen vom Hals. Im Laufe der Zeit schwächt sich vieles davon ab und steht dir weniger im Wege. Das, was ein ehemaliger Tupamaro so beschrieb, wird dich aber weiter beschäftigen: »Dir war klar, dass man ... nicht in Lüge und Bequemlichkeit leben kann, ohne sich selbst unerträglich zu werden; weil du glaubst, dass der, der begreift und inaktiv und komfortabel weiterlebt, kaputtgeht.« Wie auch immer, es gibt ein Leben nach dem Überleben, und das ist es wert. Sean McGuffins Feststellung, dass »Alter und Hinterhältigkeit Jugend und Kraft immer schlagen werden«, ist dir ebenso ein Trost, wie das nützliche Maß an Hartnäckigkeit, Geduld und Ausdauer, das du einzig als Gefangener lernen konntest. Du bist noch da und du bist immer noch neugierig.
Klaus Viehmann war Mitte der 70er Jahre in der bundesdeutschen Stadtguerilla aktiv. Nach dem Knast beteiligte er sich an Projekten, die von Veranstaltungen zur Geschichte und Politik der Revolutionären Zellen über die Dokumentation politischer Plakate bis zur Unterstützung der Forderungen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und NS-Opfer reichen.