Neue Phase: Der Prozess beginnt
aus dem Buch "Das zarte Pflänzchen der Solidarität gegossen. Zu den Verfahren und dem Prozess wegen Mitgliedschaft in der militanten gruppe (mg)", S. 24ff, ISBN 978-3-942885-00-3, edition assemblage, März 2011.
Als Anfang 2009 absehbar war, dass in Kürze im Prozess auch die Anschläge der militanten gruppe abgehandelt werden, diskutierten wir über mehrere Treffen an einem Papier, das dazu aufrief, die militante gruppe und militante Politik in unsere Soliarbeit mit einzubeziehen. Unser Gedanke dabei war: die militante gruppe wird Thema im Prozess und damit auch in der Berichterstattung sein. Zudem baut auch die Anklage nach §129 darauf auf. Wir können dazu nicht schweigen und sollten dazu eine Position entwickeln. Im März 2009 erschien unser Text „Solidarität ist unteilbar“, in dem sich das Bündnis erstmals intensiv mit dem Thema „Solidarität mit der mg“ auseinandergesetzt hat. Es war zugleich der letzte Text, der über Wochen unter Beteiligung von nahezu allen Menschen aus dem Bündnis entstanden ist. Und – von Demoaufrufen, Redebeiträgen und Ähnlichem abgesehen – der letzte inhaltlich-programmatische Text des Einstellungsbündnisses. Anders als beim Antimilitarismus wurde dieser Vorschlag jedoch so gut wie nicht aufgegriffen. Auch wir selbst haben lediglich auf unserer Webseite Anschläge auf Militärfahrzeuge dokumentiert sowie die im Juli 2009 erschienenen neuen Texte der militanten gruppe. Die Wirkungslosigkeit unseres Papiers „Solidarität ist unteilbar“ ist ein Ausdruck davon, dass es uns und anderen schwer fiel, sich zur mg zu verhalten.
Problematisiert haben wir unter uns die schon früh im Prozess verlesene Erklärung der Verteidigung zu den im Selbstleseverfahren eingeführten Texten der mg. Die Aussage dieser Stellungnahme in einem Satz zusammengefasst lautet: Es gäbe mehrere Gruppen, die unter dem Namen „militante gruppe“ auftreten. Dieser Antrag wurde von allen Beteiligten juristisch und politisch kontrovers diskutiert. Denn die mg hatte sich entschieden, wie es die „radikal“ als Zeitschrift auch praktizierte, als Gruppe unter einem festen Namen aufzutreten, um Kontinuität, Verbindlichkeit, eine nachvollziehbare Entwicklung und Kritisierbarkeit zu gewährleisten. Das war ein Widerspruch zum Inhalt des Antrags. Andererseits lag zum damaligen Zeitpunkt die Interpretationshoheit zur mg vollständig in der Hand der BAW. Mit diesem Antrag wurde dem BAW-Konstrukt eine eigene Interpretation entgegengestellt, um damit die §129-Anklage zu hinterfragen.
Die Anwält_innen haben übrigens immer mal wieder, insbesondere jedoch in der Zeit der Inhaftierung, zumindest unregelmäßig das Treffen des Einstellungsbündnisses besucht. Dieser Informationsaustausch war wichtig. Für die Dauer des Prozesses kamen die Anwält_innen nur noch äußerst selten zu unseren Treffen, was sogar vorteilhaft war, weil wir dann unabhängig von juristischen Strategien unsere Themen bereden und diskutieren konnten.
Schon mit den Verhaftungen im Sommer 2007 hatte die Zusammenarbeit mit den Anwält_innen begonnen und eigentlich auch immer ganz gut geklappt. Sie waren für uns eine wichtige – für manche vielleicht auch die wichtigste – Informationsquelle über die Situation und die Gemütslage der Gefangenen. Primäres Ziel der Arbeit der Anwält_innen in dieser Phase waren die Bemühungen um Hafterleichterungen und die Aufhebung der Haft. Begründet aus der unterschiedlichen privaten Situation der Angeklagten war der anwaltliche Austausch mit dem familiären und persönlichen Umfeld der Angeklagten während der Zeit der U-Haft unterschiedlich.
Bei einem der Gefangenen wurden nach seiner Verhaftung eine Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Schon während seiner Haftzeit kam er ins Haftkrankenhaus. Über seine Anwält_innen erfuhren zunächst einzelne von der Krankheit und den damit verbundenen Problemen, später wurde auch im Bündnis – wenn auch nicht allzu detailliert – so doch immerhin offen gemacht, dass es einem der Angeklagten besonders schlecht geht. Die Frage, was eine solche psychische Erkrankung im Repressionsfall bedeutet und wie eine gemeinsame politische Diskussion in solch einer Situation weder entmündigend noch überfordernd sein kann, hat uns viel beschäftigt. Aufgrund des Gesundheitszustandes und der Frage nach der Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen kam spätestens mit der Anklageerhebung die Frage auf: Ist es besser, für verhandlungsunfähig erklärt zu werden und damit einen abgetrennten späteren Prozess zu bekommen oder spricht doch mehr dafür, den Prozess gemeinsam durchzustehen? Letztendlich gab es eine Entscheidung dafür, dass alle Angeklagten versuchen, den Prozess gemeinsam durchzustehen, anstatt alleine auf der Anklagebank zu sitzen. Dem gingen viele Diskussionen unter den Angeklagten und unzählige Gespräche voraus.
Der medizinische Sachverständige, ein Forensiker der Berliner Charité, bescheinigte eine Verhandlungsfähigkeit und saß im Wechsel mit zwei Kolleginnen über die gesamten Prozesstage im Gerichtssaal und begutachtete den Betroffenen weiter.
Daran hat sich aber auch gezeigt, was es in der Soliarbeit – jenseits von politischer Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit – zu tun gibt. Inner- und außerhalb des Bündnisses, vor allem in Zusammenarbeit mit der Gruppe „Out of Action“, versuchten wir, den Betroffenen auch bei der Suche nach solidarischen Therapeut_innen etc. zu unterstützen, einen Teil des Drucks abzufedern usw. Die im September 2008 gestartete Veranstaltungsreihe „Traumatisierung und Widerstand“, organisiert von der Gruppe „Out of Action” und uns, mit insgesamt fünf Veranstaltungen bis Mai 2009, war einer der wenigen Versuche, mit dem Thema einen öffentlichen Umgang zu finden. Das war wichtig und traf einen empfindlichen Punkt innerhalb der radikalen Linken, wie die kontroversen Diskussionen während der gut besuchten Veranstaltungen gezeigt haben. Der betroffene Genosse hat an der Veranstaltungsreihe mitgewirkt, über seine Situation gesprochen und sich so seine eigene politische Handlungsfähigkeit nicht nehmen lassen. Jenseits davon aber haben wir seine Situation – auch in den Prozessberichten – eher verschwiegen als politisch aufgegriffen. In der Nachbereitung wurde das als Fehler eingeschätzt. Auch im Urteil wird die Krankheit thematisiert und deswegen hat der Angeklagte weniger Strafe als die anderen bekommen.
Es wäre jedoch zu einfach, die Frage nach den Grenzen der Belastungsfähigkeit von Betroffenen oder möglichen Betroffenen nur an der Erkrankung eines Angeklagten zu verhandeln. Nach den Durchsuchungen und Festnahmen mussten wir feststellen: Repression wirkt und funktioniert. Potenziell solidarische Menschen wollten nicht registriert werden, kamen deshalb nicht zu Knastkundgebungen oder zum Prozess. Repression hat Auswirkungen auf das, was angegriffen wird. Sie zielt auf Abschreckung, Einschüchterung und Individualisierung und schafft diese auch.