Geht denn das? Soliarbeit auch ohne Beschuldigte?
aus dem Buch "Das zarte Pflänzchen der Solidarität gegossen. Zu den Verfahren und dem Prozess wegen Mitgliedschaft in der militanten gruppe (mg)", S. 19ff, ISBN 978-3-942885-00-3, edition assemblage, März 2011.
Eine immer wieder auftretende Frage war die Legitimität und das Gewicht, mit dem die einzelnen Mitglieder im Solibündnis sprechen: Sind wir die Stimme der Gefangenen? Wissen Angehörige besser als die Politgruppe, was der Genosse im Knast will? Und darf mensch anders herum die vielleicht ängstlichere Position von Angehörigen übergehen, weil es der Genosse bestimmt so will?
Die überwiegende Mehrheit im Bündnis meinte, Soliarbeit gehe nicht ohne die Beschuldigten und hätte deshalb Schwierigkeiten gehabt, ohne alle Beschuldigten bzw. alle Angeklagten aktiv zu werden. Damit diese mehr „mit einer Stimme“ sprechen, gab es auch mal die Idee, eine weitere Entscheidungsstruktur, bestehend ausschließlich aus den Beschuldigten, einzurichten. Damit das für die Beschuldigten nicht ein zusätzliches Treffen bedeutet hätte, sollte das Bündnis sich nur noch alle zwei Wochen gemeinsam treffen, denn einzelne Beschuldigte konnten sich nicht noch ein Treffen vorstellen. Da das Bündnis an sie die Erwartung hatte, dass sie Positionen untereinander entwickeln und im Bündnis vorstellen, wäre eine Auseinandersetzung unter ihnen sicherlich hilfreich gewesen. Doch dazu kam es nicht, das Einstellungsbündnis blieb für die Soliarbeit die alleinige Entscheidungsstruktur. Mit der Zeit sind allerdings immer wieder Menschen weggeblieben, spätestens nach Prozessbeginn im September 2008 hat nur noch ein Angeklagter regelmäßig an unseren Treffen teilgenommen.
Als Argument gegen die Position „Beschuldigte müssen in ihrer Soligruppe zwangsläufig mitarbeiten“ könnte in einem Verfahren nach den §§129/a/b die Möglichkeit genannt werden, dass schnell auch Menschen 1. zu der kriminalisierten „Vereinigung“ hinzugerechnet werden oder 2. als Zeug_innen geladen werden, die Kontakte mit den Beschuldigten pflegen und eventuell sogar politisch Position beziehen. Das gilt insbesondere für Menschen im Solibündnis. Es wäre aber auch verständlich, wenn sich die Angeklagten, denen schließlich Knast drohte, in der Zeit vor ihrer Inhaftierung, zwischen den Prozesstagen, ein schönes Leben gemacht und die politische Arbeit anderen überlassen hätten. So hat aber keiner der Beschuldigten argumentiert. Und wir hätten diese Position größtenteils auch nicht für gut befunden.
Doch zunächst gab es kaum Kontakt zu Andrej, Axel, Oliver und Florian, da sie im Knast saßen. Als Andrej am 22. August 2007 aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, konnten wir zumindest mit ihm direkt kommunizieren, was die Sache einfacher gemacht hat. Am 29. November 2007 wurden dann auch Axel, Florian und Oliver gegen je 30.000 Euro Kaution entlassen. Viele lernten die drei jetzt erst kennen. Die Freigelassenen wiederum waren mit vielen Eindrücken und Meinungen konfrontiert, mussten sie und sich erst einmal sammeln und es fiel ihnen schwer, unserem Wunsch zu folgen und konkret zu formulieren, was sie erwarten und selbst wollen.
Die Freilassung folgte auf eine Entscheidung des BGH, der festgestellt hatte, dass die mg „lediglich“ eine kriminelle Vereinigung darstelle. Die begangenen und beabsichtigten Taten der militanten gruppe seien nach der Art ihrer Begehung – auch unter Berücksichtigung ihrer Frequenz und Folgen – nicht geeignet, die Bundesrepublik Deutschland erheblich zu schädigen. Die militante gruppe sei demnach keine terroristische Vereinigung nach §129a StGB, sondern lediglich eine kriminelle nach §129.
Mit der Entscheidung wurde ebenfalls bestätigt, was damals auch vom Einstellungsbündnis skandalisiert wurde: Das, was Andrej, Axel, Florian und Oliver vorgeworfen wird, sei doch kein Terrorismus. In diesem Punkt gingen wir mit dem BGH Hand in Hand. Aber es stellte sich auch die Frage, ob die Herabstufung des Ermittlungsverfahrens auf §129 ein voller Erfolg war. Ist es besser, „kriminell“ statt „terroristisch“ genannt zu werden? Steckt in „Terrorist_innen“ nicht wenigstens noch etwas Politisches? Wenn einem auch „kriminell“ nicht passt: Wie will mensch eigentlich sonst von seinem Feind betitelt werden? Ist revolutionäre Politik nicht notwendig kriminell? Eines stand jedenfalls fest: Mit der Herabstufung von §129a auf §129 wurde die mögliche Höchststrafe in diesem Anklagepunkt von zehn auf fünf Jahre halbiert. Während §129a-Verfahren generell in die Zuständigkeit der BAW fallen, kann die BAW §129-Verfahren zur Chefsache erklären und an sich nehmen. So geschah es in unserem Fall. Die BAW blieb zuständig und gab das Verfahren nicht an die Berliner Staatsanwaltschaft ab.
Doch selbst nachdem auch für sie der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden war, blieb die Frage häufig erst einmal offen, was denn Axel, Florian und Oliver eigentlich wollten. Entgegen unseren Projektionen lernten wir keine Ex-Gefangenen kennen, die nur darauf warteten, uns ihre am besten kollektiv entwickelten Vorstellungen von Soliarbeit zu unterbreiten. Ähnlich wie die Beschuldigten der anderen mg-Verfahren sowie die nicht Verhafteten des aktuellen Verfahrens agierten sie mal großartig und gemeinsam, mal völlig individuell und manchmal gar nicht. Dieses Verhalten der verschiedenen mg-Beschuldigten hat bei vielen im Solikreis Enttäuschung hervorgerufen, insbesondere als die meisten von ihnen nicht mehr regelmäßig und später gar nicht mehr beim Bündnis auftauchten. Vertraten doch viele die Ansicht, dass Solidaritätsarbeit natürlich keine humanitäre Hilfeleistung, sondern ein ureigenes politisches Projekt ist – aber kann mensch das wirklich durchführen, ohne den Willen der Beschuldigten zu kennen? Und was passiert, wenn deren Vorstellungen widersprüchlich sind?
„Unsere Beschuldigten“ zumindest verhielten sich teils sehr individuell. Aber nicht nur sie, auch Aktivist_innen im Einstellungsbündnis handelten individuell, beispielsweise die Referent_innen der Infotour, die dort ihre Eindrücke, Sichtweisen und Meinungen vertraten – in den meisten Fällen ohne große Absprachen im Bündnis. Dass die Beschuldigten einzeln für sich agierten, war eine Schwäche. Individuell machten sie alle ganz viel und viel Gutes. Durch mehr Austausch und Diskussion wäre jedoch mehr drin gewesen. Der Austausch unter ihnen klappte nur zeitweise. Die Ansprüche, die Erwartungen, die Vorstellungen über den Zweck dieses Austausches waren sehr unterschiedlich, worin womöglich das Scheitern lag. Das hatte auch unmittelbare Auswirkungen für uns, denn das Einstellungsbündnis war häufig mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. So war ein Text von Angeklagten (der Redebeitrag zum Aktionstag im Dezember 2008) bereits geschrieben und verlesen, Medienberichte wie beispielsweise die Dokumentation „Der gläserne Deutsche“ mit Andrej im April 2009 im ZDF erschienen, bevor das Bündnis davon mitbekam. Wir hätten uns einen anderen Umgang, wenigstens mehr Information gewünscht. Die Kommunikation über anstehende Pläne war oft mangelhaft. Auch ein Feedback des Einstellungsbündnisses an die Beschuldigten über ihre Arbeit war wegen Nicht-Anwesenheit vieler Betroffener auf den Bündnistreffen kaum möglich.
Dass wir trotzdem als relativ große und präsente Struktur wahrgenommen wurden, lag gewiss unter anderem daran, dass wir solche Konflikte im besten Falle ausgehalten, im schlechteren Fall auch einfach ausgesessen haben. Wir haben stattdessen gehandelt. Das Einstellungsbündnis hat viele Veranstaltungen gemacht, Plakate gedruckt, es gab eine gut besuchte Webseite, wir waren im Vergleich zu anderen Soligruppen häufig in den Medien. Wenn wir in anderen Städten unterwegs waren, gab es immer viel Interesse an den Berliner mg-Verfahren. Ein Pfund, mit dem wir wuchern konnten, manchmal gewuchert haben und das wir trotzdem gerne noch viel mehr genutzt hätten. Gefühlt haben wir uns gar nicht immer so mächtig und stark.