Paragraf 129/a/b und Überwachung
aus dem Buch "Das zarte Pflänzchen der Solidarität gegossen. Zu den Verfahren und dem Prozess wegen Mitgliedschaft in der militanten gruppe (mg)", S. 46f, ISBN 978-3-942885-00-3, edition assemblage, März 2011.
Schon nach den Durchsuchungen am 9. Mai 2007 und den bekannt gewordenen Ermittlungsverfahren gegen G8-Gegner_innen war die Parole „Wir sind alle 129a“ in aller Munde. So auch bei uns. Das Organisationsdelikt ist eine Besonderheit im deutschen Strafrecht. Mensch kann für eine Tat verurteilt werden, obwohl mensch nicht daran beteiligt war. Allerdings ist die Verurteilungsquote nach diesen Paragrafen gering. Sie dienen den Repressionsorganen in Kombination mit den damit einhergehenden weiträumigen Ermittlungsbefugnissen für umfassende Bespitzelung und Drangsalierung.
Die Durchsuchungen vor dem G8-Gipfel am 9. Mai 2007 (bei Menschen aus dem sogenannten G8-Verfahren und dem mg-Ursprungsverfahren (mg1), siehe Seite 47f) und die Ermittlungsakten zeigten, dass die Verfolgungsbehörden ihren über Jahre, vor allem gegen die Stadtguerilla ausgebauten Riesenapparat auch auf Kleingruppenmilitanz ansetzen, weil sie die „nervigen“ militanten Aktionen nicht nur in der Hauptstadt mit allen Mitteln zu fassen kriegen wollen.
Die Hintergründe der Razzien vom 9. Mai 2007 bedürfen rückblickend einer genauen Analyse. Zum einen ging es dem Staat sicherlich um einen Einschüchterungsversuch so kurz vor dem G8-Gipfel, andererseits wissen wir, dass auch die bis dato Beschuldigten des mg4-Verfahrens observiert und ihr weiteres Handeln, ihre Reaktionen auf die Razzia, überprüft wurden. Im Falle des mg1-Verfahrens stand der letzte, bis dahin nicht erfolgte Repressionsschritt – nämlich die Hausdurchsuchung – an. Daneben dienten die Razzien aber auch der Informationsgewinnung und Aufklärung. Insgesamt können wir feststellen, dass hier viele Fliegen mit einer Klatsche getroffen werden sollten. Aber die Reaktion auf der Straße blieb nicht aus. Bundesweit gingen am Abend der Durchsuchungen Zehntausende auf die Straße, allein in Berlin beteiligten sich rund 5000 Menschen an einer entschlossenen Demonstration.
Die §§129/a/b sind ein konstituierendes Element des bürgerlichen Staates. Schnell gab es bei uns Einigkeit über die Forderung, dass die Ermittlungs- und Ausforschungsparagrafen 129ff, die die Grundlage für die mg-Ermittlungen des BKA waren, abgeschafft gehören. Klar gibt es Überwachung auch ohne diese Paragrafen. Vorratsdatenspeicherung, Kfz-Kennzeichen-Überwachung, biometrische Daten in Pässen – all das war seinerzeit in den Schlagzeilen und der Kritik – sind dafür nur Beispiele. Das versuchten wir für eine Mobilisierung aufzugreifen bzw. uns und unser Anliegen damit zu verknüpfen.
Während die Polizei also auf dieses Instrument angewiesen ist, brauchen andere die §§129/a/b nicht, um die radikale Linke zu überwachen. Die Ämter für Verfassungsschutz im Bund und in den Ländern (VS) brauchen ihn nicht, um in Wohnungen einzudringen und Abhörmaßnahmen einzuleiten, wie es während der mg-Ermittlungen geschehen ist. Zwar werden letztere Maßnahmen nur selten öffentlich und vor Gericht kaum Verwendung finden, aber auch die belanglosesten Ergebnisse bestimmen – wenn es dem VS nötig erscheint – maßgeblich die weitere Schnüffelei von BKA und LKA. Besonders deutlich wird an der Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und Polizei, dass eine wesentliche Forderung der Westalliierten nach 1945 – das Trennungsgebot zwischen beiden Institutionen – heute weitgehend ausgehebelt ist. Das Thema Überwachung war auch für uns ein zentrales. Wir haben es jedoch wenig aus linksradikaler Sicht aufgenommen und analysiert.