Phrasen als Indizien?

Zum Haftbefehl gegen einen Berliner Soziologen. Von JÜRGEN KAUBE

Ein Soziologe der Berliner Humboldt- Universität ist verhaftet worden. Er sei der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verdächtig. Die Mitteilung der Generalbundesanwältin erklärt, dies ergebe sich auch aus seinen umfassenden konspirativen Kontakten zu einem anderen Tatverdächtigen, der als einer von drei Beschuldigten am frühen Morgen des 31. Juli versucht habe, in Brandenburg an der Havel drei Lkws der Bundeswehr anzuzünden. Seit 2001 hat sich die "militante gruppe" (mg) zu 25 Brandanschlägen bekannt: auf Ämter, Fahrzeuge der Polizei und der Telekom, einen Supermarkt und Niederlassungen von Autofirmen, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und den Verband Türkischer Unternehmer.

In Bekennerschreiben teilt die "mg" mit, "die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zugunsten einer kommunistischen Weltordnung zerstören" zu wollen. Wie dieses Weltprojekt durch das Anzünden von Firmenwagen und Immobilien im Großraum Berlin realisiert werden soll, lässt die Gruppe offen. Ideengeschichtler würden die Unterscheidung von "staatlich und gesellschaftlich" überdies aufs neunzehnte Jahrhundert zurückdatieren. Auch die sonstige Theorieprosa der "mg", soweit zugänglich, folgt der Diktatur des Antiquariats, indem sie alte Stadtguerrilla-Heftchen und Partisanenlieder zur Wiedervorlage bringt, etwa durch die Diskussion von Fragen wie der, ob der Sturz des Imperialismus eher vom Land oder von der Stadt aus zu geschehen hat, oder der, ob man lieber als Guerrilla oder als Miliz auftreten solle. Würden nicht echte Brandsätze geflogen sein - auch auf ein Gebäude, in dem sich Personen aufhielten -, man würde angesichts der objektiven Lächerlichkeit solcher Revolutionsphantasien höchstens sagen wollen: "Damit spielt man nicht!"

Die Bundesanwaltschaft und der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, der den Haftbefehl unterzeichnet hat, nehmen aber offenbar nicht nur die Folgen dieser Großmäuligkeit, sondern auch sie selber ernst. Nach Auskunft der Verteidigerin des inhaftierten Soziologen jedenfalls - die Bundesanwaltschaft schweigt zu den Akten und muss das bis auf Weiteres auch - wurden die Ermittler auf diesen als Verdächtigen nicht durch seine Kontakte zum späteren mutmaßlichen Brandstifter aufmerksam. Sondern, es sei umgekehrt gewesen: Das elaboriert geschwollene Vokabular der Bekennerschreiben schien den Ermittlungsbehörden die Frage nach seiner Herkunft aufzuwerfen. Man suchte nach einem Stichwortgeber und meint ihn in einem Stadtforscher gefunden zu haben, der sich in den neunziger Jahren zugleich als Aktivist in linken Projekten und Bürgerprotesten gegen Stadtteilsanierungen OstBerlins betätigt hatte. Man observierte ihn, so die Verteidigerin, als mögliche Quelle jenes Bekennervokabulars und kam erst so auf die Kontakte zu der später als Brandstifter erwischten Person.

Aus dem Haftbefehl wird zitiert, es gebe Übereinstimmungen zwischen den Bekennerschreiben und einem Text des Soziologen in "Schlagwörtern und Phrasen", die sich nicht durch thematische Überschneidungen erklären ließen. Nun ist es eine besondere Eigenschaft von Schlagwörtern, kein Individualgut zu sein. Mit Wittgenstein: Es gibt keine Privatphrase. Wenn außerdem ein soziologischer Fachbegriff wie "Gentrification" - zu deutsch : die Verneureicherung von Quartieren - zum Vokabular der "mg" gehört, wäre auch das kein sehr zwingender Hinweis auf bestimmte Quellen: Das Wort ist spätestens seit den neunziger Jahren in aller Stadtsoziologen Munde. Überdies ist der beargwöhnte Text des Soziologen ja gedruckt worden, war also, obzwar in einem Kleinverlag erschienen, doch öffentlich. Dass im Haftbefehl über einen mitbeschuldigten Politologen die Formulierung fällt, ihm stünden als Mitarbeiter eines Forschungszentrum Bibliotheken der Verfügung, "die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung (?) der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen", verwundert zusätzlich, selbst wenn es aus dem Zusammenhang gerissen sein sollte. Denn der Zugang zu Bibliotheken ist ja keine so schwierige Sache, und ihre Benutzung geschieht auch durch friedliebende Menschen, die keinerlei Weltrevolution vorhaben, fast durchweg unauffällig.

Auch die Karlsruher Juristen, Staatsanwälte wie Richter, sind Akademiker. Ihnen einen bewussten Angriff auf "die" Wissenschaft oder auch nur die sich selbst als "kritisch" bezeichnende zu unterstellen wäre selbst unkritisch. Sollte es aber, ganz unabhängig von der Tatfrage, zutreffen, dass bei Ermittlungsbehörden schon Verdacht aufkommt, wenn Vokabulare von Bekennerschreiben und wissenschaftlichen oder essayistischen Texten sich gleichen, dann nähme es die Polizei mit ihrer eigenen Wissenschaft nicht skeptisch genug. Es gibt, zum Schaden des öffentlichen Diskurses, aber zum Glück für das gesellschaftliche Leben, viel mehr Phrasen als Täter, und wer als Täter ein Phrase braucht, findet nichts leichter als sie.