Das historische Dokument: Als SPD-Strukturen noch eine Kriminelle Vereinigung waren

Aus Anlaß des für morgen erwarteten Endes der Beweisaufnahme im Prozeß gegen drei Angeklagte, die vor dem Berliner Kammergericht der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der als Kriminelle Vereinigung klassifizierten militanten gruppe beschuldigt werden, dokumentiere ich hier ein Urteil des Reichsgerichts des Deutschen Reiches vom 2. Januar 1885.

Mit dem Urteil wurde die Revision von SPD-Funktionären gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Breslau wegen Teilname an einer Kriminellen Verbindung verworfen. Daß es heutezutage „Vereinigung“ heißt, stellt eine rein sprachliche Modernisierung dar; der Begriff „Vereinigung“ wird heute vom Bundesgerichtshof haargenau so definiert, wie „Verbindung“ durch das Reichsgericht. Auch ansonsten hat sich seitdem nicht viel am § 129 Strafgesetzbuch geändert.1
Daß die Verfolgung von Strukturen innerhalb der SPD als Kriminelle Verbindung (auch die Figur einer Kriminellen oder Terroristischen Vereinigung innerhalb einer Partei ist also keine Erfindung erst der Prozesse der 1990er Jahre gegen die PKK) später eingestellt wurde, hat nichts mit einer Änderung des § 129 StGB zu tun, sondern nur damit, daß die Sozialistengesetze aufgehoben wurden.

Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, so der offizielle Titel, kombinierte exekutivisches Verbot nebst Vollstreckung mit einer Strafandrohung:

§. 1.
[1] Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
[2] Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten.
[3] Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art.

§. 7.
[1] Auf Grund des Verbots sind die Vereinskasse, sowie alle für Zwecke des Vereins bestimmten Gegenstände durch die Behörde in Beschlag zu nehmen.

§. 9.
[1] Versammlungen, in denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zu Tage treten, sind aufzulösen.
[2] Versammlungen, von denen durch Thatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie zur Förderung der im ersten Absatze bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind, sind zu verbieten.
[3] Den Versammlungen werden öffentliche Festlichkeiten und Aufzüge gleichgestellt.

§. 11.
[1] Druckschriften, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdende Weise zu Tage treten, sind zu verbieten.
[2] Bei periodischen Druckschriften kann das Verbot sich auch auf das fernere Erscheinen erstrecken, sobald auf Grund dieses Gesetzes das Verbot einer einzelnen Nummer erfolgt.

§. 14.
[1] Auf Grund des Verbots sind die von demselben betroffenen Druckschriften da, wo sie sich zum Zwecke der Verbreitung vorfinden, in Beschlag zu nehmen. Die Beschlagnahme kann sich auf die zur Vervielfältigung dienenden Platten und Formen erstrecken; bei Druckschriften im engeren Sinne hat auf Antrag des Betheiligten statt Beschlagnahme des Satzes das Ablegen des letzteren zu geschehen. Die in Beschlag genommenen Druckschriften, Platten und Formen sind, nachdem das Verbot endgültig geworden ist, unbrauchbar zu machen.

§. 17.
[1] Wer an einem verbotenen Vereine (§. 6) als Mitglied sich betheiligt, oder eine Tätigkeit im Interesse eines solchen Vereins ausübt, wird mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Mark oder mit Gefängniß bis zu drei Monaten bestraft. Eine gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher an einer verbotenen Versammlung (§. 9) sich betheiligt, oder welcher nach polizeilicher Auflösung einer Versammlung (§. 9) sich nicht sofort entfernt.
[2] Gegen diejenigen, welche sich an dem Vereine oder an der Versammlung als Vorsteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner oder Kassirer betheiligen, oder welche zu der Versammlung auffordern, ist auf Gefängniß von Einem Monat bis zu Einem Jahre zu erkennen.

§. 19.
Wer eine verbotene Druckschrift (§§. 11, 12), oder wer eine von der vorläufigen Beschlagnahme betroffene Druckschrift (§. 15) verbreitet, fortsetzt oder wieder abdruckt, wird mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.

In dem hier dokumentierten Urteil hatte die Anwendung des § 129 StGB – im Vergleich mit § 19 Sozialistengesetz – zwei Effekte:

1. § 129 StGB wirkte starfverschärfend (keine Geldstrafe, sondern in jedem Fall Gefängnis). Grundlage dafür war, daß das Verbreiten der verbotenen Druckschrift nicht nur individuell (wie im Falle des § 19 Sozialistengesetz), sondern im Rahmen einer „Verbindung“ bzw. Vereinigung erfolgte.
(Ähnlich wäre es im Falle eines Schuldspruchs wegen Mitgliedschaft im Berliner mg-Prozeß: Bestraft würde nicht nur wegen versuchter Brandstiftung mit Strafminderungsmöglichkeit nach § 23 II StGB, sondern wegen vollendeter Mitgliedschaft – ohne eine solche Minderungsmöglichkeit.)

Und 2. wurde die Strafbarkeit vorverlagert: Nicht nur, wer/welche selbst die Druckschrift verbreitete, wurde bestraft. Vielmehr wurden all diejenige bestraft, die „an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen“ wiederum die Verbreitung verbotener Druckschriften gehörte, teilnahmen – egal, worin genau die Teilnahme an der Verbindung bestand (und so ist es noch heute bei den Organisationsdelikten der §§ 129 – 129b StGB).

Vor dem hier dokumentierten Urteil gab es bereits ein ähnliches Verfahren, in dem das Reichsgericht auch schon nahelegte, daß

++ es innerhalb der SPD eine „unerlaubte Verbindung“ (= Kongreß [= Parteitag? Vorstandssitzung?] in Kopenhagen = Kreis, der „die Partei führt“)

++ zum Zwecke der Verbreitung der illegalisierten Parteizeitung „Sozialdemokrat“ gab

(Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen. Bd. 13, 273-285 [278-279, 281, 285]; falls ich meine Kopie wiederfinde, gibt es dieses Dokument auch noch).

Das Reichsgericht hat mit dieser Entscheidung das freisprechende Urteil der Vorinstanz (Landgericht Chemnitz) – auf Revision der Staatsanwaltschaft – aufgehoben, ohne selbst verurteilen zu können. Die Sache wanderte dann zum Landgericht Freiberg, das zu einem Schuldspruch kam (http://www.zeno.org/Kulturgeschichte/M/Blos,+Wilhelm+Joseph/Denkw%C3%BCrdigkeiten+eines+Sozialdemokraten/2.+Band/Der+Kopenhagener+Kongre%C3%9F)
Vgl. auch
http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/00146035.htm#E10E12, Abschnitt
III.5.4.;
http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/00146037.htm#E10E14, Abschnitt
3.7.2.,
wo der Freiberger Prozeß aber als „Geheimbundprozess“ bezeichnet wird (das wäre dann aber der § 128 [nicht: 129] StGB gewesen).

Eine nunmehrige Revision der Angeklagten – zuständig war wiederum das Reichsgericht – blieb (wie nach der vorhergehenden RG-Entscheidung zu erwarten war) erfolglos (ebd.).

Anzumerken bleibt noch dreierlei:

1. Die Praxis der mg besteht allerdings nicht im verbreiten illegalisierter Druckschriften, sondern fällt bekanntlich etwas handgreilich aus. Dies ändert aber nichts an der Problematik des § 129 StGB als Organisationsdelikt.2

2. Daß die Angeklagten tatsächlich mg-Mitglieder sind (bzw. bis zu ihrer Festnahme waren) ist ziemlich unwahrscheinlich.

3.a) Heute gibt es im Strafgesetzbuch im Dritten Titel (Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates) des ersten Abschnittes Vorschriften, die dem Sozialistengesetz ähnlich sind. Wenn diese heute nicht auf die SPD angewendet werden, so liegt dies nicht daran, daß die Gesetzgebung liberaler geworden wäre, sondern daran, daß sich die Programmatik der SPD verändert hat. (In der Weimarer Republik wurde der § 129 StGB dann zweitweilig gegen die KPD und in den 50er und 60er Jahren gegen Vorfeldorganisationen der KPD angewendet.)

b) Der heutige § 129 StGB findet im übrigen gemäß der Bestimmung in Nr. 3 seines zweiten Absatzes keine Anwendung auf Vereinigungen, die darauf gerichtet sind Straftaten im Sinne der §§ 84 – 87 des genannten StGB-Titels (Verstoß gegen ein Parteien- oder Vereinigungsverbot, Verbreiten von Propagandamitteln einer verbotenen Partei oder Vereinigung; Agententätigkeit zu Sabotagezwecken) zu begehen.
Sehr wohl findet auch der heutige § 129 StGB Anwendung auf Vereinigungen, deren Tätigkeit bloß darauf gerichtet ist, propagandistisch, verfassungsfeindlich auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane einzuwirken; den Bundespräsidenten, den Staat, seine Symbole und/oder Verfassungsorganen zu verunglimpfen (§§ 89, 90 – 90b StGB).
In diesen Fällen ‚rettet‘ die Angeklagten allenfalls noch Nr. 2 von Absatz 2 des § 129 StGB vor einer Verurteilung wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer Kriminellen Vereinigung (es sei denn, es würde sich endlich die Einsicht3 durchsetzen, daß Äußerungsdelikte gegen Art. 5 I, II GG verstoßen, sofern es sich nicht um den „Schutze der Jugend“ oder die persönliche Ehre, sondern um politische Stellungnahmen – und seien es sie falsch oder polemisch – handelt): „Absatz 1 ist nicht anzuwenden, […] 2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck [der Vereinigung] oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist […].“

  1. S. http://interkomm.so36.net/archiv/2008-08-30/nse.pdf, S. 8 f. [zurück]
  2. Ebd., 11: „Die – eben dargestellte – grundsätzliche Problematik von Vereinigungsdeliten, d.h. vorliegend: des § 129 StGB selbst, schon die Beteiligung an der Vereinigung und nicht erst die Beteiligung an konkreten Straftaten unter Strafe zu stellen, bleibt dennoch bestehen.“ [zurück]
  3. Abschnitt „Was ist nun aber eigentlich mit der Meinungsäußerungsfreiheit?“ [zurück]